Heute in den Feuilletons

Er habe jeden Tag zu antichambrieren

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2009. Die FR lernt von Haydn: Quantität schützt vor Verschleiß. Auch die NZZ und die SZ feiern Haydn. In der Welt stellt sich Peter Schneider ein gerechteres 68 vor. Die taz wehrt sich gegen Vorwürfe Wolfgang Kraushaars und hält an ihrem Bild von 68 fest. In der Berliner Zeitung spricht der chinesische Eisenbahner und Aktivist Han Dongfang über das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens vor 20 Jahren und seine Glauben an die Notwendigkeit von Gewerkschaften in China.

FR, 30.05.2009

Hans-Klaus Jungheinrich macht sich zum 200. Todestag des Komponisten Gedanken zum qualitativ, aber auch quanitativ außergewöhnlichen Werk Joseph Haydns: "Er dürfte allein weit über 300 Menuette geschrieben haben - minimal veränderte Ausformungen eines gleichartigen Tanztypus. Hier scheint ein anderes, nicht aufs schlagerhafte Wiedererkennen erpichtes Hören nötig zu werden: vergleichend, auf feine Unterschiede achtend, subtile Varianten und mäandernde Entwicklungen wahrnehmend. Die so genannten Meisterwerke sind leicht in der Gefahr, zu verschleißen. Haydns Kunst ist schon durch die ungeheuerlichen Quantitäten davor geschützt."

Weitere Artikel: Harry Nutt berichtet von einer Podiumsdiskussion mit Vortrag von Timothy Garton Ash zur Eröffnung der Ausstellung "Bilder einer Zeitenwende" im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Marcia Pally klagt in ihrer USA-Kolumne über die ständigen Nachrichten im Fernsehen, die noch dazu meistens unwichtig sind. In einer Times Mager nähert sich Christian Thomas der Kermani-Debatte bereits historisch-kritisch.

Besprochen werden die Bonner Erstaufführung von Richard Dressers Stück "Blick auf den Hafen", , das neue Pretenders-Album "Break Up The Concrete", eine Frankfurter Inszenierung von Kristof Magnussons Stück "Männerhort" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 30.05.2009

Die sonntaz für Pfingsten hat in ihrem Ehrgeiz, einmal nur gute Nachrichten zu präsentieren, fürs kulturelle Tagesgeschäft nichts übrig. Im Netz ist sie auch nicht zu finden. Bleibt nur ein Kulturkampf-Beitrag im vorderen Teil:

Christian Semler, einer der Protagonisten von 68 und spätere große Vorsitzende der KPD/AO, wehrt sich in der Kurras-Debatte gegen Wolfgang Kraushaar und Thomas Schmid: "Zur taz aber schreibt Kraushaar: 'Die tageszeitung lässt als Spätprodukt der 68er-Bewegung nichts unversucht, um die Rolle der Staatssicherheit zu relativieren und das alte Bild vom Polizeistaat aufrechtzuerhalten.' Beweise für diese Behauptung, wir ließen 'nichts unversucht', wenigstens ein klitzekleines Zitat - null. Diesen Behauptungen gegenüber ist festzuhalten: Weder hat die taz seit der Entdeckung der Stasidokumente zum Fall Kurras vom bundesrepublikanischen oder Westberliner 'Polizeistaat' als altem Bild gesprochen, das aufrechtzuerhalten sei, noch hat sie irgendwo die Tätigkeit der Stasi relativiert. Sie hat sich im Gegensatz zu Kraushaar nur an den Befund der Akten gehalten. Was Kraushaar hier betreibt, ist rechte Propaganda in wissenschaftlicher Verhüllung."

Spiegel Online, 30.05.2009

Die in Menschenrechtsfragen gern abwiegelnde SPD möchte ein im Bundestag zirkulierendes Solidaritätspapier der Grünen für Ex-Oligarch und Kreml-Gegner Michail Chodorkowski nicht unterzeichnen, meldet Spiegel Online: "Genau solch ein Vorgehen aber hatte Außenminister und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier (SPD) schon 2007 abschätzig als 'Schaufensterpolitik' bezeichnet. Kein Wunder also, dass die SPD, die seit Kanzler Schröders Zeiten um gute Beziehungen zum Riesenreich im Osten bemüht ist, die grüne Kreml-Schelte am liebsten abblocken möchte."

Welt, 30.05.2009

Doch doch, ein klein bisschen anders wäre die Geschichte vielleicht doch verlaufen, wenn die Studenten gewusst hätten, was es mit Karl-Heinz Kurras auf sich hatte, konzediert Peter Schneider im Gespräch mit Uwe Wittstock in der Literarischen Welt: "Ich glaube nicht, dass die Radikalisierung der Studentenbewegung ausgeblieben wäre, aber sie hätte sich sozusagen 'gerechter' verteilt. Viele von uns gaben sich doch der Illusion hin, dass die DDR das bessere Deutschland sei und dass der dortige Sozialismus, auch wenn er noch so schäbig war, die bessere politische Alternative sei. All das wäre dann in einem anderen Licht erschienen."

Andre Glucksmann sieht die Finanzkrise als einen Ausdruck postmoderner Unverantwortlichkeit der politischen, Markt- und Medienakteure, aber er will auch Hoffnung aus ihr ziehen: "Die Postmoderne, die sich selbst jenseits von 'Gut und Böse', jenseits von Richtig und Falsch verortet, bewohnt eine kosmische Blase. Es wäre gut, wenn die Angst vor einer universalen Krise uns in die Lage versetzte, die mentale Blase der Postmoderne zu sprengen."

Im Feuilleton feiert Alan Posener die Dönerbude trotz aller Gammelfleischskandale als "deutschen Ort". Sven Felix Kellerhoff zitiert aus einem neu gefundenen Protokoll eines Telefongesprächs zwischen Ulbricht und Chruschtschow zum Mauerbau. Und Josef Engels unterhält sich mit dem Bigbandleader Hugo Strasser über sein Vorbild Benny Goodman, der vor hundert Jahren geboren wurde.

Berliner Zeitung, 30.05.2009

Justus Krüger unterhält sich im Magazin der Berliner Zeitung mit dem ehemaligen Eisenbahner Han Dongfang, der am 3. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens war, als die Regierungstruppen Tausende Demonstranten niedermetzelten. Er glaubt immer noch an die Idee der Gewerkschaften in China: " Wissen Sie, ich glaube, dass nur, wenn man die Beziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern vernünftig organisiert, ein Ausweg aus dem Teufelskreis der chinesischen Geschichte gefunden werden kann."

Tagesspiegel, 30.05.2009

Caroline Fetscher unterhält sich am Rande des Berliner Geschichtsforums mit der ungarischen Philosophin Agnes Heller über 1989, die Mühen der Freiheit und über das befremdliche Bild, das der Westen abgegeben hat: "1981 war ich auf der großen Friedensdemonstration in Bonn. Ein Redner nach dem anderen redete sich gegen Amerika in Rage, das eskalierte richtig. Am Ende blieb die Sowjetunion als das friedliebendste Land der Erde übrig - für kritische Osteuropäer war das mehr als erstaunlich. Europas Antiamerikanismus entspringt der Kränkung, von Amerika gerettet worden zu sein, aus dem I. Weltkrieg und vor Hitler. Viele verzeihen ihren Rettern nicht gerne, dass diese die Stärkeren waren."

NZZ, 30.05.2009

Literatur und Kunst ist dem vor zweihundert Jahren verstorbenen Joseph Haydn gewidmet. Herbert Lachmayer beschreibt ihn als aufklärerischen Musiker und als jemanden, der verbesserten Vertrieb und Notendruck als Chance nutzte: "Als Entdecker und Mitentwickler dieses supra-nationalen Musikmarktes wirkt Haydn auf uns so modern, und das lässt ihn auch heute aktuell erscheinen. Durchbrach Haydn doch damit ebenso schlau wie subversiv den exklusiven Verfügungsanspruch des Fürsten gegenüber dem Hofkomponisten - wie er etwa der folgenden Formulierung aus seinem ersten Dienstvertrag von 1761 zu entnehmen ist: 'So fort wird er, Joseph Heyden, als ein Haus-Officier angesehen und gehalten.' Die weiteren Vertragspunkte waren ebenso einschränkend wie im Grund demütigend: Er habe zu komponieren, was der Fürst will; die Kompositionen blieben umfassend Eigentum des Fürsten; er habe jeden Tag zu antichambrieren, um untertänigst die Befehle seiner Durchlaucht entgegenzunehmen usw." Otto Biba schreibt über den Kunstsammler Haydn.

Der koreanische Schriftsteller Kim Young Ha spricht im Interview mit Ho Nam Seelmann über die Literatur Südkoreas: "In der koreanischen Literatur kommen gewisse literarischen Genres schlichtweg nicht vor, Kriminalromane etwa, Science-Fiction oder romantische Liebesromane. Diese Genres sind für den westlichen Literaturmarkt von großer Wichtigkeit. Man hat den Eindruck, dass demgegenüber die meisten Autoren in Korea eine Art reine Literatur anstreben. Das mag der Grund dafür sein, dass man in Korea traditionell keine Literaturgattung kennt, die man mit der westlichen Trivialliteratur vergleichen kann."

Im Feuilleton wandelt Andrea Köhler staunend durch die Ausstellung "The Model as Muse" im New Yorker Metropolitan: "Ein nicht geringer Erkenntnisgewinn dieser Schau kommt in Form der nagenden Frage: Und das fanden wir einmal schön?" Der serbische Schriftsteller Bora Cosic verneigt sich vor all den serbischen Frauen, die genug Mut hatten und haben, sich gegen den Wahnsinn der Geschichte zu stellen. Joseph Croitoru berichtet von einem Kulturkampf in Israel um nationalreligiöse Militärrabbiner, die ihre Stellung dazu missbrauchen, innerhalb der Armee zu missionieren, oder auch Propagandafilme verbreiten, in denen der Krieg in Gaza etwa als göttliches Wunder gepriesen wird. Robert Hunger-Bühler teilt mit uns seine Jugend- und Stilfantasien.

Besprochen werden Philip Gourevitch und Errol Morris Buch zum Film "Die Geschichte von Abu Ghraib" und Wieland Schmieds Memoiren "Lust am Widerspruch" (siehe auch unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 30.05.2009

Ein ganze Seite ist zu dessen 200. Todestag dem Komponisten Joseph Haydn gewidmet. Reinhard J. Brembeck zeichnet das Porträt Haydns als des ersten Komponisten der Aufklärung: "Er beschreibt, ganz Psychologe, was den Menschen verstören, zerstören, zermalmen kann in der eigenen Seele. Doch der Rationalist besitzt zugleich das Wissen eines Schamanen. Indem man eine Sache benennt, indem man sie dingfest macht, aufschreibt, gelingt es sie zu bannen. So sind die Schrecken, die Abgründe und Albträume immer da ..., doch diese Schrecken sind gebannte, weil im Labor erforschte und wissenschaftlich in Tönen beschriebene." Gerhard Persche begutachtet zwei dem Komponisten gewidmete Ausstellungen in Eisenstadt. Außerdem gibt es ein "kleines Haydn-ABC".

Auf der Medienseite unterhält sich Willi Winkler mit dem Verleger Klaus Wagenbach über das Jahr 1967 und die Demonstration, bei der Karl-Heinz Kurras Benno Ohnesorg erschoss. Wagenbach widerspricht dabei seinem ehemaligen Mitarbeiter Thomas Schmid - heute Chefredakteur des Springer-Blatts Die Welt -, der sich an eine "heftige Demonstration" erinnert. Wagenbach: "Nein, nein, das war keine 'heftige Demonstration', das war richtig gesteuert. Die Polizei war vom Sender Freies Berlin und den Springer-Zeitungen aufgefordert, jetzt mal ordentlich durchzugreifen. Und so geschah es, und da kann auch mal ein Schuss losgehen."

Weitere Artikel: Alexander Menden erklärt, warum auch die Spesenskandale an den Klassenverhältnissen in Großbritannien nichts ändern werden. Andreas Zielcke kommentiert die für ihn nicht ganz überzeugende Entscheidung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, den Rückgabeforderungen in Sachen "Welfenschatz" nicht nachzugeben. Volker Breidecker meldet, dass neben dem Marbacher Literaturarchiv nun auch die Universität Frankfurt ausdrücklich ihr Interesse am möglicherweise zum Verkauf stehenden Suhrkamp-Archiv bekundet hat. Holger Liebs besichtigt gemeinsam mit dem Künstler Wolfgang Tillmans' Fotografien, mit denen er erstmals auf der Biennale in Venedig vertreten sein wird. Auf der Literaturseite wird ein Vortrag von Thomas Steinfeld über Astrid Lindgren abgedruckt.

Besprochen werden Thomas Langhoffs Inszenierung von Eugene O'Neills Stück "Ein Mond für die Beladenen" am Münchner Residenztheater, Meg Stuarts in Paris uraufgeführtes neues Tanzstück "Animals Don't Cry", der Action-Film "Terminator: Erlösung" (den Andrian Kreye zum Exempel für das "Ende der Ironie" hochzuschreiben versucht) und Lars Jessens Komödie "Die Schimmelreiter" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende macht sich Hilmar Klute schon mal vorauseilend Sorgen über die "Generation Gugl", die heute Vierzigjährigen, die den kommunikationstechnologischen Wandel womöglich nie richtig mitgemacht haben werden. Kamilla Pfeffer hat Wilhelm Brasse getroffen, den heute 91jährigen ehemaligen Lagerfotografen von Auschwitz. Dirk Peitz erlebt, wie in Indien Cricket als "schöne Kunst" betrachtet wird. Eva Karcher sieht einen Trend zu Umwelt-Kunst, -Architektur und -Design. Auf der Historienseite geht es um die Kolonialkämpfe im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet Ende des 19. Jahrhunderts. Willi Winkler unterhält sich mit dem Schriftsteller Per Olov Enquist über die "Sünde", aber auch übers Nett-Sein.

FAZ, 30.05.2009

Dieter Bartetzko besucht in Rom eine Ausstellung mit Kunstwerken aus Stabiae, einer lange vergessenen antiken Villensiedlung bei Pompeiji. Joachim Müller-Jung stellt ein Memorandum von zwanzig Nobelpreisträgern vor, die zum sofortigen Handeln gegen den Klimawandel auffordern. Für die Leitglosse ist Hannes Hintermeier ins Salzburgische gefahren, wo der designierte (und von der FAZ vor kurzem vorabgedruckte) Büchner-Preisträger Walter Kappacher lebt. In seiner Gastrokolumne zeigt sich Jürgen Dollase enttäuscht vom Ledoyen in Paris. Gina Thomas verfolgte eine Londoner Tagung über Migration in Europa. Und Michael Müller erinnert an Radio Glasnost, das vom Westen aus mit geschmuggelten Beiträgen aus der DDR am Regime sägen half.

Auf der Schallplatten-Seite beklagt Gerhard R. Koch einen Aura-Verlust beim Herunterladen klassischer Musik aus dem Internet. Besprochen werden CDs mit Werken von Stefan Wolpe, eine Eels-CD, eine CD mit Haydns Klaviertrios, ein Recital von Jonas Kaufmann und eine CD des irischen Sängers Liam O Maonlai.

Besprochen werden außerdem Joe Ortons Stück "Beute" in der Regie von Herbert Fritsch am Theater Oberhausen, Händel-Opern in verschiedenen deutschen Städten

Die Samsagsbeilage Bilder und Zeiten ist heute wegen eines Druckerstreiks nicht mitgeliefert worden - sie wird am Dienstag nachgereicht.