Heute in den Feuilletons

Solches unkaschiertes Befremden

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2009. In der taz macht die Menschenrechtlerin Tanja Lokschina die Passivität der Weltöffentlichkeit für die Verbrechen an russischen und tschetschenischen Menschenrechtskämpfern mitverantwortlich. Die NZZ rät Hugo Chavez, seinen Soldaten eine Entziehungskur zu verordnen. Als Intendant der Pariser Oper musste Gerard Mortier laut FR feststellen: "Paris ist heute nicht mehr die inspirierende Stadt." Und in der SZ empfiehlt Joachim Kaiser im Widerstreit zwischen Werktreue und Regisseurswillkür den Mittelweg.

TAZ, 12.08.2009

Nach den Morden an Sarema Sadulajewa und ihrem Mann Alik Dschabrailow gibt Tanja Lokschina von Human Rights Watch auf den vorderen Seiten der taz dem Westen eine Mitschuld daran, dass die Arbeit für Menschenrechtler in Tschetschenien so gefährlich werden konnte: "Die Morde der jüngsten Zeit wurden auch durch die totale Passivität der internationalen Staatengemeinschaft möglich. Vor allen diesen Verbrechen, sowohl in Tschetschenien selbst als auch in der Region, haben die Partner Russlands immer die Augen verschlossen. Besonders diese Ignoranz hat mit dazu beigetragen, dass sich die Situation so negativ entwickelt hat."

Im Feuilleton plaudert der Rapper Jan Delay im Interview mit Dagmar Leischow über sein neues Liebeslieder-Album, die coolen 13-Jährigen von heute und Geld, das einfach wichtig ist: "Ich bin in Hamburg-Eppendorf aufgewachsen, da waren alle reich, nur meine Familie nicht. Darum habe ich als Junge gesagt: Ich werde Börsenmakler. Das war mir damals tatsächlich ernst. Ich wollte auf jeden Fall die Gewissheit haben, dass ich genug verdiene und nicht am Hungertuch nagen muss. Diesen Plan mit meiner Musik zu verwirklichen, war natürlich hunderttausendmal geiler. Zumal ich mich für den Erfolg kein bisschen verbogen habe."

Weiteres: Christian Werthschulte gibt einen Ausblick auf die Kölner "c/o pop". Christina Felschen schreibt über das angekündigte Ende des Ammann Verlags. Besprochen wird Kathryn Bigelows Film "Tödliches Kommando" über Bombenentschärfer im Irak.

Und noch Tom.

NZZ, 12.08.2009

Zwischen Kolumbien und Venezuela kriselt es. Kolumbiens Staatschef Uribe will amerikanischen Streitkräften Stützpunktrechte einräumen. Venezuelas Präsident Chavez schäumt und spricht von Krieg. Das würde ihm nicht gut bekommen, meint der kolumbianische Autor Hector Abad: "Chavez ist ein Militär, der noch nie gekämpft hat, und seinen Biografen nach ist er berühmt dafür, einen großen verbalen Mut und eine tiefgehende existenzielle Feigheit in sich zu vereinen. Er dürfte wissen, dass das kolumbianische Heer sich seit Jahrzehnten im Kampfeinsatz befindet, während das venezolanische Heer nie etwas anderes getan hat, als Unmengen von Whisky zu konsumieren. Chavez hat sein Militär mit modernen Waffen russischer und spanischer Provenienz aufgerüstet. Trotzdem wirkt Venezuela verwundbar: Ein Angriff auf seine Förderstellen und Ölhäfen genügte, um Venezuelas nahezu einzige Devisenquelle in kurzer Zeit trockenzulegen."

Ein iranischer Film hat die dösenden Kritiker in Locarno aufgeweckt, meldet erfreut Claudia Schwartz: "Das lange Warten auf bessere Zeiten hat in Locarno schließlich ein Ende gefunden - ausgerechnet in der Welturaufführung von Babak Jalalis 'Frontier Blues', in dem drei Männer und ein Esel im nordiranischen Grenzland nahe Turkmenistan auf bessere Zeiten warten. Ein Film, welcher der harten Realität den Spiegel vorhält und ein radikal anderer Entwurf ist als die bis anhin gezeigten Innerlichkeitspanoramen dieses Wettbewerbs."

Besprochen werden eine Ausstellung zur Bildhauerei im 16. Jahrhundert in Troyes und Bücher, darunter Gedichte von Valzyna Mort und eine Auswahlausgabe des Hadith, die Tilman Nagel "weichgespült" findet (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 12.08.2009

Im Interview mit Joachim Lange erklärt Opernintendant Gerard Mortier, warum er nicht allzu schweren Herzens die Pariser Oper und ihr "prätentiöses und arrogantes" Publikum verlässt: "Von allen Posten, die ich hatte, war das der für mich am wenigsten inspirierende. Sicher, man kann die besten Künstler einladen und hat ein phantastisches Instrument. Aber ich habe permanent Output produziert und für mich zu wenig Input gehabt. Das war in Salzburg anders, da konnte man viele interessante Leute kennenlernen. Paris ist heute nicht mehr die inspirierende Stadt, die sie noch in den sechziger Jahren war. Sie ist künstlerisch eigentlich nicht mehr kreativ und spiegelt sich sehr in sich selbst. Die jungen Künstler gehen heute lieber woanders hin."

Abgedruckt wird auch eine Stellungnahme des iranischen Theologen Mojtahed Schabestari (mehr hier), dem in einem der Teheraner Schauprozesse unter anderem ein Treffen mit Jürgen Habermas zur Last gelegt wird: "Ich schreibe das nicht, um mich gegen einen Tatvorwurf zu verteidigen. Auch wenn auf jener Sitzung über die Entwicklung der Säkularisierung im Iran gesprochen worden wäre, wäre es kein Vergehen gewesen. Intellektuell Interessierte dürfen sich über jeden Gegenstand austauschen und einen Dialog führen."

Weiteres: Ina Hartwig hat bei einer Umfrage unter Ammann-Autoren erfahren, dass diese ihrem Verleger den Entschluss aufzuhören nicht verübeln. Besprochen werden die Show des New Yorker Drag Queen Taylor Mac und Peter Stamms Roman "Sieben Jahre" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 12.08.2009

Henry Selicks Puppentrickfilm "Coraline", freigegeben ab 6 Jahre, ragt "schulterhoch" aus der Masse der Trickfilme, freut sich Hanns-Georg Rodeck. Nicht nur wegen seiner Technik, sondern wegen seiner Zumutung fürs jugendliche Publikum: "Aber haben die Jugendwächter die Rieseninsekten nicht bemerkt, die sich als Möbel tarnen? Und die Puppe, welche das Zutrauen der elfjährigen Titelheldin mit schnödem Verrat belohnt? Und die Mutter, die sich von einem liebenden Musterexemplar in eine von Egoismus zerfressene Hässlichkeit verwandelt? Dieser Film will und wird Kindern Angst machen. Und das ist gut so, denn das dürfte ihre Persönlichkeitsbildung mehr befördern als die klebrige Süßigkeit von drei 'Kung Fu Pandas' und die Pseudo-Cleverness von sechs 'Shreks'."

Daneben gibt es ein kurzes Interview mit Selick.

Weitere Artikel: Anlässlich einer Doppelausstellung in Frankfurt/Oder zum Tod des Dichters Ewald von Kleist und der Schlacht von Kunersdorf beschreibt Berthold Seewald, wie Preußen die Niederlage in Kunersdorf durch ein Wunder überlebte. Hendrik Werner stellt die Vorauswahl zum "Jugendwort des Jahres" vor. Martin Ebel würdigt die Leistungen des Ammann Verlags, der am 30. Juni 2010 die Verlagsarbeit einstellen wird. Lucas Wiegelmann fasst den ganzen Streit zwischen Rolf Hochhuth, Berliner Senat und Claus Peymann zusammen. Ulrich Weinzierl erzählt von einem Abend mit Georg Kreisler in Salzburg. Tony Maddox, Chef von CNN International, beschreibt im Interview die Expansionspläne des Senders. Und Eckhard Fuhr fragt sich vor dem Wahlplakat von Vera Lengsfeld: "Öffnet sie dem Busen nun endlich den Weg in die demokratische Öffentlichkeit?"

Aus den Blogs, 12.08.2009

In Telepolis denkt der iranische Autor Behrouz Khosrozadeh über die Lage in seinem Land nach, dessen Regime noch weit repressiver ist als einst der Schah, und er zitiert einen klugen Satz Alexis de Tocquevilles: "Der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung ist der, wo sie sich zu reformieren beginnt. Nur ein großes Genie vermag einen Fürsten zu retten, der es unternimmt, seinen Untertaten nach langer Unterdrückung Erleichterung zu gewähren."

Weitere Medien, 12.08.2009

(Via 3quarksdaily) Ben Fritz berichtet in der Los Angeles Times über die Schwierigkeiten der Pornoindustrie: "A growing abundance of free content on the Internet is undercutting consumers' willingness to pay for porn, and with it the ability of many workers to earn a living in the business." Die Antwort hierauf können nur strikte Leistungsschutzrechte für den Geschlechtsakt sein! Es geht nicht an, dass Laien die mit Talent und Hingabe ausgeübten Praktiken professioneller Darsteller einfach kopieren und ins Netz stellen.

SZ, 12.08.2009

Im Widerstreit zwischen Werktreue und Regisseurswillkür empfiehlt der erfahrene Kritiker Joachim Kaiser den stets neu, am Werk zu ermittelnden Mittelweg und gibt zu bedenken: "Auch das, was uns sehr fern an der Kunstsache sein mag, fremd, ja befremdend, sollten heutige Interpreten so respektvoll wie möglich zu vergegenwärtigen versuchen. Solches unkaschiertes Befremden gehört durchaus zur Kunst und ihrer Geschichte. So können beispielsweise die 'Bakchen' von Euripides nicht mehr naiv aufgeführt werden."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh erzählt, dass die Studios in Hollywood auf die Stargagen drücken - 20 Millionen Dollar bekommt überhaupt nur noch Will Smith, ausgerechnet. Denzel Washington oder Julia Roberts sind aus dem Club der Superstars schon rausgeflogen. Helmut Mauro liest neu bekannt gewordene Akten über die FBI-Überwachung Leonard Bernsteins. Jörg Königsdorff porträtiert die koreanische Komponistin Unsuk Chin, die für den Cellisten Alban Gerhardt ein stark erwartetes Konzert geschrieben hat - morgen ist Uraufführung bei den "Proms". Susan Vahabzadeh gratuliert dem Schauspieler George Hamilton zum Siebzigsten. Christine Dössel erlebte die abschließende Pressekonferenz Daniel Kehlmanns, der "Dichter zu Gast" bei den Salzburger Festspielen war und sich auch noch mal über seine Regietheater-Polemik äußerte. Sebastian Schoepp erläutert den Ursprung der ETA-Ideologie aus dem Chauvinismus des 19. Jahrunderts.

Besprochen werden Henry Selicks Animationsfilm "Coraline" nach Neil Gaiman (mehr hier), einige neue CDs und Bücher, Louis Auchincloss' Roman "Eine Frau mit Möglichkeiten" und eine Ausstellung über Ewald von Kleist in Frankfurt an der Oder.

FAZ, 12.08.2009

Verena Lueken hat den iranischen Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan besucht, der seit kurzem mit einem DAAD-Stipendium in Berlin lebt. Und sie hat seinen ersten ins Deutsche übersetzten Roman "Teheran Revolutionsstraße" gelesen, den sie als treffendes Porträt genau jener Gesellschaftsordnung beschreibt, gegen die die Iraner auf die Straße gegangen sind: "Der Roman handelt nicht von Gegnern des Systems, sondern vom Alltag verschiedener Figuren unter den Bedingungen einer verrottenden Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der jeder mindestens zwei Identitäten hat, kaum einer weiß, wer er eigentlich ist, aber jeder ein ungestilltes Verlangen in sich trägt - ein Verlangen nach Nähe, nach einem anderen Körper, danach, von einem anderen in seinem wahren Wesen erkannt zu werden, wogegen spricht, dass niemand ist, wer er zu sein vorgibt, jedenfalls nicht ganz und nicht immer."

Weitere Artikel: In der Glosse sinniert Tobias Rüther über Gerhard Schröder, Brioni-T-Shirts und das Ende der SPD-Herrlichkeit. Gerhard Stadelmaier nutzt die Gelegenheit, bei der sich Daniel Kehlmann und Georg Kreisler auf einer Salzburger Bühne begegneten, noch einmal des ersteren "frische sympathische Festspieleröffnungsrede" in Erinnerung zu rufen. Lena Bopp stellt die in Marseille (und inzwischen mit Filialen auch anderswo) beheimatete Gegenwartskunstvermittlungsagentur "Bureau des competences et desirs" (Website) vor. Gekürzt vorabgedruckt wird ein Gespräch, das Karen Ilse Horn mit dem politischen Philosophen und Wirtschaftsnobelpreisträger James M. Buchanan geführt hat. Auf der Geisteswissenschaften-Seite erzählt Hans-Christoph Buch die Geschichte von "Faustin I., Kaiser von Haiti". Michael Martens schreibt zum Tod des jiddischen Dichters Josef Burg.

Besprochen werden Steve McQueens Spielfilm-Regiedebüt "Hunger", und Bücher, darunter Charles Chadwicks Roman "Eine zufällige Begegnung" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).