Heute in den Feuilletons

Groteske Sakralisierung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2010. In der NZZ erklärt der Islam-Experte Olivier Roy, warum er den Begriff der Islamophobie für abwegig hält. Die Welt bringt einen Aufruf nun doch noch angeknipster Künstler und Designer zum Erhalt der Glühbirne. Die FR weiß, warum der Tod deutscher Soldaten in Afghanistan weniger Empathie auslöst als der Tod Robert Enkes. Google führt jetzt eine Liste mit Zensuranfragen von Regierungen. Deutschland steht auf einem ehrenvollen zweiten Platz. In der FAZ schreiben Andrzej Stasiuk und Viktor Jerofejew über das Flugzeugunglück von Smolensk und seine Folgen.

NZZ, 21.04.2010

In einem sehr interessanten Interview mit Eren Güvercin spricht der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy über den Islam in Europa. Mit dem Begriff Islamfeindlichkeit kann er wenig anfangen: "Ist Islamfeindlichkeit lediglich eine weitere Form des Rassismus, die sich spezifisch gegen Menschen mit muslimischen Namen richtet - ungeachtet ihres Glaubensverständnisses? Oder ist es die Ablehnung einer Religion? Es gibt militante Antirassisten, die gegen den Schleier sind - etwa unter Feministinnen; und es gibt Rassisten, denen der Schleier egal ist, weil sie die Muslime ohnehin für grundsätzlich anders halten. Das ist insofern heikel, als zwischen den beiden Faktoren - ethnische Zugehörigkeit und Religion - in der Regel nicht klar genug differenziert wird. Natürlich stammt die große Mehrzahl der europäischen Muslime ursprünglich aus anderen Kulturen, aber der Konnex zwischen Herkunft und Religion beginnt sich aufzulösen: Es gibt Europäer, die zum Islam, und Muslime, die zum Christentum konvertieren." (Nur wie kommt Roy zu dem Eindruck, dass in Europa die Linke für "Säkularismus, Frauenrechte und gegen religiösen Fundamentalismus" eintrete?).

Weiteres: Joachim Güntner berichtet von den Feierlichkeiten zu Neo Rauchs Fünfzigstem, die von einer laut Güntner ganz schön schiefen Laudatio Uwe Tellkamps gekrönt wurden. Regina de Macedo Marquardt erzählt fünfzig Jahre nach Brasilias feierlicher Einweihung noch einmal die Geschichte ihrer Entstehung.

Besprochen werden die Inszenierungen von Glucks "Alceste" in Leipzig und Franz Schmidts "Notre Dame" in Dresden, Jürgen Leonhardts Sprachgeschichte "Latein", Volker Brauns Arbeitsjournal "Werktage" und Neil Smith' Geschichten "Bang Crunch" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 21.04.2010

(Via @wblau) Google berichtet in seinem offiziellen Blog, dass es von nun an eine Statistik über die Anfragen von Regierungen zur Sperrung von Inhalten führt und veröffentlicht. Deutschland steht auf einem ehrenvollen zweiten Platz.



(Via @kenanmalik) Amitav Ghosh reist nach Israel, um den Dan David Prize entgegenzunehmen. In einem auf kalifa.org veröffentlichten Brief an das "British Committee for the Universities of Palestine" (BRICUP), das ihn zum Israelboykott aufrief, erklärt er, warum er derartige Ansinnen zurückweist: "I do not see how it is possible to make the case that Israel is so different, so exceptional, that it requires the severing of connections with even the more liberal, more critically-minded members of that society. Is it really possible to argue that there is in that country such a unique and excessive malevolence that it contaminates every aspect of civil society, including private foundations and universities?"

In Indiskretion Ehrensache ärgert sich Thomas Knüwer über die voreingenommene Berichterstattung der Holzmedien zur re:publica. Warum sind die so voreingenommen? Der Grund ist Neid, meint Knüwer. "Da sind Journalisten wie jener J. (was wohl für Johannes steht) Boie von der Süddeutschen Zeitung. Für den Leser quälend trieft durch ihre Zeilen der Neid, dass da Leute das gleiche Handwerk betrieben wie sie: schreiben. Und das tun sie einfach so, als Hobby. Sie schreiben nicht über das, was ihnen Ressortleiter, Chefredakteure oder die Tagesaktualität diktieren - sie schreiben über das, was sie interessiert. Dabei sagen sie auch noch deutlich ihre Meinung. Und dafür ernten sie dann auch noch Leserkommentare, Resonanz und dürfen auf einem Kongress stehen und Bier trinken."

Boie hat darauf in seinem Blog schon geantwortet.

Im Blog der NYRB denkt Tony Judt darüber nach, was es bedeutet, jüdisch zu sein.

TAZ, 21.04.2010

Auf den vorderen Seiten berichtet Tarik Ahmia über mehrere Vorträge auf der re:publica, die um die Netzneutralität fürchten. Denn: "die Netzbetreiber scheinen fest entschlossen. Sie wollen nicht mehr die Wasserträger der Internetrevolution sein und wollen mehr an den Milliardengewinnen teilhaben, die Konzerne wie Google, Amazon, Ebay und Microsoft in ihren Netzen verdienen."

Auf einer weiteren Tagesthemenseite geht es um die Pressearbeit der EU. Daniela Weingärtner berichtet von Klagen des Vereins der Auslandspresse, dass die EU ihre Pressemitteilungen nur noch ins Internet stellt, aber keine Pressearbeit mehr leistet. Das sieht im Interview auch der italienische Korrespondent Lorenzo Consoli so: "Die EU-Kommission glaubt ihre Offenheit zu beweisen, indem sie alles ins Netz stellt oder über den Satelliten sendet. Doch das ist ein falsches Verständnis von Transparenz. Es braucht gute Journalisten, die diese Informationsflut filtern und die Informationen bewerten können."

Im Kulturteil berichtet Rolf Lautenschläger über eine neue Online-Datenbank der FU Berlin, die das Schicksal der 21.000 Kunstwerke dokumentiert, die die Nazis 1937 für die Ausstellung "Entartete Kunst" in Museen beschlagnahmten. "Neben den Daten zu der Propagandaausstellung, die von 1937 bis 1941 durch das Reich tourte, werden die als 'entartet' diffamierten Werke und Künstler, die Rollen der Museen und der Kunsthändler ergründet. Es wird ein Stück deutsche Geschichte mit besonderem Gewicht gehoben."

Außerdem: Rene Martens schreibt über den Niedergang der Stadtmagazine. Elias Kreuzmair stellt den Münchner DJ Mooner und seine Guerilla-Partys vor. Brigitte Werneburg kündigt eine Petition für die Glühbirne an in der morgen erscheinenden Kunstzeitschrift Monopol.

Und Tom.

Welt, 21.04.2010

Nach der erstaunlichen und enttäuschenden Stille zu Beginn des Jahres setzen sich nun doch noch einige Designer und Künstler für die Glühbirne ein. In Monopol veröffentlichten sie einen Aufruf "Rettet die Glühbirne" (dokumentiert in der Welt), der unter anderem von Georg Baselitz, Ingo Maurer und Thomas Struth unterzeichnet wurde. In der Welt tritt ihnen Mateo Kreis, Kurator des Vitra Design-Museums zur Seite: "Jeder dürfte inzwischen bemerkt haben, dass es bei dem Verbot nicht um technische Detailfragen geht, sondern um ein kulturelles Symbol unserer Gesellschaft. Es begann uns zu dämmern, als wir abends auf dem Sofa die Zeitung zum ersten Mal im weißlich-kalten Licht einer LED-Leuchte lesen mussten."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek berichtet von der drohenden Pleite der zum Verkauf stehenden MGM, der womöglich auch die neueste Bond-Folge zum Opfer fällt. Rolf Giesen schickt anlässlich des "Cartoon Movie"-Forums (das aber ausgefallen zu sein scheint, mehr hier) einen interessanten Hintergrundbericht zum Übergriff des Realfilms auf das Animationskino. Dankwart Guratzsch verfolgte eine Tagung der Stiftung Baukultur (mehr hier) über den Niedergang der öffentlichen Architektur (der sich in Essen bestens besichtigen lässt). Michael Pilz annonciert das Comeback Courtney Loves und ihrer Band Hole ("Mit 45 ist sie nicht mehr jung, aber sie braucht das Geld. Ein ehrliches Comeback.") "UC" resümiert jüngste Zensurvorwürfe gegen Apple. Tilman Krause gratuliert Peter Schneider zum Siebzigsten.

Hanns-Georg Rodek feiert David Peace' Fernsehtetralogie "Red Riding" (mehr hier) über einen britischen Serienmordfall aus den Siebzigern, die jetzt auf DVD erscheint. Besprochen werden außerdem Stefan Ruzowitzkys "Freischütz"-Inszenierung im Theater an der Wien, eine Ausstellung über Almut und Robert Gernhardt in Frankfurt und die Aufführung der "Großen Messe" von Werner Braunfels in Stuttgart.

FR, 21.04.2010

Im Vergleich zu den Trauerbekundungen für den Torwart Robert Enke ist die öffentliche Anteilnahme für die in Afghanistan gefallenen deutschen Soldaten auffallend gering, stellt Harry Nutt fest. "'Wer sein Leben für den aktiven Schutz unserer Werte verloren hat', sagte der damalige Verteidigungsminister Jung [bei der Einweihung des Ehrenmals der Bundeswehr im Berliner Bendlerblock], 'darf nicht vergessen werden. Die Widmung des Ehrenmals fasst dieses Bekenntnis programmatisch zusammen: Den Toten unserer Bundeswehr. Für Frieden, Recht und Freiheit.' Nichts an diesen Worten deutet darauf hin, dass hier eine Remilitarisierung der Gesellschaft eingeleitet werden sollte. Vielmehr spricht aus den Formulierungen des Ministers das Unbehagen, einen Tod für die Gesellschaft annoncieren zu müssen, der kein Opfer darstellt, sondern nur die prekäre Folge einer Dienstpflicht ist."

In Times Mager lobt Peter Michalzik die Düsseldorfer Uraufführung von Juli Zehs Theaterstück über einen Amoklauf "Good morning boys and girls". Judith von Sternburg schreibt zum 100. Todestag von Mark Twain. Christian Thomas mokiert sich über Walter Mixa und seinen "Piranesi".

Besprochen werden Alain Resnais' Film "Vorsicht Sehnsucht" (von dessen "zärtlicher Surrealität" Daniel Kothenschulte hingerissen ist) und Sebastian Nüblings Inszenierung des "König Ubu" am Essener Grillo-Theater.

FAZ, 21.04.2010

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk und sein russischer Kollege Viktor Jerofejew schreiben über das Flugzeugunglück von Smolensk und seine politischen Folgen. Stasiuk kann nur den Kopf schütteln über die Vorgänge in seiner "nekrophilen" Nation: "Seit zehn Tagen gibt es praktisch keine anderen Informationen als die Informationen über die Katastrophe. Ein nicht endender Reigen von Trauergästen erinnert an die Heldentaten der Verstorbenen. Rühmt ihren Edelmut, ihre Güte und ihre Außergewöhnlichkeit.... Sehr interessant, dieses rituelle Bündnis von Macht und Medien, deren Geschäft normalerweise die Kritik der Regierenden ist. Es reicht ein gewaltsamer Tod, der Geruch von Blut, schon kehrt sich ihre Rolle völlig um. An die Stelle der Kritik tritt die groteske Sakralisierung."

Jerofejew resümiert in einem aus der Gazeta Wyborcza übernommenen Text: "Polen ist im russischen Raum wieder präsent. Das blutige Wort KATYN, angefüllt mit neuem Blut, hat das Potential, in Zukunft für ein gemeinsames Unglück zu stehen. Man könnte sagen, wie in früheren sowjetischen Zeiten ist Polen bei uns wieder in Mode."

Weitere Artikel: Werner Knorr, Pilotenchef der Lufthansa, mag nicht glauben, dass es gibt, was er nicht sieht: "Egal, was eine Modellrechnung ergibt, eine Wolke, die wir nicht sehen, kann so bedrohlich nicht sein." In der Glosse geißelt Andreas Platthaus Apple für die Praxis, grundsätzlich keine Apps von Karikaturisten auf seine Geräte zu lassen - mit dem Pulitzerpreisträger Mark Fiore ist nun ein besonders prominenter Künstler Opfer dieser Form der "Ausschaltung der freien Meinungsäußerung" geworden. Dieter Bartetzko zeigt sich entsetzt von den Plänen, bei Ürzig eine landschaftsverschandelnde Hochbrücke über die Mosel zu bauen. (Und, ja, der Stuttgarter Hauptbahnhof und die Elbtalbrücke kommen auch wieder vor.) Regina Mönch informiert darüber, dass heute eine Internet-Datenbank freigeschaltet wird, die die Werke der von den Nazis zur "entarteten" erklärten Kunst erfasst. Ingeborg Harms schreibt einen kurzen Nachruf auf den ungarischen Schriftsteller Szilard Rubin, Gerhard Stadelmaier einen noch kürzeren auf den Peter-Brooks-Schauspieler Sotigui Koyate.

Besprochen werden des Filmregisseurs Stefan Ruzowitzkys Inszenierung des "Freischütz" im Theater an der Wien, Alain Resnais' Film "Vorsicht Sehnsucht" und Bücher, darunter eine ganze Reihe Neuübersetzungen und Neuausgaben von Werken Mark Twains (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 21.04.2010

In den Augen der unterdrückten Völker, so warnt Andrian Kreye im Aufmacher, wird die Einstellung des Verfahrens gegen Oberst Klein nach den Vorfällen von Kundus als Ausdruck einer "Doppelmoral als Synonym für ein Völkerrecht als neokoloniales Druckmittel" gesehen werden. Tobias Kniebe berichtet über die Sperrung von Hitlerszenen aus dem "Untergang" mit parodistischen Untertiteln, die bei Youtube sehr populär waren, durch die deutsche Constantin Film. Johannes Kuhn berichtet über die Kritik an Steve Jobs' Politik der Zulassung von Apps für Iphone, Ipod und Ipad. Jonathan Fischer schreibt zum frühen Krebstod des Rappers Guru. Thomas Steinfeld gratuliert Peter Schneider zum Siebzigsten. Burkhard Müller schreibt zum hundertsten Todestag Mark Twains.

Auf der Medienseite spricht Claudia Teschky mit Wolfgang Fürstner, dem Geschäftsführer des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ), der die Zukunft der Medien nicht allein im Verkauf von Ipad-Apps erblickt.

Besprochen werden Atom Egoyans Film "Chloe" (mehr hier), die Ausstellung "Hinaus in die Natur! Barbizon, die Weimarer Malerschule und der Aufbruch zum Impressionismus" in Weimar, die wiederentdeckte Oper "Arianna" von Benedetto Marcello, einem venezianischen Komponisten aus dem 18. Jahrhundert, in Salzburg, Armin Petras' "Herakles-Trilogie" am Theater Basel und ein Bach- und Beethoven-Abend Murray Perahias in München.