Heute in den Feuilletons

Torpedokäferartige Energie

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2010. In der taz erklärt Apichatpong Weerasethakul, warum die thailändischen Ereignisse durchaus auch ihre erfreuliche Seite haben. Die Goldene Palme für Weerasethakul findet allgemein Zustimmung. Die Financial Times und die Blogs staunen über Rupert Murdochs blickdichte Paywall bei der britischen Times. Die FR staunt mehr über Christoph Schlingensief selber als über sein Spektakel "Via Intolleranza II". Nach der Schaffung künstlichen Lebens erklärt Craig Venter, was wir eigentlich sind: Informationsmaschinen.

TAZ, 25.05.2010

Im Interview mit Cristina Nord spricht der Goldene-Palme-Gewinner Apichatpong Weerasethakul über die Ereignisse in seiner Heimat: "Die Lage zwingt einen dazu, die eigenen Meinungen, Werturteile und moralischen Einstellungen unentwegt zu überprüfen - wie in dem Film 'Do the Right Thing' (von Spike Lee, Anm. d. Red.). Ich frage mich noch immer, was meine Position in diesem ganzen Durcheinander ist. Mein Gefühle sind: Ich bin nicht glücklich, aber ich bin froh, diese wichtigen Ereignisse zu erleben. Wir haben diese Art von Klassenkampf in Thailand noch nicht erlebt; es ist eine starke Botschaft an die Regierung. In Frankreich mag es ja normal sein, wenn die Leute auf die Straße gehen, um zu sagen, was sie wollen. In Thailand ist es das nicht." Nord kommentiert auch die Preise von Cannes.

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller resümiert das Berliner Theatertreffen. Besprochen wird eine Austellung mit Propagandakunst aus Nordkorea in Wien.

Und Tom.

NZZ, 25.05.2010

Susanne Ostwald resümiert das Filmfestival in Cannes und ist sehr zufrieden mit der Goldenen Palme für Apichatpong Weerasethakuls "Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives": "Die Entscheidung mag den Anschein erwecken, sie sei vor dem Hintergrund der derzeitigen Zustände in Thailand gefällt worden. Und tatsächlich öffnet der kurz vor Festivalende gezeigte Film in diesem Zusammenhang Interpretationsspielräume. Dennoch handelt es sich in erster Linie um ein singuläres Kunstwerk von berückender Schönheit und Poesie."

Außerdem: Joachim Güntner sieht in Deutschland den Generationenvertrag kippen. Auf der Medienseite beschreibt Tilmann P. Gangloff die Kritik von Filmschaffenden am heutigen Einsatz von Musik im Film. Wenig Diskurs findet Heribert Seifert auf der von der Zeit ins Leben gerufenen Internetplattform "Netz gegen Nazis".

Besprochen werden eine Aufführung von Bizets "Carmen" in historischer Praxis bei den Pfingstfestspielen Baden-Baden, Cavallis Oper "La Calisto" in Basel, einige DVDs und Bücher, nämlich Gedichte von Marion Poschmann, ein Sammelband mit Reden und Aufsätzen Robert Spaemanns (von Uwe Justus Wenzel mit folgenden Worten zitiert: "die Philosophie habe 'im Grunde nichts anderes zu tun als das, was die Gemüsefrau schon immer wusste, in Schutz zu nehmen gegen den fortgesetzten Versuch einer gigantischen Sophistik, es ihr auszureden'".)

Weitere Medien, 25.05.2010

(Via Hemartin) Rupert Murdoch zieht die Bezahlmauer hoch. Möglicherweise noch heute wird das neue Modell für die Times vorgestellt, berichtet Tim Bradshaw auf seinem Blog in der selber kostenpflichtigen Financial Times: "Within four weeks, the paywall barriers will be raised. All but the homepage will be invisible to those refusing to pay £1 a day - and that includes Google's spiders." In paidcontent.org berichtet Robert Andrews über diesen ziemlich radikalen Ausstieg aus dem Netz.

(Via Oetting) Facebook-Gründer Mark Zuckerberg reagiert in der Washington Post auf Kritik an den Datenschutzpraktiken seines Netzwerks: "We have heard the feedback. There needs to be a simpler way to control your information. In the coming weeks, we will add privacy controls that are much simpler to use." Daniel Lyons von Newsweek kann Zuckerberg damit allerdings nicht zufrieden stellen: "I doubt these changes will be substantive, but even if they are, as far as I'm concerned, it's too little too late."

Tagesspiegel, 25.05.2010

Nicht als Menschkunst, sondern als Kaninchenstall hat Rüdiger Schaper das Theater beim Berliner Theatertreffen erlebt - "großmäulig und kleingeistig": "Selbst bei einem subtilen Meister wie Christoph Marthaler nervt die ewige Verblödungs- und Verödungsmasche. Diese Figuren, die bemüht schlaff und maulfaul und lächerlich gekleidet ihre und unsere Zeit totschlagen. Was für Geschlagene und Gepresste (von wem?) sollen die 'Butzbacher' sein? Es ist die wahre Krise, wenn die Theater ihr Geld, ihre Mühe, ihre Kunst, all ihre Mittel aufwenden, um bloß noch Typen vorzuführen und in letzter Konsequenz zu denunzieren. Schlimmer noch: Der Zuschauer wird in eine voyeuristische Falle gezwungen, mit der ungeheuerlichen Unterstellung, dass sich Theatergänger nicht interessieren für soziales Elend."

Aus den Blogs, 25.05.2010

Hans Falladas Buch "Jeder stirbt für sich allein" (Alone in Berlin) ist ein großer Erfolg in Großbritannien, las die Übersetzerin Katy Derbyshire im Observer. Dumm nur, dass der Name des Übersetzers Michael Hofmann nicht erwähnt wurde, ärgert sie sich in ihrem Blog love german books. Ein ältere Meldung informiert uns, dass Derbyshire Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" übersetzen wird: "I'm going to revel in the gorgeous language, feel my way into fucked-up Mifti like a first-class voyeur and - I hope - enjoy every minute of it. ... I'm also rather grateful for the detailed list of sources, something a translator usually has to use guesswork to get around."

Derbyshire hat sich vor einigen Wochen mit Jessa Crispin im Blog of a Bookslut über Probleme beim Übersetzen aus dem Deutschen unterhalten - vor allem, wenn es um deutsche Wörter für bestimmte Teile der weiblichen Anatomie geht. Zum Beispiel die, die mit "Scham" beginnen: "My dictionaries tell me this Scham thing comes from the fact that we cover our genitals. German doesn't use Latin medical terms like English, so things often come across as rather blunt to English-speaking (or listening) ears -- the uterus is the Gebärmutter or something like 'birthing mother' and the ovaries are Eierstöcke or egg-sticks (possibly egg-stocks, etymologically). Then there's the Muttermund for the uterine orifice -- one of those things you only know you have when you get pregnant, and the image of it opening to spit out the baby is, ummm..."

Welt, 25.05.2010

Ist das Gemälde "Herz, Kaktus und Fötus", das gerade in der großen Berliner Kahlo-Ausstellung gezeigt wird, wirklich von Kahlo? Stefan Koldehoff geht der Frage nach, ob sich der Berliner Martin-Gropius-Bau vom mexikanischen Sammler Carlos Philipps Olmedo die äußerst fragwürdige Zuschreibung hat unterjubeln lassen. Direktor Gereon Sievernich etwa sagt: "Wann das Bild aufgehängt wurde? 'Keine Erinnerung. Bei der Pressevorbesichtigung hing einiges noch nicht.' Wer es Frida Kahlo selbst zugeschrieben hat? 'So etwas entscheiden immer mehrere.'"

Weiteres: Hanns-Georg Rodek bilanziert die Filmfestspiele von Cannes und führt ein kurzes Interview mit dem thailändischen Palmengewinner Apichatpong Weerasethakul über dessen Film "Onkel Boonmee", Reinkarnation und die Wiederbelebung durchs Kino. Wieland Freund meldet, dass die englische Übersetzung von Hans Falladas "Jeder stirbt für sich allein" die amerikanischen Bestseller-Listen gestürmt hat. Frank Fischer resümiert nach Lösung aller Rätsel die sechs Staffeln der nun zu Ende gegangenen Mystery-Serie "Lost". Laura Ewert unterhält sich mit dem geläuterten Kinderschreck Sido, der für sein nächstes Album gar mit einem Kinderchor auftritt.

FR, 25.05.2010

Ulrich Seidler hat in Hamburg das offensichtlich recht chaotische Spektakel "Via Intolleranza II" (nach einem Komponisten namens Luigi Bono) gesehen, mit dem Christoph Schlingensief seine jüngsten Afrika-Erfahrungen verarbeitet, das ihn aber weniger fasziniert als Schlingensief selbst: "Was immer passt, ist die Verblüffung über die torpedokäferartige Energie des Künstlers - ein nervlicher oder körperlicher Zusammenbruch ist für ihn noch lange kein Grund aufzuhören, Sinnkrisen sind seine Wegweiser. Scheitern: ja, unbedingt! Aufgeben: nein, um keinen Preis!"

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte ist so weit zufrieden mit den Preisen von Cannes. Der Schriftsteller Franzobel lässt noch einige Anmerkungen zu "Bayern vs. Inter" folgen.

Besprochen werden Oliver Klucks neues Stück "Warteraum Zukunft" bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, Katharina Hackers Erzählung "Die Erdbeeren von Antons Mutter", die Herta-Müller-Ausstellung im Literaturhaus München und regionale Kulturereignisse.

FAZ, 25.05.2010

Der Biochemiker Craig Venter, der neuerdings als der Schöpfer "synthetischen Lebens" gelten darf (mehr hier), erklärt im Interview, was er aus seinen Forschungen lernt: "Die Ergebnisse, die wir vorgelegt haben, zeigen, wie dynamisch Leben ist. Noch sehen die Leute Zellen und Arten als klar fixierte Einheiten, aber wenn man sich an die Mikrobenwelt heran- und in sie hineinzoomt, ändern sich die Dinge von einer Sekunde zur andern. Wir haben herausgefunden, dass wir ganz eindeutig durch DNA-Software betriebene Informationsmaschinen sind. Diese Software wird ununterbrochen gelesen."

Weitere Artikel: Klaus Ungerer schildert ein außerordentlich valentinesk klingendes Erlebnis mit seiner Bank, die glatt sein Depot zum Verschwinden brachte, und zwar bislang auf Nimmerwiedersehen. Frankfurt bläst Trübsal nach dem Verschwinden der Suhrkamp-Kultur? Von wegen, meint Sandra Kegel, und zählt, von einer Valentin-Senger-Massenlesung bis zum Antritt des neuen Literaturhauschefs Hauke Hückstädt, heftige Lebenszeichen des dortigen Literaturbetriebs auf. In der Glosse schließt Verena Lueken ihre Liebeserklärung an die Filme von Apichatpong Weerasethakul mit der Aufforderung an deutsche Verleiher und Zuschauer: "Geht hin und seht." Aus China meldet Mark Siemons: "Ein Pekinger Dozent, der Mao Tse-tung den größten Tyrannen der Geschichte genannt hat, ist von seinen Vorgesetzten zur 'Selbstbesinnung' aufgefordert worden."

Besprochen werden eine von Philippe Arlaud inszenierte und von Teodor Currentzis dirigierte "Carmen" in Baden-Baden ("verblüffend, insgesamt bezaubernd und sehr erhellend" findet Julia Spinola die musikalische Interpretation, und nur diese), ein Richard-Hawley-Konzert in Köln, die Ausstellung "Von Kapstadt nach Brasilia - Neue Stadien der Architekten von Gerkan, Marg und Partner" in der Pinakothek der Moderne in München und Bücher, darunter Hugo Loetschers autobiografisches letztes Werk "War meine Zeit meine Zeit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Die Redakteure der Technik-und-Motor-Seite haben das Ipad seit zwei Monaten getestet und sind nicht besonders begeistert. Michael Spehr kritisiert: "Viele Journalisten haben geschrieben, dass das iPad eine Revolution im Umgang mit dem Computer oder dem Internet darstelle. Es sei geradezu ein Paradigma für die nächste Generation besonders einfach zu bedienender PCs. Nur hat leider niemand gefragt, warum das IPad eine solche spielerische Leichtigkeit zu zeigen scheint: weil es im Grunde genommen nicht viel kann."

SZ, 25.05.2010

Susan Vahabzadeh ist zufrieden mit den Entscheidungen der Jury in Cannes, wo Apichatpong Weerasethakuls "Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" die Goldene Palme gewann. Fritz Göttler erzählt von Weerasethakuls Installation "Primitive" im Haus der Kunst, aus der sich der Uncle-Bonmee-Film entwickelt hat. Thomas Steinfeld hat Habermas' Essay in der Zeit gelesen (mehr hier) und macht sich Sorgen um die europäische Einigung. Jörg Häntzschel schickt ein Porträt von Mr. Zeitgeist Klaus Biesenbach, dem neuen Direktor des MoMA P.S.1. (mehr auf Deutsch im Stern). Fritz Göttler schreibt zum Siebzigsten des japanischen Fotokünstlers Nobuyoshi Araki. Lothar Müller schreibt zum Tod des Mathematikers und Literaten Martin Gardner.

Besprochen werden Wolfgang Amadeus Mozarts frühe, im Alter von 15 Jahren für Don Giuseppe Principe d'Aragona komponierte Oper "La Betulia Liberata" bei den Salzburger Pfingstfestspielen, Björn Richie Lobs Film "Keep Surfing", Francesco Cavallis Oper "La Calisto" in Basel, die Ausstellung "Bilder im Kopf" im Forum Willy Brandt in Berlin-Mitte, ein Buch über die Lyrik Stefan Georges und politische Bücher, darunter Gianluigi Nuzzis Band über die "Vatikan AG" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).