Heute in den Feuilletons

Figurendompteur und Text-Durchbuchstabierer

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2010. In der FAZ träumen Geert Lovink und Franco Berardi von einem Internet ohne Kapitalismus. Im Guardian fordert der Medienprofessor John Naughton ein neues Urheberrecht fürs Internetzeitalter. Telepolis stellt Neal Stephensons Konzept für ein interaktives und kollektiv geschriebenes Buch vor. In der NZZ erinnert sich der peruanische Schriftsteller Daniel Alarcon mit Wehmut an die großen Zeiten des Fußballs im Radio. Die taz wundert sich über wirre Äußerungen von Judith Butler.  

Aus den Blogs, 21.06.2010

Der Science-Fiction- und Fantasy-Autor Neal Stephenson bereitet mit einem Unternehmen namens Subutai das multimediale und interaktive Buch vor, schreibt Marcus Hammerschmitt in Telepolis: "Ziel des Unternehmens, dessen Webpräsenz passenderweise unter der mongolischen Top-Level-Domain ('mn') registriert ist: die Herstellung und Vermarktung einer neuen Art Text. 'The Mongoliad' soll von verschiedenen Autoren geschrieben werden, Seriencharakter haben und von jeder Menge multimedialem Schnickschnack begleitet werden. Der Text, oder eher das Gewebe, hat die Eroberungszüge der Mongolen im Europa des Mittelalters zum Thema, bzw. die gesellschaftlichen Verwerfungen, die diese Bedrohung in den mittelalterlichen Gesellschaften Europas hervorrief."

Weitere Medien, 21.06.2010

"The strange thing about living through a revolution is that it's very difficult to see what's going on", schreibt der Medienprofessor John Naughton in einem Guardian-Essay über das Internet an und für sich, in dem er das "mächtigste Instrument unserer Zeit" in neun Schritten erkunden will. Punkt 9 betrifft die aktuellen Urheberrechtssysteme: "The only way to stop copying is to shut down the net. There's nothing wrong with intellectual property per se, but our copyright laws are now so laughably out of touch with reality that they are falling into disrepute."

(via Achgut) "Im Frankreich von heute ist es nicht so leicht, ein Jude zu sein, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts", sagt Alain Finkielkraut in einer Rede, die er in Yad Vashem gehalten hat (hier als pdf-Dokument). Als einen der Gründe sieht er eine Opferkonkurrenz, die etwa von der muslimischen und afrikanischen Minderheit in Frankreich entwickelt werde: "Every commemoration increases in other parts of the world, mostly in our suburbs, in the non-European neighborhoods of our cities, rage grows at the good fortune of the kings of misfortune; the Jews. That is the way it goes in numerous schools all over my country. Youngsters show their disgust not at what was done in Auschwitz, but at the memory of Auschwitz and progressive teachers understand and support them, because they are appalled by the current predicament of the Palestinians. They boycott Auschwitz as an Israeli product."

NZZ, 21.06.2010

Der peruanische Schriftsteller Daniel Alarcon erinnert sich wehmütig an die Kunst des Fußballkommentars im Radio, wie sein Vater sie beherrschte. Er konnte sogar ein fiktives Spiel zum Leben erwecken: "Wenn er in seiner Fantasie die Stürmer von Melgar einen Ball im Netz versenken ließ, jauchzten und triumphierten die Zuhörer nicht minder begeistert, als wenn es ein echtes Tor gewesen wäre. Mein Vater erinnert sich, wie er ins Publikum schaute - etwa dreihundert Männer, Frauen und Kinder, die der Jubel aus den Sitzen gerissen hatte -, und wie er kaum glauben konnte, was er sah. Die Leute fielen sich gegenseitig um den Hals, klatschten. Golazo! Als er die Bühne verließ, nahm ihn sein Onkel Juan Castor in Empfang, vom Stolz überwältigt und mit Tränen in den Augen."

Ernst-Wolfgang Böckenförde sieht die Gründe für die Krise der Europäischen Union in Strukturfehlern des EU-Vertrags seit der Einführung der Währungsunion. Er schlägt vor, zunächst mal die politische Union zu vertiefen. "Es bedarf dann einer gemeinsamen Haushalts- und Finanzpolitik, gewisser Ausgleichsmechanismen und Transferleistungen, um die Währungseinheit nicht Zerreißproben auszusetzen und für die Märkte angreifbar zu machen."

Außerdem: Michelle Ziegler war bei der Verleihung des Zürcher Festspielpreises an György Kurtag in der Tonhalle Zürich. Besprochen werden das von Heinz Holliger dirigierte Festspiel-Eröffnungskonzert mit Werken von György Kurtag und Robert Schumann, Sven-Eric Bechtolfs Inszenierung der Strauss-Oper "Salome" bei den Zürcher Festspielen 2010 und Sebastian Baumgartens Inszenierung der Offenbach-Operette "Die Banditen" im Theater Neumarkt in Zürich.

Welt, 21.06.2010

Elmar Krekeler plädiert im Aufmacher für Stille. Stefan Koldehoff stellt ein vom Händler Walter Feilchenfeldt erstelltes Werkverzeichnis Vincent van Goghs vor. Laura Ewert unterhält sich mit der schwedischen Sängerin Robyn über deren Image.

FR, 21.06.2010

Auf gerade mal vier Stunden hat es Peter Stein mit seiner "Lulu" bei den Wiener Festwochen gebracht. Joachim Lange fands eher mau, am besten gefiel ihm der 86-jährige Franz Mazura in der Rolle des Schigolch: "Mazura ist mit seiner lebenssatten, wachen Greisenhaftigkeit ein berührendes Ereignis. Mit ihm ist ein wahrer Mensch unter die Bühnenfiguren geraten, die der akribische Figurendompteur und Text-Durchbuchstabierer Stein aufmarschieren lässt, um sie dem staunenden Publikum vorzuführen."

Weiteres: Christian Schlüter berichtet von einer Frankfurter Philosophen-Tagung über die Geltung und Durchsetzung der Menschenrechte. In Times mager meldet Hans-Jürgen Linke, dass die Weine der Tricastin-Region nun nicht mehr wie das benachbarte AKW heißen, sondern Grignan-les-Adhemar.

Besprochen werden die Ausstellung afghanischer Kunst "Gerettete Schätze" in der Bonner Kunsthalle, zwei neue Techno-Alben der Greie Gut Fraktion und von Efdemin sowie Jachym Topols Roman "Die Teufelswerkstatt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 21.06.2010

Etwas verwirrt hörte Zoe Sona, wie Judith Butler in Berlin "queere Bündnisse" gegen Gewalt, Rassismus und Militarismus forderte, den Zivilcouragepreis des Berliner CSD aber ablehnte, weil er ihr "zu kommerziell und zu wenig antirassistisch" ist - im Gegensatz zu Hamas und Hisbollah, die sie für für progressive soziale Bewegungen hält.

Netz-Aktivisten wollen das ORF-Magazin Futurezone retten, das der ORF abschaffen muss, weil es gegen eine Europa-Regelung verstößt, mit der "sich die Verlage die öffentlich-rechtliche Konkurrenz vom Leib halten" wollen, berichtet Julia Seeliger. "'Vertiefend' darf der ORF online nicht mehr berichten, eigenständige Online-Angebote sind nicht mehr gestattet. Das bedeutet das Aus für ein Mode-Magazin, aber eben auch für die Futurezone."

Besprochen werden die Ausstellung "Zelluloid. Film ohne Kamera" in der Frankfurter Schirn ("Alles ist Bewegung, nichts bleibt so lange ruhig stehen, bis es das Auge ganz erfassen könnte", freut sich Cristina Nord), der letzte Teil von Rene Polleschs Ruhrtrilogie, "Der perfekte Tag", in Mülheim (mit einer hinreißenden Soloperformance von Fabian Hinrichs, ansonsten "stehen die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Geschlechterdifferenz im Zentrum" des Stücks, informiert uns Regine Müller).

Und Tom.

Tagesspiegel, 21.06.2010

Caroline Fetscher resümiert eine Berliner Veranstaltung, auf der Necla Kelek gegen hartnäckige Kontrahenten wie Werner Schiffauer und Özcan Mutlu ihre Position zu Integration und Islam vertrat: "Attacken von Linken wie Rechten, denen Keleks Ansätze nicht gefallen, zielen inzwischen darauf ab, sie als 'Zwangsbeglückung' zu desavouieren und den gezielten Druck auf ideologische Enklaven als rassistisch getönten 'Anti-Islamismus' zu brandmarken. Absurd daran ist, dass Rassismus die Exklusion will, während sich Keleks Diskurs um Inklusion dreht, um Teilhabe und die Eröffnung neuer Räume."

FAZ, 21.06.2010

Der Internet- und Netzwerktheoretiker Geert Lovink verweist in einem ausführlichen Artikel auf den linken italienischen Medientheoretiker Franco Berardi, der aus dem Umfeld von Antonio Negri und Paolo Virno stammt. Seine These ist, dass nicht das Internet und nicht die Informationsüberflutung per se uns überfordern, sondern der "Semiokapitalismus". Zitat Berardi: "Nicht die Technologie ist das Problem. Damit müssen wir leben. Problematisch ist die Kombination von Informationsstress und Konkurrenz. Im Marktwettbewerb müssen wir stets die Ersten und Besten sein. Was wirklich krank macht, ist nicht die Informationsüberflutung, sondern der neoliberale Druck mit seinen unmöglichen Arbeitsbedingungen."

Weitere Artikel: An seinen langjährigen Bekannten Jose Saramago erinnert sich Walter Haubrich. Dieter Bartetzko begrüßt das umgebaute und wiedereröffnete Albertinum (Website) in Dresden zurück in der "Garde der besten Kunstmuseen Deutschlands". In der Glosse geht es um die an Zahl rasch zunehmenden Stadtfüchse von London. Von unschönen Blüten österreichischer Piefkefeindlichkeit anlässlich der WM berichtet Dirk Schümer. In deutschen Zeitschriften liest Ingeborg Harms unter anderem in Lettre die deutsche Erstübersetzung von Simone Weils letztem Text, einer flammenden Anklage gegen den französischen Kolonialismus, sowie in Sinn und Form den Briefwechsel zwischen Hilde Domin und Hannah Arendt. Bei einer prominent besuchten Vorfeier zum 80. Geburtstag des Verlegers Klaus Wagenbachs war Katharina Teutsch zugegen.

Besprochen wird ein Pariser Auftritt des Tänzers Mikhail Baryshnikov (und Wiebke Hüster staunt: auch mit 61 Jahren ist er noch "der charismatischste Tänzer der Welt"), die Ausstellung mit Fotografien von Alice Springs (d.i. June Newton) im Berliner Museum für Fotografie und Bücher, darunter Alawiyya Sobhs Roman "Marjams Geschichten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 21.06.2010

In Neapel findet gerade - und vielleicht zum letzten Mal - ein großes Theaterfestival statt. Doch die meisten Neapolitaner interessieren sich mehr dafür, wie die Azzuri bei der WM abschneiden. Gut, dachten die Veranstalter laut Henning Klüver, dann integrieren wir halt den Fußball und zeigen im Teatro San Carlo von Neapel einen Videozusammenschnitt von über 100 Torschüssen des argentinischen Ausnahmefußballer Diego Armando Maradona: "'El Diego - Konzert Nr. 10, Musik für Maradona und Orchester', eine Performance des Napoli Teatro Festival Italia ... Virtuose Dribblings, Hackentricks und Fallrückzieher werden zunächst vom Orchester des San Carlo mit dem 1. Violinkonzert von Niccola Paganini begleitet."

Weitere Artikel: Nachdem er die ersten Aufführungen beim Festival "Neue Stücke aus Europa" in Wiesbaden und Mainz gesehen hat, stellt Till Briegleb fest: Die osteuropäischen Autoren sehnen sich nach Wundern, die westeuropäischen nach Romantik. Michael Moorstedt hat für die Nachrichten aus dem Netz in The Atlantic Nicholas Carrs kritischen Artikel über Google Suggest gelesen - das ist der Algorithmus, der einem nach ein, zwei Buchstaben den Suchbegriff vorschlägt. Das neue Kölner Museum ist ein gediegener Zweckbau, meint Catrin Lorch, für die das soweit okay geht. Das Plattenlabel EMI wird künftig mehr Rechteverwalter als Plattenfirma sein, meint Jens-Christian Rabe nach dem jüngsten Führungswechsel in der Firma. Harald Eggebrecht berichtet über die norwegischen "Festspiele in Bergen", die den vor 200 Jahren geborenen Musiker und Patrioten Ole Bull feiern. Richard Swartz schreibt zum Tod des serbischen Architekten und Schriftstellers Bogdan Bogdanovic.

Auf der Hochschul-Seite berichtet Roland Preuß über einen Streit um die Islamlehrer-Ausbildung an deutschen Universitäten, denn die islamischen Dachverbände, die "auf ihrem Alleinvertretungsanspruch für die Muslime in Deutschland" beharrten, wollen ausschließlich Theologen berufen sehen: "In den Moscheen finde nun einmal das muslimische Leben statt, sagte der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime (ZMD), Axel Ayyub Köhler. Einzelpersönlichkeiten von außen hätten in den Beiräten islamischer Institute nichts verloren."

Besprochen werden die Bruce-Nauman-Ausstellung "Dream Passage" im Hamburger Bahnhof in Berlin, einige DVDs und Bücher, darunter Marie NDiayes Roman "Drei starke Frauen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).