Heute in den Feuilletons

Man versucht, die Revolution herauszuhalten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2012. In der Zeit pochen hundert Urheber auf ihr Recht. Und Peter Sloterdijk bezweifelt, dass André Rieu in der Lage ist, eine Philosophie-Sendung im ZDF zu moderieren. Die Urheberrechtsdebatte reißt auch in weiteren Medien Gräben auf: Im Freitag fordert der Konzertagent Berthold Seliger eine Reform, die eine Verkürzung der Schutzfristen einschließt. Der Urheberrechtsexperte Till Kreutzer fordert im WDR, dass man die Gegebenheiten der Digitalisierung zur Kenntnis nimmt. Und Foreign Policy meldet: die Prediger der Christenverfolgung haben jetzt schon eine Million Follower.

Freitag, 10.05.2012

Der Konzertagent Berthold Seliger schildert in einem sehr instruktiven Essay zunächst die missliche aktuelle Lage beim Urheberrecht, die vor allem die Industrie schütze, warnt vor einer Kulturflatrate und macht einige Vorschläge zur Reform des Urheberrechts, die auf folgender Analyse beruht: "Nur mit einem gigantischen Kontroll- und Überwachungsapparat und in einem autoritären Staat ließe sich das Internet verwertungsindustriekonform gestalten - das kann niemand ernsthaft wollen. Es muss also endlich eine Unterscheidung zwischen Privatpersonen und Urhebern mit kommerziellen Interessen geben. Das unselige Abmahnungswesen muss gesetzlich gestoppt und der Verbraucherschutz im Netz verbessert werden. Nichtkommerzielles File-Sharing muss legalisiert werden, die Rechte der Künstler gegenüber den Verwertungsgesellschaften müssen gestärkt werden." Zu Seligers Vorschlägen gehört die Kürzung der Schutzfristen im Urheberrecht.

Außerdem: René Polleschs Laudatio auf Sophie Rois zur Verleihung des Theaterpreises der Stiftung Preußische Seehandlung am letzten Samstag und ein Nachruf auf den Architekten Matthias Rick (Raumlabor), der im Alter von nur 47 Jahren gestorben ist.

Aus den Blogs, 10.05.2012

(via Film Studies @ Facebook) Toll: Das Korean Film Archive bietet über YouTube viele Klassiker der koreanischen Filmgeschichte an, zahlreiche davon mit englischen Untertiteln. Zu finden sind unter anderem auch Filme des Altmeisters Im Kwon-Taek, dem die Berlinale vor einigen Jahren eine kleine Hommage widmete: Hier sein damals gezeigter Film "Chukje" (unsere Berlinale-Kritik hier).
Stichwörter: Berlinale, Filmgeschichte, Korea

NZZ, 10.05.2012

Joseph Croitoru berichtet von der schleppenden Aufarbeitung der Stasi-Akten in Bulgarien, Moldau und Lettland: Nicht selten seien es ehemalige Angehörige des kommunistischen Unterdrückungsapparats, die mit der Archivierung der Akten betraut sind und diese nach Gutdünken verschwinden ließen. Sieglinde Geisel schreibt den Nachruf auf Maurice Sendak.

Besprochen werden eine Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum Basel über die Baugeschichte des Ersten Goetheanums in Dornach, das 1922 abbrannte, Valérie Donzellis Familiendrama "La guerre est déclarée", Milagros Mumenthalers Filmdebüt "Abrir puertas y ventanas" und Thomas Machos Studie über "Vorbilder" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 10.05.2012

Cigdem Akyol und Gaby Sohl unterhalten sich mit Wibke Bruhns, deren Autobiografie "Nachrichtenzeit" gerade erschienen ist, über das Alter, ihre Wahlkampfhilfe für Willy Brandt, Günter Grass, den sie einen "beratungsresistenter alten Herrn" nennt, und Israel, um das sie sich sorgt: "Zu meiner Zeit lebten nur 3 Prozent orthodoxer Juden in Israel, heute sind es 20 bis 25 Prozent. Sie haben viele Kinder, und sie werden allmählich zu einer sozialen Bedrohung. Staat und Gesellschaft zahlen für die Orthodoxen - das Thora-Studium ist göttliches Gebot, da kann man daneben nicht auch noch Geld verdienen. Die Frauen verbergen sich unter Perücken und bodenlangen Gewändern. Die Männer, in ihren schwarzen Gewändern, sind sehr krawallbereit. Das ist eine Kampfansage an die moderne Gesellschaft."

Weiteres: Sven von Reden spricht mit der Regisseurin Athina Rachel Tsangaris über ihren neuen Film "Attenberg", eine "überraschende Mischung aus Monty Python, Performance Art und europäischem Kunstkino der Moderne". Besprochen werden Tim Burtons Film "Dark Shadows" mit Johnny Depp, in dem er Gothic-Grusel mit Siebziger-Jahre-Popkultur kreuzt, Sönke Wortmanns Beziehungskomödie "Das Hochzeitsvideo" (dessen Humor "im Standgas stottert", stöhnt Thomas Groh) Jan Speckenbachs Film "Die Vermissten", der sich in eine "Tradition der fragilen Kunstfilmfantastik" einreihe, das Konzert von The Gossip im Berliner Berghain und Felix Schnells Studie "Räume des Schreckens" über Massenmorde in der Ukraine vor 1933 (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

FR/Berliner, 10.05.2012

Christian Schlüters Freude über den Versuch des Brockhaus Verlags, große Werke der Literatur als Comic neu erzählen zu lassen, weicht beim ersten Blättern der Enttäuschung: "nicht der Hauch eines grafischen Experiments".

Besprochen werden das Konzert von Beth Dittos Gossip in Berlin, eine Robert-Longo-Ausstellung in der Berliner Galerie Capitain Petzel und einige Filme, darunter Athina Rachels Tanzfilm "Attenberg".
Stichwörter: Longo, Robert, Tanzfilm

Weitere Medien, 10.05.2012

Der Großmufti von Saudi Arabien, Abdulaziz al-Sheikh, hat von neuem dazu aufgerufen, alle christlichen Kirchen auf der arabischen Halbinsel zu zerstören, schreiben Jonathan Schanzer und Steven L. Miller in Foreign Policy, die eine gefährliche Tendenz erkennen: "These sentiments are particularly troubling as Saudi clerics flock to Twitter, Facebook, YouTube, and mobile apps to amplify their messages. Despite Saudi religious figures' historical opposition to modern technologies, they now see online social media as a crucial means of communicating with the Saudi public and the Muslim world. The top three Saudi clerics on Twitter -- Salman al-Odah, Mohamad al-Arefe, and Aidh al-Qarnee -- all have well over 1 million followers."

Das Urheberrecht muss refomiert werden, meint auch der Jurist Till Kreutzer im Interview mit dem WDR und dabei müsse man die neuen Distributionsformen mit bedenken: "Man muss sich mit der aktuellen Situation anfreunden und sie analysieren. In was für Märkten operieren wir? Wie denken die Leute, denen wir Sachen verkaufen wollen? Wie formulieren wir Regelungen, die den vielen Facetten gerecht werden? Bis 2037 wird man so weit sein. Wenn man nämlich gemerkt hat, dass nichts mehr geht, muss man es anders machen."

Jungle World, 10.05.2012

Die trauen sich und zeigen auf ihrem Cover Mohammed-Karikaturen!

Auch Journalisten sind in Griechenland von der Krise betroffen, schreibt Theodora Mavropoulos: "Viele Journalistinnen und Journalisten, die ihre ausgebliebenen Gehälter vor Gericht eingeklagt haben, warten bisher vergeblich auf ihre Abfindungen. Viele von ihnen müssen daher mit einem sehr geringen Arbeitslosengeld auskommen. Bisher betrug die Arbeitslosenhilfe einheitlich 461,40 Euro pro Monat. Seit März 2012 wurde dieser Betrag nach den neuesten Sparbeschlüssen um 22 Prozent gesenkt. Der Grundbetrag der Arbeitslosenhilfe berechnet sich jetzt auf Basis des vom neuen Memorandum vorgesehenen Mindestlohns und liegt bei 360 Euro pro Monat."

Aus den Blogs, 10.05.2012

Irights.info setzt einige Links zur Urheberrechtsdebatte. Unter anderem auf diesen Text von Marcel-André Casasola in dem Blog 137b, der die Analogie von materiellem und geistigem Eigentum durchspielt: "Vor dem ersten Losfahren musste ich den Hersteller anrufen und ihm erzählen, in welchen drei Stadtteilen ich das Fahrrad nutzen will. Wenn ich in einen unautorisierten Stadtteil fahre, schlägt automatisch die Bremse an. Da muss ich selbst gar nichts tun. Das ist Service. Ich kann dann bei dem Hersteller anrufen und das Fahrrad umbuchen. So komme ich durch die ganze Stadt."

Welt, 10.05.2012

Der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswani, Autor einer populären Kolumne und einflussreicher Kommentator der ägyptischen Revolution, spricht im Interview über die Entwicklungen seit dem Sturz Mubaraks und seinen drohenden Prozess vor einem Militärgericht. Die im Januar abgehaltene Wahl spiegelt seiner Meinung nach nicht den Willen der Wähler wider: "Unter den 20 Millionen Ägyptern, die die Revolution durchgesetzt haben, waren die Hälfte Frauen. Doch im neuen Parlament sind nur sieben Frauen vertreten - von über 500 Sitzen. Nur 32 Abgeordnete sind Revolutionäre. Man versucht, die Revolution herauszuhalten."

Weiteres: Sönke Wortmann erzählt, warum es in seiner neuen Filmkomödie "Das Hochzeitsvideo" so menschelt: "Ich bin ein Menschler, ich mag Harmonie, ich habe eine unzynische Haltung. Ich möchte alle mögen." Besprochen werden eine CD mit improvisierter Klassik, aufgenommen von der Geigerin Hilary Hahn und dem Pianisten Hauschka, und Tim Burtons Film "Dark Shadows" (sein "witzigster Film seit Jahren", wie Matthias Heine feststellt).

Zeit, 10.05.2012

In einem mit "Wir sind die Urheber!" überschriebenen "Aufruf gegen den Diebstahl geistigen Eigentums" beziehen hundert prominente Unterzeichner (darunter Charlotte Roche, Roger Willemsen, Frank Schätzing und Martin Walser) Stellung zur anhaltenden Debatte ums Urheberrecht, das "eine historische Errungenschaft bürgerlicher Freiheit gegen feudale Abhängigkeit" darstelle: "Das Urheberrecht ermöglicht, dass wir Künstler und Autoren von unserer Arbeit leben können, und schützt uns alle, auch vor global agierenden Internetkonzernen, deren Geschäftsmodell die Entrechtung von Künstlern und Autoren in Kauf nimmt."

Nach zehn Jahren setzt das ZDF das "Philosophische Quartett" ab. Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk plaudern im Interview über das Konzept ihrer Sendung, über gelungene und weniger gelungene Gespräche und darüber, wie sich die Fernsehlandschaft im Laufe der Jahre verändert hat. Auf Richard David Precht, ihren designierten Nachfolger im ZDF, angesprochen, äußert sich Sloterdijk skeptisch: "Ob er wirklich, wie das ZDF annimmt, zu einer Verjüngung des Publikums beitragen wird, bezweifle ich allerdings. Seine Klientel gleicht eher der von André Rieu, den hören auch vor allem Damen über fünfzig in spätidealistischer Stimmung." André Rieu - das wird der Precht nie mehr los!

Außerdem: Moritz von Uslar geht mit Claudia Roth auf der Flensburger Förde spazieren und überlegt, ob die Grünen-Chefin nicht vielleicht deswegen so beliebt ist, weil sie keine klügeren Sachen sagt als der Durchschnitt ihrer Wähler.

Besprochen werden das neue Album von Gossip, neue Filme von Tim Burton und Sönke Wörtmann und Bücher, darunter: "Vom Mississippi zum Mainstream", eine Studie über die Ursprünge des Blues, sowie zwei Biografien des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 10.05.2012

Hannelore Schlaffer beklagt den Relevanzverlust der großen Klassiker der Literatur, ja der Literatur überhaupt und sinnt guten alten Zeiten nach, als Goethe noch nicht im Volltext einen Klick weit entfernt lag: "Wenngleich auf nicht ganz so emphatische Weise wie in den Kreisen literaturbegeisterter Jünglinge verband das Dichterwort die Gesellschaft. Das klassische Zitat, Erbe des Bibelworts, war das Sprichwort der Gebildeten, es gehörte in jede Festrede, zu jedem Geburtstag, in jeden Stammtischwitz und in jede gelehrte Vorlesung."

Außerdem: Der längst geplante Neubau der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin droht an der SPD zu scheitern: Peter Laudenbach ist beeindruckt von den Protesten, mit denen die Studenten derzeit "die ganze Stadt zu ihrer Bühne machen" (und auch die Medien: hier die Protestaktion kürzlich bei Jauch, hier die gestrige Sendung von Gottschalk, der die Studenten zum Gespräch eingeladen hatte). Michael Stallknecht berichtet von Hans Ulrich Gumbrechts Vortrag in München über das Verhältnis zwischen Politik und Religion. Felix Stephan war bei der Berliner Lesung von Les Murray. Kristina Maidt-Zinke war bei der Einweihung eines Vivaldi-Denkmals in Venedig dabei, wo sie aber feststellen musste, dass das Denkmal den benachbarten "nicht das Wasser reichen" kann. Mit Wonne lauscht Karl Lippegaus einer neuen Duke-Ellington-Einspielung von Benoît Delbecq.

Besprochen werden eine Freilicht-Kunstausstellung in Nordhorn, neue Kinofilme, darunter die Komödie "21 Jump Street" und der griechische Film "Attenberg", in dem Rainer Gansera Anzeichen für "eine neue Nouvelle Vague" aus Griechenland ausmacht, eine Ausstellung über Herwarth Waldens Avantgarde-Galerie "Der Sturm" im Von der Heydt-Museum in Wuppertal und Bücher, darunter das "Buch der verbotenen Bücher" von Werner Fuld (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 10.05.2012

Verena Lueken schildert auf einer dreiviertel Seite ihre Sorgen und Nöte beim Erstellen ihrer Top-10 der besten Kinofilme aller Zeiten für die internationale Umfrage des britischen Filmmagazins Sight & Sound: "Der Leopard", "L'Avventura" und "Der General" stehen ganz oben. (Hier die Umfrageergebnisse von 2002 und den vorangegangenen Jahrzehnten). Dieter Bartetzko blättert nach dem Flughafen-Debakel in Berlin in den Geschichtsbüchern nach weiteren geplatzten Eröffnungsterminen vollmundig angekündigter Großbauten. Laura Gispert und Benjamin Grau befassen sich umfassend mit Wohungsarchitektur für Demenzkranke. Lena Bopp berichtet vom Frankfurter Literaturfestival LiteraTurm. Stefan Grissemann plaudert mit dem Regisseur Wes Anderson. Bert Rebhandl gratuliert Hartmut Bitomsky zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album der Toten Hosen, das neue Album von Mark Lanegan, Tim Burtons neuer Johnny-Depp-Film "Dark Shadows" und Bücher, darunter eine Sammlung mit Gedichten von Bei Dao (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).