Heute in den Feuilletons

Sprachlich elegante Reduktion

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2012. Die taz Online veröffentlicht einen Aufruf der bekanntesten deutschen Filmkritiker gegen den Deutschen Filmpreis, so wie er jetzt ist. Die Jüdische Allgemeine beschwert sich: Günter Grass bringt den literarischen Antisemitismus in Verruf - da gab's schon originellere Nobelpreisträger. David Cole wehrt sich im NYRBlog gegen Malise Ruthvens Forderung, Beleidigungen des Propheten Mohammed zu verbieten. In der Zeit erklärt Roberto Saviano, warum die Mafia für nichts tötet. Und die SZ mahnt: Museumsbesucher sind die eigentlichen Opfer der grassierenden Kunstraube.

TAZ, 18.10.2012

Die taz Online veröffentlicht einen Aufruf der bekanntesten deutschen Filmkritiker, die den Deutschen Filmpreis scharf kritisieren. Sie möchten die Auszeichnungen der Filme nicht mehr automatisch an die Ausschüttung großer Summen für den nächsten Filme koppeln - denn die Preisentscheidungen fallen mit Rücksicht auf den Geldregen: "Die Entscheidungen der letzten Jahre zeigen eine unübersehbare Tendenz zum kleinsten gemeinsamen Nenner, zu einem Konsenskino, das künstlerische Extreme ebenso wie große Kassenerfolge von vornherein ausschließt."

"Eine neue Herzog-Mania", die sich zu regelrechten "Werner-Herzog-Festspielen" ausweitet, macht Thomas Groh derzeit in Deutschland aus: Zum 70. Geburtstag des bayrischen, in Amerika lebenden Regisseurs finden unter anderem eine Schau seiner neueren Dokumentarfilme im Berliner Kino Arsenal und eine filmwissenschaftliche Tagung im Filmmuseum statt. "Im Grunde holt der deutsche Kulturbetrieb in diesem Überschwang zeitversetzt die Entwicklung nach, die in den USA kurioserweise mit jenem Film einsetzte, der mangels Kinostart Herzogs Verschwinden in Deutschland einläutete: 'Grizzly Man'."

Außerdem: Katrin Bettina Müller zieht Halbzeitbilanz beim Festival Foreign Affairs in Berlin und stellt neue Stücke und Choreografien von Boris Charmatz, Anne Teresa De Keersmaeker und Rodrigo Garcia vor.

Besprochen werden Matthias Glasners Film "Gnade", in dem es Birgit Glombitza von allem Starkem, Anrührenden und Abgründigen zu viel gibt, und Ken Loachs jüngster Film "Angels Share - Ein Schluck für die Engel" (mehr hier), der diesmal ein "sozialdramatischer Krimi" geworden ist.

Und Tom.

NZZ, 18.10.2012

Hilary Mantel gewinnt für "Bring up the Bodies" ihren zweiten Booker Prize, meldet Marion Löhndorf und tadelt milde die mangelnde Risikobereitschaft der Auswahljury: "Wie schon im Vorjahr bei der Entscheidung für Barnes setzte die Jury auch 2012 nicht auf das Risiko des Neuen oder Experimentellen, sondern ehrte eine etablierte, brillante Autorin mit einem Werk, das sich beim ersten Lesen ohne große Herausforderungen erschließt."

Weiteres: Abgedruckt ist "Das Erlöschen einer Stadt", eine von siebzig Episoden aus Christoph Ransmayrs "Atlas eines ängstlichen Mannes", der am 25. Oktober im Fischer Verlag erscheint. Marc Zitzmann vergleicht drei französische Bücher über die Tweet-Affäre von François Hollandes Gefährtin Valérie Trierweiler. Fabrizio Brentini schreibt einen Nachruf auf den Architekten Fritz Haller.

Besprochen werden die Filme "Holy Motors" von Leos Carax (den Susanne Ostwald für "ein bizarres Meisterwerk" hält) und "De rouille et d'os" von Jacques Audiard sowie Bücher, darunter Wolf Haas' "Verteidigung der Missionarsstellung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 18.10.2012

Wie frei ist freie Rede? Angesichts der - häufig tödlichen - Reaktionen auf Verunglimpfungen des Propheten Mohammed in muslimischen Ländern hat Malise Ruthven kürzlich in der NYRB eine zweigleisige Strategie vorgeschlagen: danach soll wissenschaftliche Kritik am Islam erlaubt sein, die "Beleidigung" des Propheten, in der Absicht Hass zu streuen, als Form der "hate speech" aber verboten werden. In seiner Antwort erklärt David Cole, dass es erstens fatal wäre, die Mehrheit oder die Regierung entscheiden zu lassen, was man sagen darf und was nicht. "Zweitens ist die Aufgabe, 'hate speech' so zu definieren, dass eine klare und durchsetzbare Grenze zwischen dem, was verteidigt werden muss und dem, was verboten werden soll, eine schwer fassbare und eigentlich unmögliche Aufgabe. Ruthvens Vorschlag unterscheidet zwischen Kritik und 'Beleidigung' und ähnelt damit auf unheimliche Weise dem Verfahren, das die türkische Staatsanwaltschaft unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan anwendet, wenn sie Anklage gegen Journalisten wegen 'Beleidigung' der Türkei erhebt."

Günter Grass bringt den literarischen Antisemitismus in Verruf, spottet Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen über den Gedichtband "Eintagsfliegen" und besteht darauf, wenn schon dann von einem Stilisten beleidigt zu werden: "T. S. Eliot, auch er Antisemit und Nobelpreisträger, hat es in seinem Poem 'Burbank with a Baedeker: Bleistein with a Cigar' vorgeführt. Dort heißt es in der sechsten Strophe: 'The rats are underneath the piles. The jew is underneath the lot.' Welch' eindringliche Metaphorik und sprachlich elegante Reduktion."

Welt, 18.10.2012

Wieland Freund beneidet in der Leitkolumne die Briten: Sie kriegen es noch hin, historische Romane zu schreiben, die wie jetzt Hilary Mantels für den zweiten Teil ihrer Cromwell-Trilogie "Bring up the Bodies" mit dem renommiertesten Literaturpreis des Landes ausgezeichnet werden. In Auszügen wird der Aufruf der Filmkritiker zum Filmpreis dokumentiert.

Besprochen werden eine Ausstellung des Bildhauers und Zeichners Thomas Schütte in der Londoner Serpentine Gallery und Filme, darunter Matthias Glasners "Gnade" (mehr hier) mit Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel.

Aus den Blogs, 18.10.2012

Bei Keyframe Daily erfahren wir, dass der japanische Regisseur Koji Wakamatsu bei einem Autounfall gestorben ist. Von dort haben wir auch den Hinweis auf einen langen Artikel über das Werk des seit den 60er Jahren tätigen Regisseurs, der in jüngsten Jahren auch auf der Berlinale wieder stärker vertreten war (hier unsere Kritik zu seinem Film "Caterpillar"). Auf Youtube finden wir eine ziemlich coole und melancholische Nachtclub-Szene aus seine Film "Ecstasy of the Angels" von 1972:



Außerdem gestattet Google einen, gelinde gesagt, beeindruckenden Blick in seine Serverfarmen.

Weitere Medien, 18.10.2012

Die Linkspartei möchte das geltende Urhebervertragsrecht novellieren, meldet das Neue Deutschland - unter anderem wendet sie sich gegen die ausufernden Total-Buy-Out-Verträge der Medienindustrien: "Es sei 'nicht länger hinnehmbar, dass die großen Verbände der Contentindustrien im Namen der Urheberinnen und Urheber einen stärkeren Schutz des geistigen Eigentums einfordern, zugleich jedoch die Rechte der eigentlichen Betroffenen mit Füßen treten', begründete die Linkspartei die Initiative."

Der Tagesspiegel meldet, dass Nadeschda Tolokonnikowa, Mitglied der russischen Band Pussy Riot, Beschwerde beim Deutschen Presserat gegen einen Artikel in der Sonntags-FAZ eingelegt hat, von dem sie sich verunglimpft fühlt, weil man sie dort mit RAF-Terroristen vergleicht und herabsetzt: "Beispielsweise heiße es in dem Artikel 'Lady Suppenhuhn', der am 25. August vorab auf faz.net veröffentlicht wurde, Tolokonnikowa habe ihr Kind von einem Computertisch fallen lassen und unterstelle somit, dass sie eine schlechte Mutter sei. Dazu werde Tolokonnikowa in dem Artikel der Lüge bezichtigt, ohne dass dies journalistisch nachgeprüft worden sei. Ihr sei nicht die Möglichkeit zur Äußerung eingeräumt worden, wie es Ziffer 8 des Pressekodexes vorschreibt."

Dirk Pilz berichtet in der FR/Berliner Zeitung über eine Diskussionsveranstaltung der FU Berlin zum Thema Rassismus im Theater. Das heißt, diskutiert wurde eigentlich nicht, weil die Geladenen, ausschließlich Vertreter von Bühnenwatch, sich alle über den grassierenden Rassismus an deutschen Theatern einig waren: "eine Debatte, nämlich der Austausch von Argumenten, ist offenbar nicht erwünscht. Man fragte sich, für wen diese Tagung überhaupt gemacht war, wenn man weder den Kritisierten noch methodisch und begrifflich anders arbeitende Wissenschaftler zu Wort kommen lässt", meint Pilz, der den Beteiligten vorwirft, sich "auf einen ästhetischen Analphabetismus zurückzuziehen, indem sie alle künstlerischen Kontexte der jeweiligen Arbeiten ausblenden".

(Via @oslofreedomfrm) Der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko hat vorgestern auf einer Pressekonferenz einige wichtige Bemerkungen zu seiner Rolle in der Geschichte gemacht, berichtet Claure Bigg in Radio Free Europe: "'In half a century, how will we be judged?' Lukashenka asked. 'If Western trends catch on here, I will be considered worse than Stalin. [They will say I] snatched people on the street and ate them, especially women, and other things. This is exactly how Stalin and Lenin are demonized.'"

SZ, 18.10.2012

Für Catrin Lorch steht nach dem Kunstraub von Rotterdam (mehr) das eigentliche Opfer fest: Das Museumspublikum. "Nicht nur weil Sammler wie Willem Cordia ihre Schätze vielleicht nie wieder Kuratoren anvertrauen. Sondern auch, weil Häuser, wie das Pariser Museum für Moderne Kunst, aus dem vor zwei Jahren fünf Werke von Picasso, Matisse und anderen gestohlen wurden, es sich schlicht nicht leisten können, ihre defekten Alarmanlagen und Einfachverglasungen nachzurüsten. Viele Werke aus der Sammlung wanderten dort ins Depot."

Auf Seite Drei wälzt sich Philipp Selldorf im tiefen Fußballschmerz über die schmachvoll unentschieden gespielten Partie der deutschen Mannschaft gegen Schweden: "4:0 hatten sie geführt und dabei mit ihrer Kunst Momente von überirdischem Glanz geschaffen, aber am Ende war dieser Zauber bloß wertloser Tand. So eine grandiose Tölpelei ist noch nie vorgekommen in der Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes. Es grenzt ja schon ans Ehrenrührige." Einen neuen Intimfeind hat er im gegnerischen Lager auch gefunden: Zlatan Ibrahimovic, "ein flächendeckend tätowierter Vagabund".

Weitere Artikel: Auch Thomas Steinfeld kann Zlatan Ibrahimovic beim besten Willen nicht leiden, zumal nach der Lektüre von dessen Autobiografie: Der Sportler scheint "auf dem Fußballplatz wie bei anderen öffentlichen Gelegenheiten, kein angenehmer Mensch zu sein". Tobias Kniebe informiert über einen offenen Brief von Filmkritikern, die darin die Deutsche Filmakademie auffordern, das Nomininierungs- und Vergabeverfahren des Deutschen Filmpreises zu überdenken. Stephan Speicher meldet, dass das Archiv des Leo Baeck Instituts mit zahlreichen Dokumenten zur Geschichte des deutschen Judentums nun online steht. Fritz Göttler empfehlt die Fritz Lang gewidmete Retrospektive der Viennale: "Die Psychoanalyse, die Lang im Kino betreibt, hat nichts mehr vom patriarchalischen Gestus bei Freud, hier spürt man die schneidende Kälte von Lacan." Auf Youtube finden wir zur Einstimmung einen Porträtfilm aus den 60ern (und einen neueren):



Für die Medienseite besucht Wolfgang Koydl die sich zunehmend auf den digitalen Wandel einstellende NZZ und schließt aus seinen Beobachtungen: "Am Ende wird es voraussichtlich nur noch eine elektronische NZZ geben - vielleicht mit ein paar gedruckten Exemplaren für einen auserlesenen Kreis betuchter Connaisseurs, die bereit sind, sich diesen Luxus etwas kosten zu lassen."

Besprochen werden Katie Mitchells Inszenierung von Friederike Mayröckers "Reise durch die Nacht" am Schauspiel Köln, ein "vertracktes" neues Stück von Salvatore Sciarrino, eine Ausstellung über chinesische Architektur im Museum Zeughaus in Mannheim, Matthias Glasners neuer Film "Gnade" und Bücher, darunter Amir Hassan Cheheltans "Stadt ohne Himmel" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 18.10.2012

Mit Argwohn verfolgt der Romanist Jürgen Trabant die "Anglisierungskampagne" der EU, die vorsieht, von der derzeitigen Polyglossie der europäischen Institutionen nach und nach zum Englischen als Standard überzugehen. Er hält dies für "Propaganda", die "nicht aus der EU (kommt), sondern aus den von der Wirtschaft gedrängten Nationen, sie ist im Wesentlichen ökonomisch, nicht politisch oder kulturell, sie ist global und nicht europäisch."

Weiteres: Als "Miles Davis der Gegenwart" feiert Jonathan Fischer den Hiphop-Laptop-Komponisten Flying Lotus, dem mit seinem neuen Album ein "meditatives Meisterwerk" gelungen sei - hier kann man sich davon im Stream überzeugen. Patrick Bahners unterhält sich mit Thomas Frank über das zweite Obama/Romney-Fernsehduell. Für Stefan Koldehoff spricht beim Kunstraub von Rotterdam "vieles für einen 'Insider-Job'". Nils Aschenbeck hält nicht viel von den Plänen in Görlitz, dem Bevölkerungsschwund durch den Bau eines Einkaufszentrumms vorzubeugen. Sinem Derya Kilic besucht ein Konzert in Istanbul zu Ehren des Regisseurs Theo Angelopoulos. "crw" berichtet vom Experimentalfilmkongress in Berlin.

Besprochen werden eine Fotoausstellung von Abbas Kiarostami im Museum Situation Kunst in Bochum, Matthias Glasners Film "Gnade", ein von Konrad Junghänel dirigierte "Figaro"-Aufführung an der Oper Köln und Bücher, darunter Richard Fords Roman "Kanada" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 18.10.2012

Ein Scherz, ein Flirt, ein falscher Gruß - der nichtigste Anlass kann ausreichen, um von der Mafia ermordet zu werden, berichtet Gomorrha-Autor Roberto Saviano und beschreibt die makabre Logik der Clans: "Je unbedeutender das Motiv für ein Todesurteil, desto nachdrücklicher demonstriert ein Boss seine Macht, die Willkür seiner Entscheidung... Man tötet wegen einer Kleinigkeit und spricht damit eine furchtbare Warnung aus: Euer Leben liegt in unseren Händen." (Auf La Repubblica findet sich sein Artikel im italienischen Original.)

Die Bekenntnisse zu Europa - etwa von Daniel Cohn-Bendit, Ulrich Beck, Guy Verhofstadt oder Robert Menasse - nehmen zunehmend ideologische Züge an, stellt Bernd Ulrich fest und warnt davor, "den alten Nationalismus auf Europa zu projizieren, anstatt ihn zu überwinden".

Im Feuilleton prüft Iris Radisch die fünf auf Deutsch erschienenen Romane des Nobelpreisträgers Mo Yan und verkündet: "Es ist Weltliteratur!" Der Sinologe Wolfgang Kubin spricht im Interview über Mo Yans literarische Vorbilder und die Rezeption in China: "Mo Yan bebildert sein Trauma, er bebildert die vergangenen dreißig, fünfzig, hundert Jahre. Er lässt ein Personal auftreten, dass einem schwindlig wird, es ist immer das große Tableau. Gerechterweise muss ich aber sagen: Dafür gibt es ein Publikum."

Weiteres: Ulrich Greiner führt ein Zwiegespräch mit Gott anlässlich des 500. Geburtstags von Michelangelos Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle in Rom. In einem offenen Brief an die Deutsche Filmakademie plädieren 20 Filmkritiker für eine Reform des Deutschen Filmpreises. Hanno Rauterberg erläutert, wie kitschige Kunst à la Hundertwasser, Jeff Koons und Gerhard Richter salonfähig werden konnte.

Besprochen werden gelungene Inszenierungen von Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein" am Hamburger Thalia Theater und Alban Bergs "Lulu" an der Oper Brüssel, die Filme "Gnade" von Matthias Glasner, "Skyfall" von Sam Mendes und "Angels' Share" von Ken Loach sowie Bücher, darunter Richard Dworkins "Gerechtigkeit für Igel" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).