Heute in den Feuilletons

Es ist immer die allerletzte Minute der Geschichte

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2013. Nach der Enthüllung des Prism-Skandals fragen der Guardian, die FAZ und andere Zeitungen nach den weltpolitischen Konsequenzen. In der FAZ rät Datenschützer Thilo Weichert, keine amerikanischen Internetdienste mehr zu nutzen. In der SZ setzen sich Aleida Assmann und Bernard Giesen sehr kritisch mit Giorgio Agambens Ruf nach einem "Empire latin" auseinander. Auf starke-meinungen.de fragt Alan Posener, ob sich die Antideutschen wirklich für Israel interessieren. Alle Zeitungen würdigen den "reinen Intellektuellen" Walter Jens. Und aktuell: Spiegel Online meldet, dass der Taksim-Platz geräumt wird.

Weitere Medien, 11.06.2013

(Via Wolfgang Blau) Hier die heutige Seite 1 der Weltzeitung 1 The Guardian. Mit dem Kommentar von Daniel Ellsberg: "What is not legitimate is to use a secrecy system to hide programs that are blatantly unconstitutional in their breadth and potential abuse. Neither the president nor Congress as a whole may by themselves revoke the fourth amendment - and that's why what Snowden has revealed so far was secret from the American people."

Zeit, 11.06.2013

Kai Biermann versucht herauszufinden, warum die NSA ausgerechnet in Deutschland so viel abhört. Die meisten Politiker erklären dies mit Mohammed Attas Aktivitäten in Hamburg vor dem 11. September. Frank Rieger, einer der Sprecher des Chaos Computer Clubs und seit Jahren in Sicherheitskreisen unterwegs, hat eine andere Theorie zum Warum. Die Alliierten hätten kompletten Zugriff auf die Kommunikationsstruktur Westdeutschlands gehabt, sagt er. 'Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sich das geändert hat.' Was seine Infrastruktur der Telekommunikation angeht, sei Deutschland 'nicht unbedingt ein souveränes Land'."

Patrick Beuth beschreibt nach gründlicher Recherche die wenigen Möglichkeiten, sich vor den Zudringlichkeiten der Geheimdienste zu schützen: "Die erste lautet: Boykott. Wer Microsoft, Apple, Yahoo, Google, Facebook, PalTalk, AOL, Skype und YouTube nicht nutzt, wird vom Prism-System nicht direkt erfasst. Indirekt aber natürlich doch...
Die zweite Antwort auf die Ausgangsfrage lautet deshalb: Es ist möglich, seinen digitalen Fußabdruck innerhalb dieser Dienste zumindest zu verringern. Wer zum Beispiel seine E-Mail-Adresse bei Yahoo oder Google behalten möchte, kann seine Mails verschlüsseln, um zumindest den Inhalt vor unerwünschten Mitlesern zu schützen. Wie das funktioniert, hat Zeit online in der Serie Mein digitaler Schutzschild beschrieben, im Kapitel zum Verschlüsselungsstandard OpenPGP."

Spiegel Online, 11.06.2013

Der Taksim-Platz scheint gerade geräumt zu werden. Spiegel Online berichtet: "Unter anderem setzten die Spezialeinheiten Tränengas ein. Sie wurden unterstützt von gepanzerten Fahrzeugen, die mit Wasserkanonen ausgerüstet waren."

In einem Gastbeitrag fordert Sabine Leutheusser-Schnarrenberger außerdem Aufklärung von der amerikanischen Regierung über die Abhörpraxis in Deutschland.

TAZ, 11.06.2013

Jörg Magenau erinnert an Walter Jens, den Schriftsteller, Intellektuellen und obersten Kritiker der Republik, dessen Auftritte durchaus gefürchtet waren: "Wenn Walter Jens sprach, dann hatte er die Hände scherenartig erhoben, als müsse er jedes Wort einzeln betasten und zerteilen. Martin Walser fühlte sich dadurch an eine Languste erinnert. So jedenfalls schreibt er in dem warnenden 'Brief an einen ganz jungen Autor' im Jahr 1962, in dem er jüngere Kollegen auf das vorbereitete, was ihnen in der Gruppe 47 bevorstand. Die Worte, die Jens in der Luft zerschnitt, waren nicht seine eigenen. Es war, Satz für Satz, das soeben Gehörte. Zusammen mit Walter Höllerer, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser bildete er die Kritikerbank, die in der Gruppe 47 das große Wort führte. Er war unter ihnen der Etikettierer, der erste Platzanweiser der Gegenwartsliteratur."

Weiteres: Aram Lintzel widmet sich dem mehr oder weniger zugeknöpften Mann. Besprochen werden Paul Abrahams Operette "Ball im Savoy" in der Komischen Oper in Berlin und Depeche Modes Konzert im Berliner Olympiastadion.

Und Tom.

Welt, 11.06.2013

Ulrich Weinzierl schreibt mit Sympathie seinen Nachruf auf Walter Jens, dessen Bedeutung als Philologe, Intellektueller und Kritiker der alten Bundesrepublik durch die späten Debatten um seine Mitgliedschaft beid er NSDAP und Demenz überlagert wird. Berthold Seewald feiert das neue Ägyptische Museum in München, das frappierend einem alten Totentempel ähnelt. Stefan Kirschner berichtet von einer neuen Runde im Clinch zwischen Rolf Hochhuth und Claus Peymann.

Besprochen werden die Operette "Ball im Savoy" in der Komischen Oper, das Album "Evil Friends" der Band Portugal. The Man und Hanna Jamesons Thriller "Kalter Schmerz".

Aus den Blogs, 11.06.2013

Alan Posener setzt sich auf starke-meinungen.de recht ausführlich mit dem Vordenker der "Antideutschen", Stephan Grigat, auseinander: "'Die antideutsche Kritik solidarisiert sich mit Israel aus der Erkenntnis, dass die Welt, so wie sie heute eingerichtet ist, den Antisemitismus immer aufs Neue hervorbringt.' So brachte Stephan Grigat schon vor Jahren das Bekenntnis der Antideutschen auf den Begriff. Die Welt muss also 'anders eingerichtet' werden, darunter tun diese Linksradikalen es nicht, und nur darum geht es diesen Leuten, nicht um Israel."

Die Reporterin Laura Poitras erklärt im Interview auf salon.com, wie sie zuerst von Edward Snowden kontaktiert wurde: "Via email. It said, I want to get your encryption key and let's get on a secure channel."

NZZ, 11.06.2013

Auf der Medienseite berichtet Monika Bolliger von einem unabhängigen Medienhaus in Gaza, das palästinensischen Journalisten gegen das politische Lagerdenken und die Repressionen der Hamas helfen soll: "'Im Gazastreifen als Journalist zu arbeiten, ist, wie im Regen zu gehen und zu versuchen, nicht nass zu werden', beschreibt ein erfahrener Reporter aus Gaza die Situation."

Weiteres: Martin Wengert würdigt in seinem Nachruf Walter Jens als "radikaldemokratischen Instanz" und "Identifikationsfigur kritischer Geister". Peter Hagmann berichtet vom Holland Festival in Amsterdam.

Besprochen werden Markus Gabriels philosophische Klarstellung "Warum es die Welt nicht gibt" und Viktor Pelewins Roman "Tolstois Albtraum" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 11.06.2013

China-Korrespondent Mark Siemons fragt, warum sich Edward Snowden ausgerechnet nach Hongkong flüchtete (das ein Auslieferungsabkommen mit den USA hat) denkt über politische Auswirkungen des Prism-Skandals nach: "Mit welchen Kriterien wird China untersagt werden können, was Amerika tut?"

Auf der Medienseite rät Datenschützer Thilo Weichert im Gespräch mit Michael Hanfeld, keine amerikanischen Internetdienste mehr zu nutzen: "Es gibt mit Ixquick zum Beispiel eine datenschutzkonforme Suchmaschine, da muss man nicht Google oder Bing nutzen. Es gibt auch eine Vielzahl von E-Mail-Anbietern, die ihren Datenverkehr nicht über die Vereinigten Staaten leiten."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier erinnert sich an seinen Doktorvater Walter Jens, Andreas Platthaus schreibt den "offiziellen" Nachruf. Dietmar Dath schreibt zum Tod des schottischen Science-Fiction-Autors Iain Banks. Alena Wagnerová liest jüngst aufgefundene Briefe Milena Jesenskas aus Gefängnis und Konzentratinslager. Karen Krüger schwankt zwischen Bewunderung und Sorge über die mutige türkische Jugend (und tatsächlich meldet Spiegel Online, dass der Taksim-Platz jetzt womöglich geräumt wird). Tom Scheibitz schreibt in der Reihe über angebliche Nebenwerke der Gemäldegalerie über eine Landschaft des Malers Hercules Seghers (siehe Abbildung).

Besprochen werden die Paul Abrahams-Operette "Ball im Savoy" in der Komischen Oper Berlin, wiederbelebt von Barrie Kosky, eine Ausstellung über William S. Burroughs in Hamburg, eine Ausstellung über Guy Debord in Paris, eine CD-Box mit frühen Songs von Scott Walker und Bücher, darunter Ralph Dutlis Roman "Soutines letzte Fahrt" (mehr hier und in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 11.06.2013

In der Diskussion um Giorgio Agambens umstrittene Kojéve-Lektüre geben sich Aleida Assmann und Bernard Giesen auch nach dem um Präzisierung bemühten Gespräch, das der sich missverstanden fühlende Philosoph der FAZ gegeben hat, nicht zufrieden: "Identität ist [kein] Mittel, das zu höherrangigen Zwecken eingesetzt wird, sondern bezeichnet vielmehr das höchste aller Ziele. ... Der rhetorische Gestus, mit dem Agamben seinen Vorschlag vorträgt, baut jedoch auf Gewalt und nicht auf Kommunikation. ... Der Schärfe dieser Entscheidung wohnt ein Terror inne, es ist immer die allerletzte Minute der Geschichte und des Gerichts, in der sich nun alles, alles entscheiden muss. Durch Scheiden und Zerschneiden. Europa kann man aber nicht retten durch Abtrennen und Zerteilen, sondern nur durch Binden und Verknüpfen."

Mit einem langen Nachruf würdigt Stephan Speicher den Philologen Walter Jens, mit dem er ein "großes Stück der alten Bundesrepublik" vergehen sieht: "Er sprach als reiner Intellektueller, nicht als Schriftsteller, der sich einmischte, wie es Böll, Grass, Enzensberger oder Rühmkorf taten. (...). Jens sprach ohne solche Absicherung, und wenn es heißt, er sei als reiner Intellektueller aufgetreten, so könnte man mit gleichem Recht sagen: als Bürger, als jemand, der das Wort ergreift, ohne von außen autorisiert zu sein. Das macht ja den Demokraten aus, dass er nicht alles von den Fachleuten erwartet, sondern sich selbst ein Urteil zutraut."

Außerdem: Gottfried Knapp begeht das tiefer verlegter Ägyptische Museum in München (online dazu eine Bilderstrecke). Felix Stephan informiert sich bei einer Tagung über die Autobahn in Kunst und Ästhetik (wir verlinken naheliegend). Alexander Menden schreibt den Nachruf auf den (unter anderem) Science-Fiction-Schriftsteller Iain Banks, an den sich an dieser Stelle auch sein Kollege Neil Gaiman erinnert.

Besprochen werden eine Aufführung von Carl Sternheims "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" am Schauspiel Bochum (bei der laut Marion Ammicht keiner "die Hosen runter lassen muss"), der Film "Das wundersame Leben des Timothy Green" und Bücher, darunter Botho Strauß' Erzählungsband "Die Fabeln von der Begegnung" (hier eine Leseprobe und mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).