Im Kino

Schaurig-schöne Tableaux Vivants

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Jonas Nestroy
22.06.2022. Ko Myoung-Sungs "The 12th Suspect" beginnt als "Whodunit" in Sepia und nähert sich der Auflösung mit dem Antippen eines Lichtschalters. Hannes Thor Halldorsson versucht in "Cop Secret" einen Actionfilm islandaise, versteht aber das Konzept Actionfilm nicht ganz.


1953: Mit zügigen Schritten geht ein Mann durch ein schwarzweißes kulissenhaftes Seoul. Bei seiner Ankunft in einem orientalischen Teehaus, dessen Schild die Kamera fixiert, werden die Bilder farbig. Das Innere der Lokalität ist in unterschiedliche Abstufungen von Braun und Sepia getaucht, das Sonnenlicht bricht sich in den milchigen Scheiben, das Holz der Fensterrahmen ist zersplittert, der Putz an den grünlich schimmernden Wänden bröckelt. An den Tischen sitzen Männer auf mit schwarzem Leder bezogenen Bänken; eine Künstlergesellschaft aus Dichtern, Romanautoren, Malern.

In einer mehrminütigen Plansequenz werden die in gelehrte, ziemlich hochstechend und aufgesetzt wirkende Gespräche vertieften Figuren der Reihe nach vorgestellt. Teilweise den Schritten der Kellnerin Jang Sun-Hwa (Park Sun-Young), der einzigen Frau im Lokal, folgend, durch- und vermißt die Kamera einen Raum, der in all seiner ausgestellten Bühnenhaftigkeit durch ihre Bewegung, aber auch das aufdringliche Color Grading ein ausgesprochen filmischer ist. Erst beim Eintritt des Malers Woo Beyong-Hong (Jung Ji-Soon), der berichtet, dass der berühmte Dichter Baek Doo-Wan in der vorherigen Nacht auf einem Hügel in der Nähe der Stadt ermordet worden sei, setzt der Film den ersten Schnitt. Das Verbrechen, um dessen Aufklärung es hernach gehen wird, manifestiert sich zuerst durch eine Unterbrechung des Bilderflusses.

Bald kommt ein weiterer Mann zur Tür herein, der sich als Agent einer Spezialeinheit vorstellt: Kim Ki-Chae (Kim Sang-Kyung). Er ist damit beauftragt, den Doppelmord an Baek und Choi Yoo-Jung (Han Ji-An) aufzuklären, die beide regelmäßig in dem Teehaus verkehrten. Es stellt sich heraus, dass viele der Anwesenden ein Motive für die Tat hätten. Der zunächst höflich und zurückhaltend auftretende Ermittler wird beim Verhör der Anwesenden immer energischer und stellt sich letztlich als skrupelloser Spion- und Kommunistenjäger heraus, der das Teehaus nach und nach in eine Folterhölle verwandelt; mit aller Gewalt bricht in den begrenzten Raum, den der Film erst ganz am Ende, im Epilog, verlässt, die Geschichte Koreas: die Aufklärung des Mordes führt durch ein Gewirr der Lügen und Intrigen in die Zeit des jüngst vergangenen Krieges, dessen letztes Opfer die Wahrheit ist.



Regisseur und Drehbuchautor Ko Myoung-Sung beginnt seinen ersten Spielfilm als geradlinigen Whodunit, dessen Erzählung im Verlauf immer komplexer und verschachtelter wird - und dabei zugleich eine Wucht entwickelt, die nach und nach eine Reihe formaler Elemente, die das Publikum auf Distanz halten soll, überwindet; am auffallendsten ist die Farbdramaturgie: Die Ereignisse, die zu dem Mord führten, werden zunächst in Rückblenden rekonstruiert, die in Pastelltönen gehalten sind; doch so, wie in Versuchen, alte Schuld zu vertuschen, alte Vergehen zu sühnen, der Krieg in dem Teehaus seine nahtlose Fortsetzung findet, braucht es bald nicht mehr als den Schalter der Deckenbeleuchtung, um die visuelle Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzuheben.

So ausgeklügelt wie der multiperspektivisch verschachtelte Plot des Films sind auch seine einzelnen Bilder: er ist voller komplexer, schaurig-schöner Tableaux Vivants, deren irrealstes und künstlichstes der dreimal in verschiedenen Versionen gezeigte Mord auf einem Felsen über der dunstverhangenen Stadt ist. Mit einer Poesie, die von reinem Kitsch bisweilen nicht leicht zu unterscheiden ist, erreicht Ko Myoung-Sung immer wieder große Effekte, auf die seine Inszenierung vielleicht etwas zu sehr abzielt.

Nicolai Bühnemann

The 12th Suspect - Südkorea 2019 - Regie: Ko Myoung-Sung - Darsteller: Kim Sang-kyung, Heo Sung-tae, Kim Dong-young, Jung Ji-Soon - Laufzeit: 106 Minuten.

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Der größte Moment in der Karriere des isländischen Regisseurs Hannes Þór Halldórsson dürfte sich nicht auf einem Filmfestival oder einer Filmpreisverleihung ereignet haben, sondern am 16. Juni 2018 während der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. Der isländische Fußball hatte zwei Jahre zuvor schon alle überrascht, als die Nationalmannschaft mit einem Sieg gegen England bei der Europameisterschaft die Fans in ihren Bann gezogen hatte. Der Hype um diese Underdog-Geschichte fand seinen großen Abschluss am besagten Datum in Moskau im Spiel Islands gegen Argentinien. Lionel Messi, seines Zeichens der vielleicht beste Fußballer aller Zeiten, trat zum Elfmeter an. Und zwischen den Pfosten stand der isländische Regisseur selbst, damals noch erster, in Europa aber eher zweitklassiger Nationaltorhüter, der den Schuss sogar hielt!

Warum steigt eine Filmkritik zu Halldórssons erstem Spielfilm mit der Geschichte eines vergangenen Fußballhypes ein? Natürlich weil es schon skurril genug ist, dass der Regisseur gleichzeitig ein halbwegs bekannter Profisportler ist, aber auch, weil sein Debüt "Cop Secret" so etwas wie eine Nachgeburt dieses David-gegen-Goliath-Geistes zu sein scheint, der für einige Jahre den Fußball Islands prägte. Wenn die Kamera zu Beginn in bester Michael-Bay-Manier eine Stadt umfliegt und die Gitarren des Soundtracks und die Polizeisirenen wie im amerikanischen 80s-Action-Film aufheulen, sind gleich die gigantischen Dimensionen Hollywoods aufgerufen. Aber die Großstadt heißt eben nicht L.A. sondern Reykjavik und im Polizeiwagen auf rasanter Verfolgungsjagd sitzt zwar der Jason-Statham'eske Supercop Bussi (Auðunn Blöndal), aber neben ihm auch sein trotteliger Partner samt Sohn, der eigentlich zur Schule muss.

Das Kleine trifft auf den großen Stil: "Cop Secret" bedient diesen dichotomen Modus gleich zu Beginn und kommt nicht mehr von ihm los. Alles wird auf den 'durchgedrehten Einfall' gesetzt, das großkotzige Action-Genre auf das bescheidene Island und sein Volk loszulassen. Der sich dazwischen auftuende Spalt soll von all den Zuschauern gekittet werden, die Halldórsson sich vollends amüsiert denken muss, ob seiner 'einmaligen Schnapsidee'. Also den Cop in Zeitlupe und mit Fliegersonnenbrille durch die engen Gänge der kleinen Stadtwache laufen lassen, den Bösewicht seinen perfekten Plan erklären und den Handlanger bemerken lassen, dass er ja gar kein Auto dafür hat. Auch für Obermacker Bussi hat sich Halldórsson etwas ausgedacht: Einen weiteren Supercop namens Hördur (Egil Einarsson), noch aufgepumpter, aus der Vorstadt, diesmal aber in einer pansexuellen, leicht effeminierten Version. Er wird Bussis vor sich hergetragene Heterosexualität als unterdrücktes schwules Begehren entlarven, wobei Halldórsson dieses Begehren zu einem ähnlichen Gimmick macht, wie all die durch den Kakao gezogenen Action-Topoi.



Gemeinsam müssen die beiden einen 'teuflischen Masterplan' von Bösewicht Rikki (Björn Hylnur Haraldsson) aufhalten, bei dem Gold geraubt werden soll, während eine Zeitbombe in einem (ziemlich kleinen) Stadion während eines Fußballspiels der isländischen Frauen-Nationalmannschaft zu detonieren droht. Genretypisch explodiert gerade diese nicht, aber dafür umso mehr Anderes, bis sie in letzter Sekunde entschärft wird. Halldórsson inszeniert dafür sogar ein Chinatown, dass die isländische Hauptstadt womöglich gar nicht besitzt. Auch sonst wirft sich mal jemand heldenhaft vor eine Kugel, stehen Totgeglaubte wieder auf, ist ein undurchsichtiger Plan nur eine Ablenkung für etwas Größeres, entwischt der Bösewicht fast mit einem Motorboot, um dann mit einem unmöglichen Schuss, auf den alles ankommt, doch noch das Handwerk gelegt zu kriegen. Einmal steht Bussi ganz verdutzt da und bemerkt, dass sein Leben sich gerade so anfühlt wie in "Stirb Langsam 3".

Nur ist es mit der Dekonstruktion eines Film-Genres so eine Sache: Vergleichbar ist das Vorhaben vielleicht mit dem Jenga-Spiel, bei dem aus einem Turm einzelne Bestandteile herausgelöst werden sollen, ohne dass das Gebilde in sich zusammenfällt. Das erfordert Geschick, Geduld und vor allem Verständnis für die Statik des Turms. Denn die Spannung entsteht genau im Moment des Entfernens eines Bausteins, der den Turm immer wackeliger werden lässt, aber gleichzeitig offenbart, warum er dennoch steht. Wenn sich ein Film der Dekonstruktion von Genre-Topoi widmet, passiert Ähnliches: Das Action-Konstrukt wird in einem zeitlichen Prozess aufgelöst, gleichsam neu aufgebaut und sollte es dabei irgendwann in sich zusammenfallen, dann mit dem Effekt, dass wir danach mehr über seine Funktionsweise wissen. Halldórsson nun verhält sich zu seinem Genre, wie sich ein dreijähriges Kind zum wackeligen Jenga-Turm verhalten würde: er ist zu ungeduldig, sich wirklich anzuschauen, wann etwas kippt oder an welchen Stellen es zusammenhält, und schmeißt stattdessen sofort alles um. Alles wird der albernen Prämisse unterstellt und schroff in post-ironische Flapsigkeit verkehrt. Die Action soll bloß nicht zu ernst genommen werden, oder gar als eine ästhetische Erfahrung, auf die man sich einlassen könnte.

Am Ende bringt Bussis und Hördurs Chefin die Formel von "Cop Secret" auf den Punkt. Sie konfrontiert die beiden Supercops mit all dem, was in die Luft gesprengt wurde. Ein Boot, ein Lagerhaus, eine ganze Bank und dann die blanke Zahl: ein Schaden von 2000 Euro! Eine simple Gleichung, die konzise den ganzen Witz ausdrückt auf den Halldórsson ständig hinauswill: Hypervirile Cops, die eigentlich schwul sind, ein hochexplosiver, hollywoodreifer Action-Film, der eigentlich nur in Rejkjavik spielt - und, naja: ein Filmemacher, der eigentlich einen anderen Job hat.

Jonas Nestroy

Cop Secret - Island 2021 - Regie: Hannes Thór Halldórsson - Darsteller: Auðunn Blöndal, Egill Einarsson, Sverrir Þór Sverrisson, Steinunn Ólína Þorsteinsdóttir, Björn Hlynur Haraldsson Vivian Ólafsdóttir - Laufzeit: 98 Minuten.