Im Kino

Grenzverkehr

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
17.10.2007. Ulrich Seidl wendet in "Import/Export" seine gnadenlose Drastik ins Menschliche. Und "Der Sternwanderer" ist ein Fantasy-Film, in dem Robert De Niro als Piratenkapitän in Frauenkleidern Cancan tanzt.
Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl hat ein unbedingtes Interesse an der Gegenwarts-Wirklichkeit und am Leben des Menschen in ihr. Er kümmert sich dabei wenig um existierende Grenzen, die des guten Geschmacks oder die der säuberlichen Trennung von Dokumentarischem und Spielfilmelementen. Er kümmert sich auch wenig um das Leben in jenen Beruhigungszonen westlicher Gesellschaften, die denen, die das Glück haben, in ihnen zu leben, als eigentliche und ausgezeichnete Form des Wirklichen vorkommen mögen. Für Seidl sind sie das nicht. Ihn interessieren die Ecken, in denen es schmutzig zugeht, in denen die Menschen zeigen, was an Obsessionen und Gehenlassen und falschem Wollen in ihnen steckt. Und damit auch jene Ecken der Wirklichkeit, in denen einem nichts zufällt und in denen das, was einer leistet oder auch einfach ist, kaum das finden wird, was man gesellschaftliche Anerkennung nennt. Seidls vorzüglicher Gegenstand ist, mit einem Wort, der nicht anerkannte Mensch der Gegenwart.

Aber macht ihn das allein schon zum Humanisten? Oder nicht doch zu einer speziellen Form des Elendstouristen? Seidl bewegt sich - und mit Absicht natürlich - auf moralisch vermintem Gelände, gerade daraus beziehen seine Filme ihre Provokationskraft. Ist Seidl, wird oft gefragt, auf der Seite der Erniedrigten und Beleidigten, die er zeigt? Macht er sich die Hände nicht schmutzig dadurch, dass er vorführt, was wir von anderen oft gar nicht sehen wollen? Oder dürfen? Sollte er nicht den Blick seiner Kamera abwenden - und lässt er in den Distanzierungen, die er in seiner Lieblingseinstellung vornimmt, dem Frontaltableau aus einer gewissen Entfernung, seine Figuren nicht im Stich? Gibt es nicht vielleicht sogar so etwas wie einen Elendsstolz in seinen Filmen, die Selbstzufriedenheit desjenigen, der zu zeigen wagt, was sonst keiner zeigt, desjenigen, der als einziger an Tabus rührt, in der Darstellung etwa des Sexuellen (die entschieden zu weit gehende Liebe des Menschen, zum Beispiel, zum Hund - in "Tierische Liebe")? Und in der Tat geht Ulrich Seidl gerne und manchmal auch allzu gerne zu weit.

Seidls Filme wecken Widerstände, auch "Import/Export", der im Wettbewerb von Cannes lief in diesem Jahr. Zwei Stränge hat der Film, zwei Bewegungsrichtungen kennt er. Er beginnt in der Ukraine im Winter. Olga (Ekateryna Rak) arbeitet als Krankenschwester und kann ihre kleine Tochter und sich davon nicht ernähren. Sie sucht einen Job und findet einen in einem Etablissement, in dem junge Frauen sich nackt vor Kameras räkeln und den Kommandos der über Telefon- und Internetleitung Angeschlossenen Folge leisten. Das ist nicht immer leicht, denn die Kundschaft stammt vorzugsweise aus Österreich und Deutschland und Olga versteht erst einmal kein Wort; ein Crash-Kurs auf dem Gang in pornografischem Deutsch, der zu den genuin komischen Szenen des Films gehört, soll helfen. Aber Olga hält den Job nicht aus und macht sich auf in den goldenen Westen, nach Wien, wo sie zuletzt als Putzfrau in einem Krankenhaus landet.

Die andere Bewegungsrichtung: Pauli (Paul Hofmann) ist arbeitslos in Wien, schuldet den falschen Leuten Geld und seinem Stiefvater auch. Er bekommt einen Job bei einem Sicherheitsdienst und verliert ihn wieder, fast ohne eigene Schuld. Mit seinem Stiefvater macht er sich auf in die Ukraine, wohin sie in einem Transporter Automaten exportieren. Der Stiefvater hat nicht viel mehr als seinen Schwanz im Kopf und Gelegenheiten zum Pimpern. Eine lange, quälende Szene auf dem Hotel mit einer jungen Prostituierten zeigt entblößte Körper und entblößte Seelen und schleust mit dem halb angewiderten Pauli doch ein Korrektiv ins typische Seidl-Bild. (Wobei es bei Seidl mit dem Blick nie getan ist: Er ist immer auch Arrangeur des Gezeigten, Anstifter zur Freilassung innerer Schweinehunde der Schauspieler/Menschen, die vor seiner Kamera figurieren.)

Olga und Pauli begegnen einander nicht. "Import/Export" fügt ihre grenzüberschreitenden Lebensläufe zum Diptychon eines west-östlichen Gesellschaftszustands, der die Menschen an den Gesellschaftsrändern verkommen lässt. Seidl hält nach wie vor stilisierten Naturalismus und eine Drastik des Zeigens für die Darstellungsmittel der Wahl. Es scheint aber, als gebe es diesmal eine andere Gewichtung. Er verharrt nicht bei der bloßen Denunziation der Verhältnisse (die von einer Denunziation der von den Verhältnissen gebeugten Menschen gelegentlich nicht zu unterscheiden war), sondern stellt mit Olga eine Figur ins Zentrum, der die Sympathien des Zuschauers fast schon zufliegen. Es müsste einer schon sehr hartgesotten sein, diese Manifestation eines bei Seidl bisher oft arg latenten Humanismus' nicht zu begrüßen. Gerade die Verbindung von Gnadenlosigkeit und Empathie macht "Import/Export" zu einem grandiosen Film.

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Matthew Vaughns Film "Der Sternenwanderer" hat ein wirklich vollständiges Desinteresse an der Darstellung unserer Gegenwarts-Wirklichkeit. Er ist jene reinste Form des Eskapismus, die mit gutem Grund Fantasy heißt. Gewiss schwingt sich das Genre in seinen besseren Momenten auch mal ins Allegorische auf, weist im glücklichen Fall hinaus auf mehr oder minder allgemein gültig Wahres über den Einzelfall eines Gnoms oder Hobbits hinaus. Es lässt sich manches hineinstecken in Fantasiefigurenarsenale und das Hineingesteckte als per Verfremdungseffekt funktionieriende Analyse wirklicher Verhältnisse wieder herausholen. Darum aber geht es "Der Sternwanderer" kaum. Es ist vielmehr ein Film, der einfach nur Spaß macht.

Eine Grenze gibt es auch hier, eine Mauer genauer gesagt, mit einer Lücke, vor der ein kampfsporterprobter älterer Herr als Zerberus sitzt. Hinter der Mauer ist das Hexen- und Zauberreich Stormland und hinüber zieht es, in der Vorgeschichte des Films, einen jungen Mann. Er trifft dort auf Bonsai-Elefanten und schwängert eine per verzauberter Kette an eine Hexe gekettete junge Frau. Dann kehrt er zurück und hält, nicht sehr viel später, das Ergebnis dieser fast nicht wahren Nacht jenseits der Mauer in Händen: Tristan (Charlie Cox), den Helden des Films.

Von den sich in diesem Film immerzu überschlagenden Ereignissen seien festgehalten: Ein Stern, der zu Boden geht, Frauengestalt annimmt (Clare Danes) und zum Liebesobjekt Tristans wird, den eigentlich eine andere Liebesgeschichte in die Fantasy-Welt verschlägt. Es stirbt ein Herrscher (Peter O'Toole), der keinen seiner sieben Söhne zum Nachfolger wünscht. Sie bringen einander denn auch der Reihe nach um, allerdings nur, um als Unterwelt-Chor einen belustigten und immer wieder auch sehr komischen Blick auf die Vorgänge zu werfen. Und es macht sich eine von drei aus "Macbeth" entliehenen Hexen auf, den niedergegangenen Stern an sich zu reißen, des ewigen Lebens wegen, das zu geben er verspricht. Diese Hexe, Lamia, wird von Michelle Pfeiffer gespielt, die einem den Atem raubt, nicht zuletzt, weil es in dieser Rolle vor allem um Jugend und Alter geht und um Schönheit, die schneller vergeht, als einem lieb sein kann.

Und dann ist da Captain Shakespeare, ein Piratenkapitän, auf dessen Luftschiff recht plötzlich und unerwartet das romantische Heldenpaar gerät. Shakespeare hat einen Ruf wie Donnerhall und unter Deck tanzt er in Frauenkleidern Cancan. Es spielt ihn Robert de Niro und wie schon Johnny Depp als Jack Sparrow stiehlt er allen die Show. Oder täte es, ginge die nicht in atemberaubendem Tempo immer weiter, mit einer zusehends hexischeren Michelle Pfeiffer, einer Liebesgeschichte, die gar nicht dazu kommt, Atem für Sentimentalitäten zu schöpfen, und einem Reichtum an Verwandlungszaubereien, der einem Augen und Ohren übergehen lässt.

Kurzum: "Der Sternenwanderer", nach einem Roman des als Comic-Autor ("Sandman") zu Ruhm gekommenen Neil Gaiman, ist sehr viel näher an Monty Python und Terry Gilliam als an monumentaler "Herr der Ringe"-Humorlosigkeit. Er ist unwichtig wie nur was. Und ein einziges Vergnügen für große und kleine Kinder.

Import/Export. Regie: Ulrich Seidl. Mit Ekateryna Rak, Paul Hofmann, Michael Thomas, Maria Hofstätter, Georg Friedrich, Natalija Baranova, Susanne Lothar und anderen. Österreich 2007.

Der Sternenwanderer. Regie: Matthew Vaughn. Mit Charlie Cox, Claire Danes, Robert De Niro, Sienna Miller, Michelle Pfeiffer und anderen.
Großbritannien / USA 2007.