Magazinrundschau

Ich mag einen kräftigen Downbeat

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
31.08.2010. Im Guardian erklärt John Gray, warum es genügt, Tariq Ramadan zu tolerieren statt zu respektieren. Das Magazin liest den neuen Roman von Bret Easton Ellis. Der New Yorker wendet sich ab vom Originalitätsdünkel. In El Pais Semanal feiert Wole Soyinka die befreienden Auswirkungen der Globalisierung. Magyar Narancs hält nichts vom französischen Burkaverbot. Die New York Times ruft: Hebe deine nördliche Hand und bewege dein südliches Bein ostwärts.

Guardian (UK), 28.08.2010

Der Ideengeschichtler John Gray hat Tariq Ramadans neues Buch "The Quest for Meaning" gelesen, in dem Ramadan eine Philosophie des Pluralismus zu begründen versucht. Meist ist Gray das alles zu wolkig, deutlich wird ihm aber Ramadans Wille, Toleranz durch Respekt zu ersetzen: "Die Vorstellung, Toleranz sei obsolet geworden, weil sie eine Position der Macht oder Überlegenheit voraussetzt, ist inzwischen Allgemeingut. Aber sie ist Unsinn, denn die Notwendigkeit der Toleranz rührt von etwas Tieferem als wechselnden Machtverhältnissen. Sie rührt daher, dass wir immer mit Ideen oder Menschen zu tun haben werden, die wir verabscheuen. Ramadan möchte dies ersetzen durch die edle Gesinnung gegenseitigen Respekts. Jeder von uns, schreibt er, muss akzeptieren, dass 'die Gegenwart des anderen in meiner eigenen Idee von der Welt sowohl eine Tatsache wie auch eine Notwendigkeit ist'. Ich bin mir nicht sicher, was dies bedeutet, aber wenn Ramadan vorschlägt, dass man, um abstoßende Ansichten zu tolerieren, sich in diejenigen einfühlen muss, die sie vertreten, liegt er falsch... Wenn wir die hassenswerten Ansichten von Holocaust-Leugnern tolerieren, liegt der Grund nicht darin, dass wir denken, diese Menschen hätten irgendeine Art moralischen Wert. Sondern weil die freie Meinung zu bedeutend ist, um sie um ihretwillen zu kompromittieren."

Besprochen wird außerdem die englische Ausgabe von F.C. Delius' "Bildnis der Mutter als junge Frau" (nachdem Nicholas Lezard seine Leser darauf vorbereitet hat, dass die Kontinentaleuropäer in ihrer Literatur eine "modernistische Tradition" pflegen, und sie ermuntert, sich davon nicht abschrecken zu lassen, lobt er Delius' "Ohr für Poesie".)
Archiv: Guardian

HVG (Ungarn), 18.08.2010

Scharf kritisiert der Journalist Gergely Fahidi die Strafrechtspolitik der neuen ungarischen Regierung, die von den USA inspiriert sei: harte Strafen für Bagatell-Delikte, die Einführung der in den USA praktizierten "Three Strikes"-Regelung und so weiter. Man sehe ja, wohin das in Amerika geführt habe - zu einer ungerechten Justiz, die vor allem afroamerikanische Männer in den Knast schicke. Besser sei es, nur Schwerverbrechen mit Gefängnis zu bestrafen und bei Bagatell-Delikten Wiedergutmachungen zugunsten des Opfers zu fordern: "Ist denn einem, dem die halbwüchsigen Nachbarskinder die Hühner geklaut haben, geholfen, wenn die Täter fortan die Gefängnisschule besuchen? Wäre es nicht besser, wenn sie für ihn irgendwelche Arbeiten im Wert der gestohlenen Tiere ausführen würden? ? Die heute mächtigen Führer der Regierungspartei Fidesz sind ungefähr in der Zeit zur Welt gekommen, als Martin Luther King seine Rede 'I have a dream...' hielt. Sollten sie in der Zwischenzeit immer noch nicht begriffen haben, weshalb die konservativen weißen Führer, die damals staatliche Gewalt anstelle von Integration favorisiert haben, gestürzt sind? Auch den Ungarn stehen früher oder später wütende, im schlimmsten Fall blutige Bürgerrechts-Kämpfe bevor, die durch eine 'noch härtere Hand' zwar für eine gewisse Zeit aufgeschoben, nicht aber vermieden werden können."
Archiv: HVG

Das Magazin (Schweiz), 28.08.2010

Daniel Binswanger bespricht den neuen Roman von Bret Easton Ellis, "Imperial Bedrooms". Es ist eine Fortsetzung des 1985 veröffentlichten Romans "Unter Null", mit denselben Helden, nur älter geworden, versteht sich: "Sie gehen nicht mehr mit älteren Typen ins Bett, um einfacher an ihre Drogen zu kommen. Sie sind jetzt die älteren Typen." In dem Roman herrsche "eine hoffnungslose Nüchternheit. Ellis arbeitet mit Wiederholungen und der Fixierung auf stereotype Erzählelemente, die schon immer seinen Stil charakterisierte. In 'Less Than Zero' waren es die Koks-Rituale, in 'American Psycho' die Designer-Labels, in 'Glamorama' die Gästelisten mit Celebrities. Im neuen Roman sind es die endlosen Autofahrten, die das Leben in L.A. bestimmen, die Mobiltelefone, mit denen ständig hantiert wird, deren Display sich illuminiert, weil eine Nachricht empfangen wurde, und die flüchtig ein Gesicht beleuchten, bevor es wieder im Dunkeln verschwindet. Ellis hat eine geniale Fähigkeit, die Codes der amerikanischen Populärkultur zu benutzen, um seine Obsessionen abzuarbeiten."

Außerdem berichtet Guido Mingels über die wachsende Mittelschicht Brasiliens, an deren Gedeihen der Konzern Nestle mitwirkt.
Archiv: Das Magazin

New Yorker (USA), 06.09.2010

Sasha Frere-Jones stellt die Soulgruppe Sharon Jones & the Dap-Kings vor, die sich dem Vermächtnis von James Brown verschrieben hat, und sinniert dabei über die hohe Kunst des Revivals. "Warum sich nicht vom Originalitätsdünkel lösen? ... Nur äußerst wenige Leute beschweren sich, dass 'Hamlet' jedes Jahr neu inszeniert wird. Warum also Musik anders betrachten als irgendeine andere Kunstform? Wenn die Autoren des Originals weg sind und wir uns einig sind, dass ihre Ideen in der vorliegenden Form perfekt sind, gibt es wohl kaum einen Grund, daran herumzupfuschen ... Man hat uns weitgehend beigebracht, darauf zu vertrauen, dass KünstlerInnen etwas Bedeutsames tun. Aber wir mögen eben auch, was wir mögen, und ich mag einen kräftigen Downbeat."

Weiteres: Jill Lepore bespricht das Buch "The Warmth of Other Suns: The Epic Story of America's Great Migration" von Isabel Wilkerson über die Great Migration, in der zwischen 1910 und 1930 sowie zwischen 1940 und 1970 Millionen Schwarzer aus den Südstaaten auf der Flucht vor Gewalt und Demütigungen und auf der Suche nach Arbeit Richtung Mittelwesen, Nordosten und Westen zogen und sich dort niederließen, und erinnert darin auch an Richard Wrights großartiges Buch "12 Million Black Voices: A Folk History of the Negro in the United States" von 1941. Anthony Lane sah im Kino "Soul Kitchen" von Fatih Akin ("Sich für diesen Film nicht zu erwärmen wäre kleinlich") und den Schwerter-und-Sandalen-Film "Centurion" von Neil Marshall. Ein kurzer Hinweis von Anthony Lane macht einem die Augen wässrig nach Carl Theodor Dreyers Film "Vampyr", laut Hitchcock der einzige Film, den man zweimal sehen sollte. (Mehr zu "Vampyr" in David Bordwells Buch "The Films of Carl Theodore Dreyer).

Zu lesen ist außerdem die Erzählung "An Arranged Marriage" von Nell Freudenberger und Lyrik von Cleopatra Mathis und Robert Wrigley.
Archiv: New Yorker

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.08.2010

Im Interview erklärt der Historiker Balazs Ablonczy, warum die Klagen über den Trianon-Vertrag von 1920, der Ungarn etwa zwei Drittel seines Territoriums kostete, wirklich ganz nutzlos sind und vor allem den ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten überhaupt nicht helfen: "Wenn wir in Europa oder im atlantischen Raum etwas erreichen wollen, dann müssen wir die Sprache der dortigen Entscheidungsträger sprechen: Diese Sprache ist heute eine Sprache der Menschenrechte, der Wirtschaft und durch und durch rational. Da kommt man mit historischen Argumenten nicht weit, auch wenn das einigen nicht passt. (...) Zudem sind die Legenden um Trianon, wenn sie zu historischem Bewusstsein werden, schädlich, weil sie eine Selbstreflexion verhindern. So bleibt es weiterhin unmöglich, die Konsequenzen aus dem Ersten Weltkrieg zu ziehen und überhaupt eine unserer größten nationalen Tragödien verstehen zu können."
Stichwörter: Trianon-Vertrag

El Pais Semanal (Spanien), 29.08.2010

Der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka spricht im Interview über die Bürde des Nobelpreises ("Die Frauen von Nobelpreisgewinnern sollten zusätzlich einen eigenen Preis bekommen - so eine Art Auszeichnung, wie sie Kriegerwitwen erhalten.") und die Globalisierung: "Sobald das Wort 'Globalisierung' fällt, reagieren viele Leute, als säße gleich der Teufel mit am Tisch. Meiner Ansicht nach ist die Globalisierung aber die schlichtweg unvermeidliche Folge der Tatsache, dass die Entfernungen so kurz geworden sind. Wie sollte es keine Globalisierung geben, wenn du irgendwo im Iran auf einem Minarett sitzen und von dort aus mit dem Rest der Welt kommunizieren kannst? Diese Tatsache hat trotz der traurigen Beschränkungen, die manche Gesellschaften von den anderen abschneiden, die Welt längst globalisiert. In gewisser Hinsicht erfahren auch so rückständige Länder und bösartige Regime wie der Iran die befreienden Auswirkungen der Globalisierung."
Archiv: El Pais Semanal

Magyar Narancs (Ungarn), 19.08.2010

"Jedes Gesetz, das die Unterdrückung der Frauen und religiösen Fundamentalismus verhindern hilft, muss unterstützt werden", meint die Soziologin Lena Pellandini-Simanyi. Das französische Burkaverbot sei aber kein solches Gesetz: "Die zentrale Schwachstelle der Gesetzesvorlage ist, dass sie nicht das eigentlich zu bestrafende Phänomen 'Gewalt innerhalb der Familie' bestraft, sondern das vermeintliche Symbol dieses Phänomens. Denn Niqab und Burka werden tatsächlich in vielen Fällen von Frauen getragen, die von ihrer Familie dazu gezwungen werden. In vielen anderen Fällen aber nicht. (...) Diese symbolische Jurisdiktion ist nicht nur moralisch unhaltbar, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch wirkungslos. Ist die muslimische Männerherrschaft und Tradition tatsächlich so stark, wie dies von den Gesetzgebern vermutet wird, werden sich Burka-Trägerinnen nach der Verabschiedung des Gesetzes nicht mehr auf die Straße wagen, wodurch ihre Isolation weiter zunehmen wird. Wenn wir die Gewalt gegen Frauen bekämpfen wollen, indem wir verbieten, mit blauen Flecken auf die Straße zu gehen, wird sich die Statistik der aufgeklärten Straftaten kaum verbessern, im Gegenteil."
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 29.08.2010

Unsere Muttersprache formt unser Denken. Der Linguist Guy Deutscher erklärt das im Magazine etwas genauer: Guugu Yimithirr, eine Sprache australischer Aborigines, kennt beispielsweise die Wörter "links", "rechts", "vorne" und "hinten" nicht. Sie benutzen keine egozentrischen Koordinaten, um einen Standort zu beschreiben, sondern geografische. "Rutsch ein Stück nach rechts" heißt "Rutsch nach Osten". Unnötig zu sagen, dass ihr Orientierungssinn fantastisch ist. Noch beeindruckender aber ist Deutschers Beispiel für die Sprache der Matses-Indianer in Peru. Wer in dieser Sprache über eine Tatsache berichtet, muss zwangsläufig immer genau sagen, woher er das weiß. "Man kann nicht einfach wie im Englischen sagen, 'hier ist ein Tier vorbeigelaufen'. Man muss mit unterschiedlichen verbalen Formen genau beschreiben, ob man das Beschriebene direkt miterlebt hat (man sah das Tier vorbeilaufen), es schlussfolgert (zum Beispiel aus Fußabdrücken), es vermutet (weil hier um diese Tageszeit immer Tiere vorbeilaufen) oder es von jemandem gehört hat. Wenn eine Aussage aufgrund inkorrekter 'Offensichtlichkeit' getroffen wird, wird sie als Lüge angesehen. Wenn man zum Beispiel einen Matses-Mann fragt, wieviele Frauen er hat, wird er bis zu dem Moment, in dem er seine Frauen tatsächlich sieht, in der Vergangenheitsform antworten und etwas sagen wie 'Als ich das letzte mal nachgesehen habe, waren es zwei'." Klingt, als würden die Matses akkurate Journalisten abgeben!

Die großartige Shirley Jackson (1919-1965) wurde in die "Library of America" aufgenommen. Joyce Carol Oates hat die Auswahl für den Band getroffen. Terrence Rafferty würdigt in der Book Review noch einmal Jacksons Werk, das mit "Schauergeschichten" nur sehr unzureichend beschrieben ist. (Vielleicht ein Anlass für Diogenes, die längst vergriffenen deutschen Übersetzungen wieder aufzulegen?) Jacksons Kurzgeschichte "The Lottery", die 1948 gut dreihundert empörter Leserbriefe an den New Yorker und Aboabbestellungen nach sich zog - es geht um eine Steinigung! - kann man hier gelesen von A.M. Homes hören. Die englische Wikipedia bietet eine ganz gute Zusammenfassung der Reaktionen. Aber bitte - erst selber lesen oder hören!

Besprochen werden weiter Milan Kunderas Essayband "Une Rencontre" (anders als Alain Finkielkraut vor gut einem Jahr im Nouvel Obs erwähnt John Simon in diesem Zusammenhang die Kundera-Affäre mit keinem Wort) und Jonathan Franzens neuer Roman "Freedom" (nach Michiko Kakutani ist Sam Tanenhaus der zweite Rezensent, der das Buch in der Times in den Himmel lobt, was die Bestsellerautorinnen Jodi Picoult und Jennifer Weiner zum Anlass nahmen, der NYT vorzuwerfen, sie feiere nur weiße, männliche Mittelklasseautoren. Alle Links zum Streit hat Heather Horn für The Atlantic gesammelt.)
Archiv: New York Times