Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2006. In der SZ beobachtet der Schriftsteller Chris Abani, wie Lagos süßes Öl blutet. Die NZZ fürchtet sich vor Yobs. In der Welt wundert sich der kanadische Magazinmacher Tyler Brule über das blinde Vertrauen der deutschen Medien auf Rostocker Hausfrauen. Die taz lauscht andächtig dem Strumpfmikrofon, das Zinedine Zidane im Film des Jahres trägt. Die FR lauscht dem neuen Arte-Chef Gottfried Langenstein.

NZZ, 29.12.2006

Yobs heißen die gewalttätigen Jugendlichen, die es in England offenbar mehr als anderswo gibt. Warum die Downer-Haushalte hier so viele Schläger und Schlimmeres produzieren, weiß auch Georges Waser nicht genau. "Übrigens fehlt in mehr als der Hälfte aller Downer-Haushalte ein Esstisch; wie der Gefängnisarzt Theodore Dalrymple bestätigt, haben viele der von ihm betreuten Insassen, die großenteils Scheidungskinder sind, noch nie mit jemandem ein gemeinsames Mahl eingenommen. Was in diesen Haushalten jedoch nicht fehlt, ist das Fernsehgerät - und diesem gibt Dalrymple einen Teil der Schuld an der Yob-Kultur. So sei ein Downer stets Programmen mit Celebrities ausgesetzt, mit Berühmtheiten wie Fussballern oder Fotomodellen." Hier kann man testen, ob man selbst ein Yob ist.

Auf der Filmseite gratuliert Peter W. Jansen dem englischen Filmregisseur Sir Carol Reed zum hundertsten Geburtstag, und Marc Zitzmann begeht feierlich den siebzigsten Geburtstag der wieder erstarkten Cinematheque francaise.

Besprochen werden eine "allzu selbstgefällige" Schau mit Produkten der italienischen Designfirma Driade in der Neuen Sammlung der Münchner Pinakothek der Moderne, Jan Klatas mit Deutschen und Polen besetztes Theaterstück "Transfer" über die gegenseitigen Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg, und Bücher, darunter Artur Klinaus autobiografische Erinnerungen an "Minsk" und Jörg Schweinitz' Untersuchung zu "Film und Stereotyp" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 29.12.2006

Den Auftakt einer Reihe über die zehn Megastädte der Erde bestreitet der Schriftsteller und Jazzmusiker Chris Abani mit einer ganzseitigen Hommage an Lagos. "Wenn Lagos ein Körper ist und die Ölpipelines, die im Zickzack hindurchlaufen, dessen Adern, dann sind die Bewohner der Stadt Vampire. Dieser Vampirismus ist neu. Es fing ganz langsam an. Irgendjemand bohrte irgendwo ein Loch in eine Pipeline, um ein wenig Öl zu stehlen, ein Fass hier, ein Fass da. Dann wurden es immer mehr, die Leute fingen an, wie hungrige Moskitos die Adern zu zerstechen, wobei sie immer größere Risiken in Kauf nahmen. Die Stadt blutete so lange dicken, süßen Rohstoff in Eimer, die verkauft und wieder verkauft wurden, bis sie rebellieren musste. Die Adern, die zu oft und zu schnell angezapft worden waren, fingen an zu explodieren. Wie ein Kranker, der seinen Körper vor einem tödlichen Virus zu retten versucht, begann die Stadt, ihre Parasiten, ihre Dämonen umzubringen. Jedes Jahr sterben Tausende in Lagos beim Ölstehlen. Die Stadt muss überleben."

Mit Wonne geht Holger Liebs dem künstlerischen "Fallensteller" Andreas Slominski im Frankfurter Museum für Moderne Kunst auf den Leim. "Zum Beispiel dieser handelsübliche Fußball in einem (fast) gähnend leeren Saal des Museums. Man möchte eigentlich gerne dagegentreten, weil das ein schönes Echo gäbe, wenn er gegen die Wand knallt und vielleicht einen runden Abdruck hinterlässt (Aktionskunst?). Man weiß aber, dass man das nicht darf, weil man sich in einem Museum befindet, und fragt also logischerweise: Was soll der Quatsch. Was man jedoch nur auf Nachfrage erfährt, ist die Tatsache, dass ein Kinderschädel in diesen Ball eingenäht sein soll, was wiederum laut einer kleinen Fibel den ethnologischen Verweis in sich birgt, dass die Kannibalen in Borneo auf ihre Kopfjagd verzichtet haben sollen, als das Fußballspiel bei ihnen etabliert wurde. Und wir wollten eben noch einen Volleyschuss wagen. Slominski hat uns also mal wieder ertappt."

Weiteres: In Rio de Janeiro soll Paulo Mendes da Rocha für die Schweizer Einrichtung "Daros-Latinamerica" ein ehemaliges Waisenhaus zu einem der größten Museen für zeitgenössische lateinamerikanische Kunst umbauen, berichtet Thomas Senne. Verwertbare Ergebnisse der Forschung mit embryonalen Stammzellen sind erst in mehr als zwanzig Jahren zu erwarten, betont SZ-Biopolitik-Experte Alexander Kissler in seinem industriekritischen Überblick zur Genforschung. Mit seiner Variation des "Zauberflöten"-Librettos hat der italienische Autor Alessandro Baricco Publikum und Kritik in Turin verärgert, meldet Henning Klüver. Lothar Müller vermisst die Comedy-Karriere von Edmund Stoiber. Frank Arnold spricht mit Denzel Washington über dessen neuen Film "Deja Vu".

Besprochen werden die Aufführung von Eugen D'Alberts Oper "Tiefland" unter Anselm Weber (Regie) und Sebastian Weigle (Musik) in Frankfurt, Cory und Todd Edwards' Animationsfilm "Die Rotkäppchen-Verschwörung", und Bücher, darunter Antonia Grunenbergs Geschichte der Beziehung zwischen "Hannah Arendt und Martin Heidegger" sowie Elizabeth Bowens Roman "In der Hitze des Tages" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 29.12.2006

Es ist der "Film des Jahres", behauptet Harald Fricke über Douglas Gordons und Philippe Parrenos Dokumentarfilm "Zidane". Herausragend nicht nur wegen seines Hauptdarstellers, sondern weil er 2005 die Vorlage für den Kopfstoß gegen Materazzi aufzeichnet. "Am 23. April 2005 waren die beiden Videokünstler mit insgesamt 17 Kameras im Stadion, um das Spiel zwischen Real Madrid und Villareal festzuhalten. Oder besser: einen einzigen Spieler während dieses Spiels festzuhalten - sämtliche Kameras waren ausschließlich auf Zinedine Zidane gerichtet. Aus einem Übertragungswagen gaben Gordon und Parreno ununterbrochen Anweisungen, ließen Close-ups auf das Gesicht von Zidane filmen, auf den Schweiß, der ihm unentwegt vom Kinn tropfte, oder auf seine drolligen Schlurfschritte zwischendurch. Es ist eine ebenso gründliche wie psychedelisch ausfransende Dokumentation. Ein Minimal-Art-Profil von Zidane, mit irrer Akustik, für die dem Fußballer ein Mikro an den Strumpf geheftet wurde, sodass jeder Ballkontakt wie ein Donnerschlag dröhnt. Dazu ein in Zeitlupe knirschender Soundtrack der Band Mogwai. Alles so weit in Ordnung, vom Kunstkontext aus betrachtet. Bis zur 85. Minute etwa. Denn da gerät Zidane im Toraus mit seinem Gegenüber, Quique Alvarez, aneinander, schubst ihn rüde - und sieht die Rote Karte."

Weitere Artikel: Tobias Rapp unternimmt einen Rundgang durch das Werk von James Brown in fünf Platten. Kirsten Küppers treibt sich immer noch am Nordkap herum. Für tazzwei haben Helmut Höge und Martin Reichert den Jungbauernkalender - mit Erotikfotos im Großformat - durchgeblättert.

Besprochen wird der Band "Die Verschwulung der Welt" von Rashid al-Daif und Joachim Helfer (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und nicht vergessen: Tom.

Welt, 29.12.2006

Auf der Medienseite porträtiert Joachim Bessing den Kanadier Tyler Brule, Gründer des Lifestylemagazins Wallpaper und des englischsprachigen Nachrichtenmagazins Monocle, das im Februar auf den Markt kommen soll. "Brules Ansichten zufolge haben die Verlagshäuser seiner Wahlheimat London noch immer nicht kapiert, dass diese Stadt mittlerweile von Menschen aus Europa, Asien, Australien und den USA bevölkert wird. Es ist ihm deshalb auch unverständlich, weshalb die vielfach gelobten britischen Tages- und Sonntagszeitungen dieser Internationalität nicht Rechnung tragen, sondern, wie er es feststellt: 'immer provinzieller werden. Aber der Banker aus Deutschland, der in London lebt, liest nicht das deutsche GQ, um sich über Modetrends auf dem Laufenden zu halten. Das Weekend Journal des Handelsblattes nimmt er nicht ernst.' Die größte Schwäche der deutschen Verlagshäuser sieht Tyler Brule in deren Vertrauen auf die Marktforschung: 'Man lädt ein paar Hausfrauen aus Rostock ein, schenkt ihnen Kaffee aus, serviert dazu Bahlsen-Kekse und fragt sie dann, was man drucken soll.' Mr. Brule interessiert sich nicht für Marktforschung."

Im Magazin erinnert sich der Schriftsteller Jan Koneffke an die Zeit, die er 1998 in Rumänien verbrachte. "August 1998: Erster Besuch bei meinen Schwiegereltern. Als wir vom Flughafen in die Stadt fahren, macht mich mein Schwiegervater auf ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert aufmerksam, in dem sich ein Spielcasino befindet. Der hitlertreue Botschafter von Killinger habe nach dem Bruch Rumäniens mit Nazideutschland in diesem Haus Selbstmord begangen. In den kommenden Wochen bezeichnen meine Gesprächspartner den 23. August 1944 ausnahmslos als den Tag, 'an dem wir euch verraten haben'. Alle sind der festen Überzeugung, die schlechte Presse Rumäniens in Deutschland verdanke sich diesem vergessenen 'Verrat'."

Im Kulturteil beschreibt Michael Pilz Kate Moss und Pete Doherty als die "interessanten Konsenskünstler" im Jahr 2006. Die beiden heiraten heute - vielleicht. Rainer Haubrich wartet gespannt auf den 17. Januar, an dem Bahn-Chef Hartmut Mehdorn vor dem Haushaltsausschuss des Bundestages erklären muss, warum das auf seine Anordnung hin verkürzte Dach des Hauptbahnhofs teurer ausfiel als das ursprünglich geplante lange Dach. Berthold Seewald erinnert der Siegeszug christlicher Äthiopier in Somalia an den Priesterkönig Johannes. Constanze Klementz resümiert die Situation der Tanzszene in Berlin. Stefanie Bolzen schreibt über Hermannstadt, die europäische Kulturhauptstadt 2007. Die Filmkritiker erinnern sich an die besten Filmszenen des Jahres 2006.

Besprochen werden vier Ausstellungen über die "Kaisermacher" des Heiligen Römischen Reichs.

FR, 29.12.2006

Im Interview mit Jan Freitag offenbart der neue Arte-Chef Gottfried Langenstein seine Pläne für den Sender: "Wir haben Globalisierungs- und Entwicklungsthemen in den Blick genommen. Auch Wissenschaft ist mir wichtig. Und wir müssen uns mit den Schlüsselfragen für Europas Zukunft beschäftigen: Wie sieht es in 50 Jahren mit unserer Umwelt aus? Wie leben wir in einer Welt der Überalterung das soziale Miteinander?"

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Jagoda Marinic unternimmt einen Streifzug durch europäische Nachbarländer, wo Nichtraucher inzwischen unbehelligt leben dürfen. In der Kolumne "Die sexuelle Frage" empfiehlt Volkmar Sigusch Ulrich Clements Ratgeber "Guter Sex trotz Liebe - Wege aus der verkehrsberuhigten Zone". In Times mager entfaltet Christian Schlüter am Beispiel des Prinzen Harry die Dialektik von Gesinnnungs- und Verantwortungsethik.

FAZ, 29.12.2006

Für den Aufmacher hat Andreas Kilb in Berlin einige Beraterinnen für Auswanderungswillige besucht und konstatiert mit Sorge, dass jährlich 145.000 bis 250.000 Deutsche der Heimat den Rücken kehren. In der Leitglosse greift Oliver Jungen den Streit zwischen Slowenien und Kärnten um den Karnburger Fürstenstein auf, der künftig die slowenische 2-Cent-Münze ziert. Jordan Mejias berichtet über den mäßigen Erfolg des Films "Death of a President" über die fiktive Ermordung von George W. Bush in den USA. Oliver Tolmein führt in Bundestagsdebatten um Sterbehilfe und die künftige bindende Kraft von Patientenverfügungen ein. Edo Reents gratuliert der Rocksängerin Marianne Faithfull zum Sechzigsten. Jürgen Kaube gratuliert dem Philosophen Hermann Lübbe zum Achtzigsten. Brigitte Kronauer schreibt zum fünfzigsten Todestag Robert Walsers. Gemeldet wird, dass das Haus Baden nach wie vor Millionen von Euro für angeblich in seinem Besitz befindliche Kunstschätze haben will.

Auf der Medienseite berichtet Peer Schader über Umstellungen in den Messverfahren zur Ermittlung der Fernsehquoten. Für die letzte Seite interviewt Hannes Hintermeier den Kontrabassisten Michael Bladerer von den Wiener Philharmonikern über die Tradition der Neujahrskonzerte. Andreas Rossmann meldet den Abschluss eines dreizehnbändigen Werks über die Heine-Rezeption zu Lebzeiten des Dichters. Und Christian Schwägerl porträtiert den amerikanischen Russland-Experten und Putin-Kritiker Clifford Gaddy von der Brookings Institution, der gerade in Berlin weilte.

Besprochen werden Cisco Aznars Choreografie von Delibes' "Coppelia" in Genf, eine Ausstellung mit Fotografien Lee Millers in Wolfsburg, eine Ausstellung über die Malerin Marie-Louise von Motesiczky in Frankfurt und Sachbücher, darunter eine Biografie des habsburgischen Kronprinzen Rudolf II., dessen letzte Tage heute Gegenstand einer Schmonzette in der ARD sind.

Auf drei Seiten werden die wichtigsten Kulturereignisse des Monats Januar aufgelistet.