Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2007. In der Zeit analysiert Jan Philipp Reemtsma unter Rückgriff auf Dostojewski Größenwahn, Machtgier und Lust an der Gewalttat bei der RAF. Und Peter Schneider zieht Parallele zwischen der RAF und Al Qaida. Im Tagesspiegel wendet sich die iranische Feministin Mina Ahadi gegen Toleranz für Islamisten. Die NZZ berichtet über den Fall der ägyptischen Feministin und Autorin Nawal as-Saadawi, die nach Morddrohungen von Islamisten ihre Heimat verlassen muss.

Zeit, 08.03.2007

Abgedruckt wird Jan Philipp Reemtsmas (mehr) Vortrag, in dem er mit Dostojewskis "Dämonen" die RAF zu erklären versucht: Er stößt bei den deutschen Terroristen auf den gleichen Avantgarde-Anspruch wie bei den russischen Anarchisten, die ihn durch nichts anderes behaupten als durch die Tat: "Der Vorwurf der RAF, der der nämliche war, den die Terroristen in den 'Dämonen' ihrem Umfeld machen - den der Feigheit nämlich -, weckte bei vielen das unbehagliche Gefühl: Die könnten recht haben. Deshalb, denke ich, fiel es vielen so schwer, die Wirklichkeit der RAF angemessen zu beschreiben: als eine Reihe sinnloser brutaler Gewalttaten. Um diese Unfähigkeit nicht eingestehen zu müssen, halten viele bis heute daran fest, das vermeintliche Politische an diesen Gewalttaten hervorzuheben, und nicht zu sehen, wie sehr die Taten der RAF von Größenwahn, Machtgier und Lust an der Gewalttat geprägt war."

In einem weiteren Essay im Politikteil sieht der Autor Peter Schneider auffällige Parallelen zwischen den islamischen Terroristen von heute und den Terrorgruppen der siebziger Jahre: Größenwahn, Todesbereitschaft und Eitelkeit. "Osama bin Laden gilt in weiten Teilen der muslimischen Welt als Che Guevara des Ostens. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass Osama bin Ladens Anhänger mit ihrem Vergleich gar nicht so falsch liegen, wie die empörte Che-Guevara-Gemeinde meint."

Die Autorin Juli Zeh berichtet von ihrer Reise nach China, in dem sie keineswegs "diszipliniert-kontrollierten Massen" begegnet ist, sondern einer "milden Alltagsanarchie": "Im Gespräch entpuppt sich das Land des Lächelns schnell als ein Land des herzhaften Gelächters... Den größten Lacherfolg ernte ich mit der Bemerkung, wie sehr sich die Deutschen vor der Wirtschaftsmacht Chinas fürchten. Dabei war das nun wirklich nicht als Witz gemeint."

Weiteres: Werner Bloch spricht mit dem irakischen Journalisten Ismael Zayer über die schwierigen und lebensgefährlichen Arbeitsbedigungen im Irak. In der Reihe zur "Zukunft der Natur" sieht Andreas Weber uns angesichts der Klimakatastrophe mit der Frage konfrontiert: "Was ist Leben, und welche Rolle spielen wir darin?" Christian Schüle erklärt uns den Erfolg von Stefan Raab mit der erfolgreichen Verknüpfung des Prinzips Blamage und des Kindergeburtstags. Tobias Timm möchte "zwei, drei, viele Kunsthallen" in Berlin sehen. Claudia Herstatt berichtet vom Kunstmarkt, dass Christie's und Sotheby's jetzt auch Galerien kaufen. Thomas Assheuer schreibt den Nachruf auf den Soziologen Jean Baudrillard.

Besprochen werden die Aachener Ausstellung "Gemaltes Licht" mit Stilleben des Willem Kalf, Wolfgang Engels "Wallenstein"-Inszenierung in Leipzig, Emilio Estevez' Robert-Kennedy-Film "Bobby" (den Diedrich Diederichsen als "lange öde Schauspielerparade" schmäht), das Album "No Pussy Blues" von Nick Cave und seiner Band Grinderman, Edmund Jacobys "Methen und Sagen des Norden" als Hörbuch und Captain Beefhearts Album "Trout Mask Replica" als moderner Klassiker.

Im Leben porträtiert Jana Simon den russischen Soldaten Arkadi Babtschenko, der in seinem Buch "Die Farbe des Krieges" von seinem erschütternden Erfahrungen im Tschetschenien-Krieg berichtet. Im Dossier berichten Anita und Marian Blasberg vom Leben des Edwin Asamoah, der illegal in Altona schuftet.

Tagesspiegel, 08.03.2007

Im Gespräch mit Caroline Fetscher nimmt die iranische, in Deutschland lebende Feministin Mina Ahadi auch auf die Multikulturalismus-Debatte im Perlentaucher Bezug und wendet sich gegen die Position Ian Burumas und Timothy Garton Ashs: "Wo bitte ist denn aktive Mäßigung zu erleben, frage ich nochmals. Europa zeigt sich nach wie vor tolerant gegenüber Intoleranz. Der Islam sei eben eine andere Kultur, heißt es, da gebe es andere soziale Regeln. Wenn ich so etwas von Politikern gesagt bekomme, auch in Deutschland, empfinde ich das als Zumutung. In erster Linie bin ich Staatsbürgerin und Frau, nicht Muslimin. Und als erwachsener Mensch habe ich das Recht, mich selbst zu definieren. Falsche Rücksichtnahme hilft uns politisch nicht weiter. Keine Frau will eine 'Kultur' der Erniedrigung, keine Frau wünscht sich Gewalt oder Vergewaltigung."

FR, 08.03.2007

"Die Schranke Urheberrecht wird immer mehr unter Druck geraten," schreibt Peter Michalzik stirnrunzelnd über das Buch-Digitalisierungs-Projekt "Google-Book-Search", für das vorläufig nur lizenzfreie Bücher digitalisiert werden sollen - im Augenblick die der Münchner Staatsbibliothek. "Irgendwann werden wir alle Bücher, auch die neuen, am Schirm haben wollen. Neben die Aufweichung des Urheberrechts tritt dann die Entwertung der Inhalte: Irgendeinen brauchbaren Inhalt finde ich im Netz immer, warum soll ich dann den nehmen, den ich aufwändig und kostenintensiv von einem Verlag erwerben muss?"

"Am besten wäre es, man könnte Karl Kraus variierend sagen: Zu Frauen fällt mir nichts ein", glossiert aus gegebenem Anlass Ina Hartwig in Times mager. "Aber es ist Frauentag, und solange eine solche Institution existiert, muss wohl etwas faul sein im Staate D."

Weitere Artikel: Ole Frahm feiert Popeye als eine der hässlichsten Comic-Figuren aller Zeiten. Harry Nutt schreibt zum Tod des französischen Philosophen Jean Baudrillard. Arno Widmann empfiehlt, individuelle Möglichkeiten des Wettermachens welt- und klimarettend einzusetzen. Außerdem beschreibt er die bewegende Feier im Kaisersaal des Frankfurter Römers zur Einweihung des Reich-Ranicki-Lehrstuhls für Deutsche Literatur an der Universität Tel Aviv. Der mexikanische Tenor Rolando Villazon, der am Samstag ein Konzert in Frankfurt gibt, erklärt uns im Interview, was eine Zarzuela ist. Und Jürgen Otten berichtet, wie die Leipziger Oper die Sanierungszeit mit Kleinprojekten überbrückt.

Besprochen werden Emilio Estevez' Robert-Kennedy-Film "Bobby", Marc Lawrences Achtziger-Jahre-Film "Mitten ins Herz"("eine auf höchst vergnügliche Art nichtsnutzige romantische Komödie", freut sich Daniel Kothenschulte), Alain Gsponers Film "Das wahre Leben" (für Michael Kohler "leider ein Paradebeispiel für den unausrottbaren mittleren Kinorealismus") und eine Martin-Honert-Ausstellung im Dresdener Lipsiusbau.

TAZ, 08.03.2007

Marius Babias berichtet vom Boom der rumänischen Kultur: "Rumänische Autoren und Künstler sind international gefragt wie nie. Suhrkamp hat soeben die Rechte an den Arbeiten des literarischen Jungstars Filip Florian gekauft. Der Filmemacher Cristi Puiu erhielt 2005 für 'Der Tod des Herrn Lazarescu' (mehr hier) einen Preis in Cannes. Seitdem gilt der rumänische Film unter Kritikern als Geheimtipp. In der Kunstszene zählen Dan Perjovschi und Mircea Cantor zu den Aufsteigern. Die Kultur ist die Putzkolonne des ökonomischen Umbaus der rumänischen Gesellschaft." Eine der interessantesten Blüten in dieser neuen Welt ist für Babias das Verlagshaus Idea Design & Print, das neben wichtigen Übersetzungen fremdsprachiger Autoren auch die Zeitschrift Idea: arta + societate herausbringt.

Weitere Artikel: Gleich drei mal wird Jean Baudrillard verabschiedet. Ines Kappert schreibt den Nachruf auf den französischen Philosophen. Niels Werber verteidigt die Baudrillardsche Theorie der Simulakren gegen Kritiker, und ZKM-Vorstand Peter Weibel erinnert sich an seinen Freund. Auf der Meinungsseite schreibt Marcia Pally über die lange Tradition erfundener Kriegsgründe. Die vorderen Seiten der taz sind ansonsten komplett "Miss Feminismus" gewidmet.

Besprochen werden Emilio Estevez' Episodenfilm "Bobby" (aus Sicht von Andreas Busche hat es kein Hollywood-Film bisher geschafft, "eine so treffende Psychotopografie des gegenwärtigen liberalen Amerikas zu entwerfen") und Volker Schlöndorffs neuer Film "Strajk - Die Heldin von Danzig" (Man spürt die "Überwältigungsstrategie, die Europa-Identität und deutsch-polnische Verständigung stiften will", meint Claudia Lenssen, die den Film dennoch nicht übel findet).

Und Tom.

Welt, 08.03.2007

Eckhard Fuhr besucht die zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Brüssel organisierte Ausstellung "Blicke auf Europa". Hendrik Werner schreibt zum Tod Jean Baudrillards. Ulrich Weinzierl dementiert in der Leitglosse das Gerücht, der Dackel sterbe aus. Johannes Wetzel nennt die Konditionen, zu denen Abu Dhabi eine Außenstelle des Louvre eröffnen darf - eine Milliarde Euro. Besprochen wird ein Auftritt der Arctic Monkeys in Berlin. Auf der Filmseite geht's unter anderem um Volker Schlöndorffs Solidarnosc-Film "Strajk", um Alain Gsponers Familienkomödie "Das wahre Leben" und um die romantische Komödie "Mitten ins Herz" mit Hugh Grant. Im Forum erinnert Michael Miersch an Bernhard Grzimek, der vor 20 Jahren gestorben ist.

NZZ, 08.03.2007

Fakhri Saleh berichtet über den Fall der ägyptischen Feministin und Autorin Nawal as-Saadawi, die wegen islamistischer Morddrohungen, aber auch auf Druck der Al-Azhar-Universität und des Staates ihr Land verlässt: "Nicht nur die Situation der Frauen nahm die couragierte Schriftstellerin ins Visier, sondern zunehmend auch die Apathie der ägyptischen und arabischen Intellektuellen, denen sie Defaitismus gegenüber der Staatsmacht und den Drohungen seitens konservativer Islamisten vorwarf. As-Saadawi sieht eine dichte Verfilzung zwischen arabischen Regimen und dem konservativen religiösen Milieu."

Weitere Artikel: Paul Jandl greift eine Provinzposse um das Kunsthaus Graz auf, dessen avancierte Ausstellungen (sehr hübsches Foto) nicht auf das Gefallen der Lokalpresse stoßen. Ulrich M. Schmid erinnert an den polnischen Schriftsteller Zygmunt Haupt, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden eine Ausstellung über zeitgenössische Bündner Architektur (die laut Roman Hollenstein "für ihre Kargheit und ihre handwerkliche Perfektion bekannt" ist) im Gelben Haus in Flims, die neue Platte von Nick Cave und ein Album der kanadischen Rockband Arcade Fire.

FAZ, 08.03.2007

Patrick Bahners kritisiert das Urteil des Bundesgerichtshofs, das Paparazzifotos nur noch zulässt, wenn ein "allgemeines Interesse" besteht. Hannes Hintermeier kommentiert die nun beschlossene Zusammenarbeit der Bayerischen Staatsbibliothek mit den Bücher-Digitalisierern von Google. In der Glosse überlegt Jordan Mejias was der Schuldspruch gegen den Cheney-Berater Lewis Libby für die zuvor verkündeten Hollywood-Pläne zur Verfilmung der Geschichte bedeuten mag. Joseph Hanimann schreibt den Nachruf auf den Philosophen und Kulturkritiker Jean Baudrillard. Gina Thomas hat ein spätes Bekenntnis Tony Blairs zur Bedeutung der Kultur gehört. Auf der Film-Seite preist Bert Rebhandl anlässlich des Lubitsch-Festivals in Berlin das Werk des Regisseurs als "Höhepunkt einer Kultur, in der Sex nicht nur an die Begierden, sondern an die Intelligenz geknüpft war". Andreas Platthaus bricht eine Lanze für den bisher wenig besprochenen Dokumentarfilm "Congo River".

Auf der letzten Seite berichtet Heidi Friedrich von der posthumen Verleihung des "Courage to Care"-Preises an den Unternehmer Ernst Leitz ("Leica"), der "bei der Flucht von mindestens einundvierzig Juden vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten half". Angela Heinick informiert über die Pläne für den "Louvre Abu Dhabi". Julia Bähr porträtiert den Ex-"Echt"-Sänger Kim Frank und hat auch seine erste Solo-CD "Himmelblau" gehört.

Besprochen werden die von Daniel Harding dirigierte und von Luc Bondy inszenierte "Salome" an der Scala, Emilio Estevez Film "Bobby", das Vorabkonzert der Arctic Monkeys zu ihrer neuen CD im Berliner Postbahnhof, und Bücher, Andrea Krafts Roman "Planet Novalis" und Richard Rayners Roman "Das dunkle Herz der Wüste" (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.03.2007

Volker Schlöndorffs Film über die Solidarnosc, "Strajk", ist eine Heldenballade geworden, schreibt Fritz Göttler. "Gerade das wird ihm zum Problem, diese Gradlinigkeit, mit der er die Geschichte durchzieht, die Folge seines intensiven Engagements, man kennt das schon aus 'Die verlorene Ehre der Katharina Blum'. Es irritiert auch diesmal, weil man all die Momente von Widersprüchlichkeit vermisst, von denen das Kino, das seine brechtianische Tradition nie verleugnete, lebt. Was großartig rüberkommt, ist die Faszination der Materie, von Stahl und Feuer, mit Kränen, die wie riesige Insekten die Decken der Werkshallen entlangkriechen - was einfach befreiend wirkt in Zeiten, da man manchmal übersättigt ist von wieseliger Computertricktüftelei. Schlöndorff filmt Enthusiasmus, eine Danzig-Sinfonie. Und kommt in diesen Momenten den Ursprüngen des Kinos ganz nah, zwischen Eisenstein, Vertov und 'Modern Times'."

Der Schriftsteller Richard Swartz schickt einen kleinen schönen Text über die Polen, die "immer schon anders" waren. "Ein wenig freier oder auch anarchistischer als andere Nationen, stolzer oder auch arroganter, ein wenig mutiger oder vielleicht, weil sie zwischen Russen und Deutschen eingezwängt waren, wirklichkeitsfremder als andere. Und ihre blühende Phantasie konnte manchmal leicht hysterisch wirken." Zu ihrem Selbstbild gehöre die Vorstellung, sie hätten mit der Solidarnosc den Kommunismus vernichtet. "Für ihre Nachbarn ist das nicht so eindeutig: Immerhin hatte Tito sich als erster gegen Moskau aufgelehnt, die Ungarn hatten als erste zu den Waffen gegriffen, und die Tschechen hatten gezeigt, dass der Realsozialismus sich nicht reformieren ließ. Weil es daran nichts zu reformieren gab: Wer das versuchte, der begann bereits, ihn abzuschaffen. Michail Gorbatschow musste 20 Jahre nach dem Prager Frühling genau diese Erfahrung machen."

Weitere Artikel: Andrzej Stasiuk schreibt über eine Reise nach Bosnien und eine Begegnung mit dem bosnischen Schriftsteller Nenad Velickovic. Zum heutigen Weltfrauentag haben einige Damen aus der Redaktion aktuelle Managements- und Soziologiestudien auf neuen Vorurteile Frauen gegenüber abgeklopft. Sonja Zekri berichtet, wie Alexander Solschenizyn einen fünfundzwanzig Jahre alten Text recycelt und auf Russlands aktuelle Situation umgemünzt hat: Das Land drohe in vorrevolutionäre Zustände zurückzufallen. Alex Rühle schreibt, dass der französische Popsänger Michel Polnareff, der 1974 nach Amerika floh, nun triumphal nach Frankreich zurückgekehrt ist. Anke Sterneborg hat mit Hugh Grant über seinen neuen Film "Mitten ins Herz" gesprochen. Holger Liebs porträtiert den Künstler Gregor Schneider und sein Hamburger Kaaba-Projekt. Angesichts der Promi-Initiative von Günther Jauch, Lea Rosh und anderen gegen David Chipperfields Neubau eines zentralen Eingangsgebäudes für die Berliner Museumsinsel stellt Jens Bisky fest: "Nirgends ist Demokratie so fehl am Platz wie in der Kunst, aber in keiner anderen Kunst hat das Laienurteil so großes Gewicht wie in der Architektur, der man nicht entrinnen kann." Thomas Steinfeld schreibt zum Tod von Jean Baudrillard.

Besprochen werden Joe Carnahans Actionthriller "Smokin' Aces" und Bücher, darunter Chuck Klostermans Roman "Fargo Rock City" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).