Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2007. Imre Kertesz warnt in seiner in der SZ abgedruckten Berliner Europarede: Das Jahrhundert von Auschwitz ist noch nicht vorbei. Slavenka Drakulic gibt ebenfalls in der SZ zu, dass sie bei der Nierenshow mitgemacht hätte, wenn man sie gefragt hätte. Aber diese Show war ein Fake, wie jüngste Meldungen bestätigen. In der NZZ denkt Dan Diner über die historische Zäsur des Sechstagekriegs nach. In der FAZ betont Ralph Giordano, dass er sich seine Meinungsfreiheit auch weiterhin nicht von den Bestimmungen der Scharia begrenzen lassen will. Die Welt besingt den "einzigartigen, wunderbaren Mr. Bloor", den Neuerfinder der Motorräder von Triumph (mit Dreizylindermotor). Auch in der FR wird neueste Technik besungen, und zwar von Martin Walser höchstpersönlich, der das CERN in Genf besuchte.

SZ, 02.06.2007

Die Autorin Slavenka Drakulic lebt selbst mit einer transplantierten Niere und gesteht unumwunden, dass sie an der holländischen Nierenspende-Show - von deren Inszenierungscharakter sie natürlich noch nichts weiß - aus Verzweiflung teilgenommen hätte. "Oh, wie einfach es doch ist, moralisch zu sein, wenn man gesund ist! Das war mein erster Gedanke, als ich von der holländischen BNN-TV-Sendung hörte und von der Empörung, die der Kampf auf Leben und Tod um eine einzige Niere weltweit ausgelöst hat. Wie schrecklich einfach es doch ist, zu sagen: Es ist demütigend, um sein Leben kämpfen zu müssen, es ist falsch, so eine Sendung zu machen, man darf das nicht, und ich würde bei so etwas nie mitmachen!"

Auf der Literaturseite ist die Rede abgedruckt, die Nobelpreisträger Imre Kertesz zum Auftakt des Kongresses "Perspektive Europa" hielt. Europa muss das Erbe des 20. Jahrhunderts, die Erfahrung des Totalitarismus annehmen, wenn es im 21. Jahrhundert überleben will, sagte er. "In Zeiten entmutigender, uns jede Hoffnung nehmender Allgegenwart totalitärer Geschichte ist das Wissen die einzig würdige Rettung, das einzige Gut. Nur im Lichte dieses erlebten Wissens sind wir in der Lage uns zu fragen, ob wir aus alledem, was wir begangen und erlitten haben, Werte schöpfen können - zugespitzt formuliert: Ob wir unserem eigenen Leben einen Wert beimessen oder es vergessen wie an Amnesie Leidende, vielleicht sogar wegwerfen wie Selbstmörder? Denn der radikale Geist, der den Skandal, die Schmach und die Schande zur Erbmasse des menschlichen Wissens macht, ist zugleich auch ein befreiender Geist, und er betreibt die restlose Aufdeckung der Nihilismusseuche nicht, um diesen Kräften das Feld zu überlassen, sondern im Gegenteil, weil er dadurch seine eigenen vitalen Kräfte reicher werden sieht."

Weitere Artikel: Kai Strittmatter resümiert eine Studie des Thinktanks European Stability Initiative ESI, die die angebliche Gleichberechtigung von Mann und Frau in der kemalistischen Türkei als Mythos entlarve: So hat erst die moderat islamistische Regierung unter Premier Erdogan ein neues Strafgesetzbuch verabschiedet, "das erstmals Vergewaltigung in der Ehe ebenso verfolgt wie Diskriminierung gegen unverheiratete oder nicht-jungfräuliche Frauen". Holger Liebs war unter den 800 Neugierigen, die auf Gregor Schneiders Kunstaktion im Magazin der Staatsoper Unter den Linden gespannt waren - und dann feststellen mussten, dass sie selbst die Aktion waren. Thomas Steinfeld erklärt, warum Johnny Depp als Pirat ein Hippie ist. Im Interview spricht der an der Carnegie Mellon School of Architecture lehrende Architekturprofessor Volker Hartkopf unter anderem über das klimatechnisch schlecht ausgestattete Häuser und über Landflucht in China.

Besprochen wird Luc Bondys "Lear" in Wien, den Christine Dössel zwar ein bisschen schwerfällig findet, der sie letztlich aber durch "Bescheidenheit" überzeugt.

Die SZ am Wochenende widmet sich heute der Ökologie. Im Aufmacher macht sich Wolfgang Roth dabei erst einmal über allerlei unausgegorene Weltklimarettungspläne lustig. Tobias Kniebe hat sich unter den Ökorittern von Hollywood umgesehen. Marie Pohl porträtiert Colin Beavan, der sich mitten in Manhattan für ein Jahr wie im 19. Jahrhundert eingerichtet hat, um möglichst wenig Müll und Schadstoffe zu produzieren. Antje Wewer klärt über organische Kleidung auf. Abgedruckt wird eine Erzählung von Carsten Otte, in der die Terroristen durch "Angreifer" abgelöst worden sind. Im Interview spricht der Biologe Marc van Rosmaalen darüber, warum er immer noch barfuß im Regenwald unterwegs ist.

Spiegel Online, 02.06.2007

Die holländische Nierenshow, die weltweit gläubige Empörung der Journalistenschaft auslöste, war ein Fake, meldet Spiegel Online mit versammelter Hilfe der Nachrichtenagenturen: "Der niederländische Sender BNN strahlte die Sendung, die international Kritik provoziert hatte, am Freitagabend aus - und verkündete in letzter Minute, dass die angebliche Nieren-Spenderin eine Schauspielerin ist. Nur die drei Kranken sind echt."

NZZ, 02.06.2007

In einem Essay für "Literatur und Kunst" versucht Dan Diner (mehr hier) den jetzt vierzig Jahre zurückliegenden Sechstagekrieg als historische Zäsur für Israel, aber auch für die arabische Welt zu beschreiben: "In der militärischen Niederlage der sich säkular, gar sozialistisch dünkenden arabischen Regime erkannten ihre islamischen, mehr noch ihre islamistischen Gegner den Willen Gottes. Die Niederlage Nassers aus israelischen Händen wurde paradoxerweise als ein Sieg des Islam interpretiert. Die Rückbildung des arabischen Nationalismus und das Aufkommen der allenthalben spürbaren Tendenz der Islamisierung gehen neben anderen Ursprüngen auch auf dieses Ereignis zurück." Diner erhofft sich eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts durch die saudiarabische Friedensinitiative.

Weitere Artikel in der Samstagsbeilage: Corinne Holtz erinnert an die szenische Uraufführung von Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aron" vor genau fünfzig Jahren in Zürich. Marco Frei konstatiert über die Oper, die einst als unaufführbar galt: "Das Werk hat sich durchgesetzt - trotz oder gerade wegen seiner fragmentarischen Gestalt." Und Christian Bührle lässt die große Zeit des Stadttheaters Zürich unter Karl Heinz Krahl Revue passieren, der die Uraufführung der Schönberg-Oper möglich machte. Außerdem unternimmt Steffen Richter einen Streifzug durch die italienische Kriminalroman-Szene. Und Andreas Breitenstein bespricht Aharon Appelfelds Roman "Elternland".

Im Feuilleton stellt sich der russische Autor Andrej Bitow die Frage, ob und wie sich bedeutende Literatur heute durchsetzen kann: "Helfen könnte der Kritiker, wenn er seinen merkwürdigen Beruf als begabter Leser erlangt hätte. Aber so ist das ja oftmals nicht. Der Kritiker ist an seinem eigenen, künstlich hochgezüchteten Raum orientiert." Klaus Englert besucht die Architekturbiennale von Rotterdam. Balts Nill gratuliert dem Schlagzeugerkollegen Pierre Favre zum Siebzigsten. Joachim Güntner zeichnet deutsche Diskussionen um das Versammlungsrecht vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm nach. Besprochen wird eine Installation von Yinka Shonibare im Pariser Musee du Quai Branly.

TAZ, 02.06.2007

Jörg Magenau denkt anlässlich aktueller Doping-Geständnisse über den Zusammenhang von Sport, Kultur und Moral nach. Dirk Knipphals hat in seiner Spreebogen-Serie das Schlimmste hinter sich: Zwischen vier und fünf Uhr gibt es im Hauptbahnhof den ersten Kaffee. Besprochen werden die große Franzosenschau aus New York in der Berliner Nationalgalerie und Emanuele Crialeses Film "Golden Door".

Für die zweiten taz hat Lorraine Haist Marilyn Manson getroffen, der offenbar Korrekturen an seinem "Schockrocker"-Image vornehmen will. Natalie Tenberg denkt - am Tag der Eröffnung der Metropolitan-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie - über die Lust aufs Schlangestehen nach.

Fürs taz mag hat Kolja Mensing Friederike Hausmann besucht - die Frau, die auf dem berühmt gewordenen Foto mit dem sterbenden Benno Ohnesorg zu sehen ist. In einem epischen Interview unterhält sich Robert Misik mit dem Ex-RAF-Terroristen Reinhard Pitsch, der an der Entführung des Wiener Industriellen Walter Palmers beteiligt war: "Na, Palmers hatte keine Todesangst. Wäre ich zynisch, würde ich im Pentagonjargon von Kollateralschäden reden. Wenn man beschließt, Widerstand zu leisten, kommt man automatisch in eine militärische Logik. Ist so." Rezensionen gibt es unter anderem zu Mathias Noltes Roman "Roula Rouge" und Uwe Soukops Recherche "Wie starb Benno Ohnesorg - Der 2. Juni 1967" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Berliner Zeitung, 02.06.2007

Thorsten Waldmann beschreibt in einem längeren Essay für das Samstagsmagazin die "Rückkehr der Gespenster" in Russland: "Schaltet man in diesen Tagen das russische Fernsehen ein, hört man wie zu Sowjetzeiten nur ein propagandistisch-chauvinistisches Gebell. Russland scheint mit allen Ländern und Völkern verfeindet zu sein - außer Nordkorea, dem Iran, Kasachstan, China, Indien, Venezuela und der Hamas."

Im Feuilleton porträtiert Wolfgang Fuhrmann die Mezzosopranistin Elina Garanca, die heute an der Berliner Staatsoper in Mozarts "La Clemenza di Tito" ihr Berliner Debüt gibt.

Welt, 02.06.2007

Die Literarische Welt fällt heute wegen des Druckerstreiks aus. Aber es gibt Ersatz: Im Wirtschaftsteil porträtiert Thomas Delekat den "einzigartigen, wunderbaren Mr. Bloor", Neuerfinder der Triumph. John Bloor, Brite, ungelernter Arbeiter, war mit einer Baufirma steinreich geworden und kaufte 1983 die Markenrechte von Triumph, weil er nicht wusste, wie er sein Geld sonst ausgeben sollte. Er stellte ein Team ein, darunter ein paar "frisch examinierte Maschinenbau-Studenten", die eine schlagende Idee hatten: ein Motorrad mit drei Zylindern. "Den überraschenden Brachial-Entscheidungen des Hauses Triumph ist anzumerken, dass sie nicht durch eine hierarchische Instanzen- und Gremienspirale durchkonferiert sind. 1995 etwa der Beschluss zur Speed Triple Typ T509, eine 108 PS starke, wendige, aber aggressiv hässliche Dreizylindermaschine. Ein Hooligan-Motorrad. Ein drahtig-muskulöses Drecksteil für abgefuckte Streetfighter - Triumph schob dieses Motorrad listig in die Nähe von Krawattenträgern, die gern den Knoten lockern und heimlich, ab und an, gern auch mal Kerle mäßig krass drauf wären." Und seitdem wächst Triumph und wächst und wächst...

Im Feuilleton erklärt Anselm Kiefer, dessen Einzelausstellung im Pariser Grand Palais gerade eröffnet wurde, warum er mit der Glaskuppel des Grand Palais nicht ganz glücklich ist. "Die Kuppel hier ist wie das Firmament. Das ist sehr schön, aber die Kunst muss geschützt werden. Die Kunst braucht eine Aura, eine Schwelle. Deshalb habe ich sieben Häuser gebaut - wie ich sie auch in Barjac gebaut habe. Es hat mich immer deprimiert, wenn ich meine Bilder in Museen wiedersah, von unsensiblen Kuratoren zusammengepfercht mit anderen Objekten oder in Privatsammlungen neben einer Zimmerpalme." Jörg von Uthmann liefert die Besprechung der Ausstellung.

Weitere Artikel: Ach, hätte Angela Merkel doch nicht so viele Leute nach Heiligendamm eingeladen, seufzt Jacques Schuster, denn die erfolgreichsten Gipfeltreffen der Geschichte fanden immer im kleinen Kreis statt. Berthold Seewald stellt nach einem Blick auf die Besucherzahlen der Berliner Museen fest, dass Berlin Hauptstadt des Historischen, nicht des Zeitgenössischen ist.

Besprochen werden die neue CD von Marilyn Manson, eine französische Inszenierung von Brechts "Baal" in Wien, die Konstantin-Ausstellung in Trier und Geschichtsbücher zu Trier.

FR, 02.06.2007

Gleich doppelt bereitet uns die FR heute auf die für 2008 avisierte Eröffnung des neuen gigantischen Teilchenbeschleunigers am Genfer CERN vor. Arno Widmann erläutert: "Erste Ergebnisse werden im Jahre 2009 erwartet. "Sie werden unser Weltbild verändern. Oder das der Theoretiker. ... Nach vier, fünf Jahren, in denen Trillionen Teilchen knapp unter Lichtgeschwindigkeit 100 bis 150 Meter unter der Erde herumgejagt wurden, werden wir genauer wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält."

Martin Walser war auch bei der Besichtigung vor Ort und notiert: "Die CERN-Wirklichkeit ist auch eine Fundgrube für Opernregisseure. 30 bis 40 Meter hohe, kreisförmige, mit Leitungen farbig übersäte Ungetüme, strotzend vor Technikmuskulatur. Aber in all dem habe ich doch noch zwei beträchtliche Rohrleitungen gesehen, die sich auch mir durch Aufschriften rätselhaft verständlich machten: eau mixte aller und eau mixte retour. Dazu zwei gegeneinander gerichtete Pfeile. Unsereinem wird alles Delphi."

Weitere Artikel: Horst Meier denkt über Internetstörche und die Logik der Überwachung nach. Den angekündigten Abgang der Frankfurter Schauspiel-Intendantin Elisabeth Schweeger kommentiert Peter Michalzik.

Besprochen werden die große Konstantin-Ausstellung in Trier, Anna Teresa de Keersmaekers zum Ende der Wiesbadener Maifestspiele gezeigte Choreografie "D'un soir un jour" und eine Frankfurter Inszenierung von Jordi Galcerans Stück "Die Grönholm-Methode".

FAZ, 02.06.2007

Auf den politischen Seiten erklärt Ralph Giordano, dass er trotz Morddrohungen weiterhin an seiner Kritik am Kölner Moscheebau festhält: "Ich werde meine Ansicht von Meinungsfreiheit auch nicht einem Ungeist anpassen, der sie so auslegt: 'Alle haben das Recht, ihre Meinung frei auf eine Weise auszudrücken, die der Scharia nicht zuwiderläuft.' Nein und dreimal nein!"

Im Feuilleton gratuliert Gerhard Stadelmaier dem Philologen Winfried Barner zum Siebzigsten. Tilmann Lahme berichtet über neue Details über Plagiatsvorwürfe gegen die "Tannöd"-Autorin Andrea Maria Schenkel. Mark Siemons schreibt zum frühen Tod der chinesischen Schauspielerin Chen Xiaoxu, die durch eine Fernsehrolle berühmt wurde. Jürg Altwegg liest Schweizer Zeitschriften, die sich mit dem Stellenwert der Schweizer Literatur auseinandersetzen.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um neue Bluesplatten, um eine Aufnahme von Händels Oratorium "Il trionfo tel tempo" unter der Dirigentin Emmanuelle Haim, eine Aufnahme mit drei Klavierkonzertmonstren von Schostakowitsch, Prokofjew und Liszt durch die gerade zwanzigjährige Pianistin Lise de la Salle und eine Hindemith-Klaviersonate mit Christian Seibert. Auf der Medienseite berichtet Jörg Bremer, dass jetzt ein Video mit dem entführten BBC-Journalisten Alan Johnston aufgetaucht ist, in dem der Reporter auf Geheiß seiner Entführer Israel und Großbritannien kritisiert. Auf der letzten Seite ergeht sich der einstige ND- und Junge Welt-Redakteur Harald Wessel in Reminiszenzen an das DDR-Kurbad Heiligendamm.

Besprochen werden die große Ausstellung über Kaiser Konstatin in Trier, Hörbücher mit Karl Valentin und eine "Fidelio"-Inszenierung durch Jürgen Flimm in London.

Die Beilage Bilder und Zeiten, die einen Essay von Marcel Reich-Ranicki zum hundertsten Geburtstag Mascha Kalekos enthält, kann wegen Druckerstreiks heute nicht erscheinen.