Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2007. In der taz unterstützt der Historiker Ulrich Herbert das Projekt einer großen Ausstellung über Zwangsarbeit. In der FR bekennt sich Timothy Garton Ash zum "Leben der Anderen". Die Welt fragt sich, ob die Buchmesse Frankfurt mittlerweile bedauert, Katalonien in diesem Jahr als Gastregion eingeladen zu haben. In der NZZ lässt der Arabist Tilman Nagel kein gutes Haar an Tariq Ramadans bisher nur auf Englisch erschienener Mohammed-Biografie "In the Footsteps of the Prophet".

TAZ, 12.06.2007

Im Interview mit Stefan Reinecke zieht der Historiker Ulrich Herbert eine positive Bilanz der jetzt abgeschlossenen Zwangsarbeiterentschädigung, die vor sieben Jahren für große Debatten in Deutschland und der Welt sorgte. Herbert befürwortet auch ein Ausstellungsprojekt zur Zwangsarbeit: "Ja. Wenn es in der 'Tagesschau' um Zwangsarbeit geht, wird das stets mit einem KZ-Häftling bebildert. Zwangsarbeit wird in Deutschland mit Auschwitz und Holocaust assoziiert, nicht mit Ausländerlagern in Duisburg, Karlsruhe oder dem Bayerischen Wald. Dass es zehn Millionen Zwangsarbeiter in Deutschland gab, ist kaum bewusst. Ebenso wenig wie fließend die Grenzen waren - von Kindermädchen in deutschen Familien bis zum KZ-Häftling in Dora."

Für die Feuilletonseite besucht Ines Kappert den erstmals eingerichteten Roma-Pavillon auf der Biennale in Venedig und findet eine Kunst, "in der die Lust an der Farbe, die Liebe zur Folklore, zum Kitsch und zum Eklektizismus beides ist: Ergebnis einer bis heute andauernden krassen Unterprivilegierung und selbstbewusster Ausdruck einer keineswegs allein über den erfahrenen Rassismus zu erschließenden nach vorne gehende Lebensweise".

Weitere Artikel: Andreas Busche interviewt den Direktor des Berliner Filmmuseums und der Stiftung Deutsche Kinemathek Rainer Rother zum Streit um das Fassbinder-Erbe. Helmut Höge versucht zu erklären, was es mit der "Mimese-Forschung" auf sich hat. Dirk Knipphals schreibt zum Tod von Richard Rorty.

Besprochen wird Jacques Palmingers Stück "Babylon Must Fall" im Berliner Prater.

Und Tom.

FR, 12.06.2007

Die FR veröffentlicht den gekürzten Nachdruck eines für die New York Review of Books geschriebenen Aufsatzes von Timothy Garton Ash, in dem dieser über Deutschland und die Stasi, Florian von Donnersmarck und "Das Leben der Anderen" nachdenkt. Er verteidigt den Film gegen seine eigenen Einwände als persönlich betroffener Historiker: "Ich sah den Film zum ersten Mal und war sehr ergriffen. Aber ich wandte auch, aus eigener Erfahrung, ein: 'Nein! So war es nicht. Alles ist zu bunt, romantisch, sogar melodramatisch; in Wirklichkeit war alles viel grauer, geschmackloser und banaler.' Aber diese Einwände gehören in einer wichtigen Hinsicht nicht zur Sache. Diese Sache ist, dass es sich um einen Film handelt."

Weitere Artikel: Sebastian Moll stellt John Powers' Stück "Disney in Deutschland" vor, das die Ideologien Walt Disneys und Adolf Hitlers als einander unangenehm nahe porträtiert. Im Interview spricht Esther Schapira über ihren Dokumentarfilm "Der Tag, als Theo van Gogh ermordet wurde". In einem Times Mager kommentiert Christian Thomas die neuen Initiativen zur Abwendung des Dresdener Waldschlösschen-Brücken-Debakels. Den Nachruf auf den Film- und Kunsttheoretiker Rudolf Arnheim hat Daniel Kothenschulte verfasst.

Besprochen werden ein Anselm-Kiefer-Ausstellung im Pariser Grand Palais, Thomas Ostermeiers Münchner Inszenierung von Fassbinders "Die Ehe der Maria Braun", Torsten Fischers Inszenierung von Goethes "Faust II" zum Beginn der Bad Hersfelder Festspiele und ein Buch, nämlich Mladen Dollars Studie "His Master's Voice" (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 12.06.2007

Stefanie Bolzen fragt sich, ob die Buchmesse Frankfurt mittlerweile bedauert, Katalonien in diesem Jahr eingeladen zu haben. Denn in Barcelona wird heftigst darüber gestritten, in welcher Sprache sich das Gastland präsentieren soll. "Auch die Schreibenden selbst tragen ihr Scherflein bei. Die Messe in Frankfurt sei ohnehin nur 'Zeitverschwendung', lästert der auf Spanisch schreibende Katalane Carlos Ruiz-Zafon, der mit 'Der Schatten des Windes' einen Welterfolg landete. Sein Katalanisch schreibender Kollege Sergi Pamies, einer der wenigen, die bereits eine offizielle Einladung nach Frankfurt haben, schlug diese aus. Die Gründe dafür könne er nicht nennen, 'sonst wandere ich gleich ins Gefängnis', verriet er im Radio. Er wolle sich vor keinen nationalistischen Karren spannen lassen, ließ er indirekt noch wissen. Aber ohnehin sei Frankfurt nicht besonders wichtig. Und Eduardo Mendoza, spanischer Bestseller-Autor, interessiert 'viel eher die Frankfurter Schule als die Frankfurter Buchmesse'."

Manuel Brug spöttelt über Rufus Wainwrights neues Album "Release the Star", auf dem der "letzte schwule Romantiker" Deutschland "mit der Seele sucht": "Das CD-Titelbild einer Göttin mit von der Geschichte weggefräßtem Gesicht vom Pergamonaltar strickt genauso an teutonischen Mythen wie im Booklet Rufus in der bayerischen Lederhose (mit Monogramm!) vor klassizistischem Kamin, Brandenburger Alleen und - dann endlich zum Hören - mit sanfter Molltunke betupfte Balladen über den 'Tiergarten' oder eine flötenumflirrte Hommage an 'Sanssouci': 'Who will be at Sanssouci at night? The boys that made me lose the blues and then my eyesight'. Damit dürfte alles erklärt sein."

Weiteres: Volker Tarnow jubiliert über den Abschluss der Neuen Bach-Ausgabe. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des Filmtheoretikers Rudolf Arnheim. Wieland Freund schreibt den Nachruf auf den Philosophen Richard Rorty, der seine Gedanken am liebsten in dem großen Raum zwischen den Stühlen entfaltete. Freund weist auch angesichts eines neues Harry-Potter-Leseturniers noch einmal darauf hin, welche Bedeutung das Buch für die Lesekompetenz in Deutschland hat.

FAZ, 12.06.2007

Konrad Adam rümpft die Nase über die SPD als Partei der besser verdienenden Parteigranden. Nicht den im Amt erworbenen Reichtum, sondern den Umgang damit, findet er oft degoutant: "In der Bedürftigkeit nicht mehr und im Überfluss noch nicht zu Hause, neigen sie dazu, ihre Sitten und Gebräuche, die gesellschaftlich, wie Hannah Arendt einmal gesagt hat, 'vielleicht gerade noch tragbar sind', auch dem politischen Körper aufzudrücken. Das macht den Aufsteiger so unangenehm. Und die Distanz zu ihm zu einer Frage des Geschmacks."

Weitere Artikel: Edo Reents staunt in der Glosse über den Aufwand, den Heinrich Breloer mit seiner "Buddenbrooks"-Verfilmung treibt. Über die in diesem Jahr mit dem New Yorker Tony-Theaterpreis ausgezeichneten Stücke informiert Jordan Mejias - am erfolgreichsten: eine Broadway-Inszenierung von Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen". Paul Ingendaay weiß zu berichten, dass die Autoren Kataloniens, diesjähriger Buchmessengast, auf den Frankfurt-Besuch nicht sonderlich scharf sind. Patrick Bahners gratuliert dem Historiker Michael Mitterauer zum Siebzigsten. Ausgesprochen kurz fällt der Nachruf auf Afrikas bedeutendsten Filmregisseur Ousmane Sembene aus, länger der auf den im Alter von 102 Jahren verstorbenen Kunstpsychologen und Filmtheoretiker Rudolf Arnheim.

Für die letzte Seite hat sich Timo Frasch auf die Spuren einer Privatdetektei begeben. Julia Bähr porträtiert das Wahl-Kreuzberger Musik-Idol Muhabbet. Im Update informiert Gislind Nabakowski, dass ein vom Underground-Comic-Künstler Robert Crumb bekämpfter Supermarkt in seinem südfranzösischen Wahlheimatdorf nicht gebaut wird.

Auf der DVD-Seite werden unter anderem eine Box mit Filmen von Volker Koepp und - von Regisseur Dominik Graf - der eher unbekannte Andrzej Wajda-Film "Lotna" empfohlen. In einer "Kunstmarkt"-Beilage findet Rose-Marie Gropp, dass die Verkaufsmesse Art Basel angesichts des schwachen Venedig-Jahrgangs die "bessere Biennale" sein kann.

Besprochen werden die von Deborah Warner inszenierte, vom neuen Musikdirektor Edward Gardner dirigierte Aufführung von Benjamin Brittens Oper "Death in Venice" an der English National Opera, und ein Buch, nämlich Tschingis Aitmatows Roman "Der Schneeleopard" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 12.06.2007

Kein gutes Haar lässt der Arabist Tilman Nagel an Tariq Ramadans bisher nur auf Englisch erschienener Mohammed-Biografie "In the Footsteps of the Prophet". Sie sei "ganz und gar dem überkommenen muslimischen Mohammed-Schrifttum verpflichtet" und stütze sich vor allem auf "Ibn Hischams (gest. 828 oder 833/34) Überarbeitung der Propheten-Vita Ibn Ishaqs (gest. 767)". Worum es Ramadan dabei gehe, deutet Nagel so: "Der Verlust der Kompetenz zur Weltdeutung, den die muslimische Gelehrsamkeit im Zuge des Vordringens der Moderne erlitt, soll in trotzigem Auftrumpfen überspielt werden: Der Islam ist die Lösung, er gewährleistet den Genuss der Früchte der Moderne und wehrt zugleich die damit verbundenen unangenehmen Nebenfolgen ab. Ebendies ist der Kerngedanke Ramadans; den Muslimen soll er Zuversicht einflößen, und den Andersgläubigen und den Atheisten, sofern sie von Zivilisationsmüdigkeit und Gewissensbissen ob ihrer Zugehörigkeit zum 'Westen' geplagt werden, soll er einen Weg zur Befreiung von ihrer Pein vor Augen führen: den Übertritt zum Islam."

Uwe Justus Wenzel verabschiedet den Philosophen und "compassionate liberal" Richard Rorty.

Besprochen werden eine Ausstellung über Chinas architektonischen Gigantismus in der Architekturakademie Mendrisio, eine Schau des Fotografen Eugene Atget in der Pariser Nationalbibliothek und Bücher, darunter späte Essays von Joachim Fest "Bürgerlichkeit als Lebensform" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 12.06.2007

Einen ganz unbarocken, virtuos redigierten Grass hat Lothar Müller im New Yorker gelesen, wo aus der gehäuteten Zwiebel ein stark reduzierter Fond gekocht wurde: "Der Text 'How I spent the war' ist nicht der Vorabdruck eines Kapitels aus dem Buch von Grass. Er ist eine atemberaubende Strichfassung, die ihr dreizehnseitiges Kondensat aus über hundert Druckseiten (75-181) des deutschen Originals gewinnt. Ihr Ehrgeiz ist: den Kern der Zwiebel zu bewahren. Und nur ihn. Kühn streicht sie die Metapher der Zwiebel und den gesamten epischen Apparat des Verkapselns und Herausschälens. Virtuos handhabt sie das Messer, mit dem sie hier einen Halbsatz, dort zwei ganze Sätze oder ganze Seiten wegschneidet."

Sonja Zekri zeichnet ein Stimmungsbild von Algier, das zur Zeit viel Geld ausgibt, um nach den Traumata des islamistischen Terrors als Kulturhauptstadt Arabiens zu brillieren: "Algeriens Intellektuelle drängen Besuchern ihre Albträume nicht auf. Beiläufig erwähnen sie Todeslisten, gescheiterte Anschläge, dezimierte Institute, Exil und Mord. Es gibt keine publizistische Debatte, keine Prozesse gegen die Sicherheitskräfte, denen Menschenrechtler Verbrechen vorwerfen, keine Wahrheitskommission wie im benachbarten Marokko."

Weitere Artikel: Claus Heinrich Meyer vermisst in der "Zwischenzeit" die dank rationaler Ticketorganisation verschwundene Menschenschlange vor der Impressionisten-Ausstellung in Berlin. "zig" stellt einen gummihaft wirkenden Hochhausentwurf des österreichisch-münchnerischen Architekten Peter Ebner für Moskau vor. Michael Diers schreibt den Nachruf auf den deutsch-amerikanischen Kunst- und Bildtheoretiker Rudolf Arnheim. Christian Jostmann gratuliert dem Historiker Michael Mitterauer zum Siebzigsten. Wolfgang Schreiber bringt eine Meldung über andauernde Bestrebungen Klaus Wowereits, die Staatsoper in die Obhut des Bundes zu geben. Fritz Göttler schreibt zum Tod des senegalesischen Filmregisseurs Ousmane Sembene.

Auf der Literaturseite schreibt Tobias Lehmkuhl zum Tod des Lyrikers und Übersetzers Michael Hamburger. Eine ganze Beilage wirbt für die beginnenden Opernfestspiele in München. Auf der Medienseite berichtet Christopher Keil über Ärger bei Spiegel TV, und Caspar Busse meldet, dass Holtzbrinck die Gratiszeitung Business News einstellt.

Besprochen werden die große Konstantin-Ausstellung und Nebenereignisse in Trier, Jonathan Harveys "Wagner Dream" an Amsterdams Oper und Thomas Arslans Film "Ferien".