Heute in den Feuilletons

"Vielvölker-Offenheit mit deutscher Tiefe"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2007. Die FAZ schildert eine bizarre Reise von Staatssicherheits-Kadern a.D. ins süddänische Odense. Die Welt greift eine Recherche über eine Nacht im Fouquet's auf, in der ein düsterer Nicolas Sarkozy seinen Sieg im Präsidentschaftswahlkampf und seinen Abschied von Cecilia beging. Die taz feiert den rumänischen Film. Die FR blickt mit Wassili Grossman in die Abgründe des Totalitarismus. Für die SZ ist das Nationale in der Musik ein abgehalfterter Begriff. Außerdem fordert sie eine kulturpolitische Grundsatzdebatte in Deutschland.

TAZ, 20.11.2007

Als späte Befreiung und noch dazu interessantes Weltkino feiert Bert Rebhandl den rumänischen Film, der die Welt des Postkommunismus mit den Mitteln des Neorealismus einfängt. Am Donnerstag kommt Cristian Mungius Cannes-Sieger "Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage" in die Kino, doch Rebhandls Favorit ist "California Dreamin (Endless)" von Cristian Nemescu. "Der Regisseur starb kurz nach Fertigstellung des Films bei einem Verkehrsunfall, noch keine dreißig Jahre alt. In der Provinzstadt Capalnita kommt 1999 ein Zug an, der in geheimer Mission unterwegs ist. Ein Radarsystem soll in den Kosovo gebracht werden, um die amerikanische Luftwaffe im Krieg gegen Serbien zu unterstützen. Je ein Trupp amerikanischer und rumänischer Soldaten begleitet den Zug, nur die entsprechenden Zollpapiere fehlen, sodass sich der lokale Bahnhofsvorsteher genötigt sieht, dem Zug die Weiterfahrt zu verweigern. Er wird auf ein Nebengleis geschoben."

Weiteres: Isolde Charim unterhält sich mit dem Identitätsforscher Homi K. Bhabha über die Bedingungen, unter denen Menschen verschiedener Herkunft erfolgreich zusammenleben können. Adrienne Woltersdorf erklärt, dass die streikenden amerikanischen Drehbuchautoren um die digitalen Verwertungsrechte kämpfen. Wolfgang Ullrich prophezeit, dass bald kein Produkt mehr auf Placebo-Effekte verzichten kann.

In der zweiten taz fragt sich Jan Feddersen, wie Celine Dion funktioniert. Im Medienteil glaubt Jenni Zylka, dass ARD und ZDF mit ihrem YouTube-Angebot zwar keine Furore machen werden, aber vielleicht etwas lernen können.

Und Tom.

Welt, 20.11.2007

Der Autor und Historiker Manfred Flügge greift ein Buch zweier französischer Journalistinnen über die düstere Siegesfeier des frisch gewählten Nicolas Sarkozy im "Fouquet's" an den Champs-Elysees auf. "Die Gästeliste des Abends umfasste Fernseh- und Zeitungschefs, führende Unternehmer, Film- und Sportstars. Die Auswahl lag in den Händen von Cecilia Sarkozy, deren Gunst oder Abneigung auch Konsequenzen für die Bestimmung des politischen Personals hatte. Zur Feier selbst aber erschien sie nicht, wie sie schon den Gang zur Wahlurne gescheut hatte. Sie hat diesen Präsidenten nicht gewählt. An der Place de la Concorde wartet an jenem Abend eine Menschenmenge auf den Wahlsieger, der im 'Fouquet's' auf eine Frau wartet, die nicht erscheint. Der künftige Präsident brütet vor sich hin, finster wie Napoleon nach einer nutzlosen Schlacht. Wie ein Jugendlicher vor seinem Spieltelefon starrt er auf seinen Blackberry, wartet auf Botschaften, die nicht kommen, während Cecilia in ihrem Hotel vermutlich dasselbe tut..."

Weitere Artikel: Michael Pilz besucht die von der Birthler-Behörde organisierte und zur Zeit in Rostock gezeigte Ausstellung "Gelenkte Frei-Zeit" und knüpft daran einige Gedanken über DDR-Nostalgie selbst bei Jugendlichen, die diese Zeit gar nicht mehr kannten. Wolf Lepenies misst in der Leitglosse die groß verkündeten Fortschritte im deutschen Bildungswesen an der Realität in den Universitäten mit ihren notorisch überfüllten Hörsälen. Mariam Lau unterhält sich mit der Comicautorin und -zeichnerin Marjane Satrapi über ihr jetzt verfilmtes Iran-Epos "Persepolis". Gerhard Midding erinnert an den französischen Regisseur Georges Clouzot und empfiehlt einige DVD-Kassetten mit seinen Filmen. Kai Luehrs-Kaiser gratuliert dem Tenor Rene Kollo zum Siebzigsten. Und Uwe Schmitt stellt das Popduo The Swell Season vor, das zur Zeit die Amerikaner begeistert.

Besprochen werden die Ausstellung "Luxus und Dekadenz - Römisches Leben am Golf von Neapel" in Haltern am See und ein "Rienzi" in Leipzig.

Das Forum der Welt bringt das Requiem Rainer-Maria Rilkes auf Paula Modersohn-Becker, die heute vor hundert Jahren im Kindbett starb.

Und auf der Magzinseite stellt Thomas Gerlach in einer interessanten Reportage die Website Stasi-in-Erfurt.de vor, auf der alle ehemaligen konspirativen Treffpunkte der Stasi in der Stadt verzeichnet sind - und das sind verdammt viele. Der Initiator Joachim Heinrich beobachtet übrigens, "dass die damalige Häufung von konspirativen Wohnungen in bestimmten Stadtvierteln noch heute nachwirkt. Da wo besonders viele konspirative Wohnungen eingerichtet wurden, erfährt die PDS breite Zustimmung - 'Persistenz politischer Substrukturen' nennt das Heinrich."

FAZ, 20.11.2007

Von einer bizarren Reise von Staatssicherheits-Kadern a.D. ins süddänische Odense erstattet Matthias Hannemann Bericht. "Ein Dutzend hochrangiger Stasi-Offiziere und Agenten wurde am Wochenende nach Dänemark geladen, nachdem im Sommer die ausgerechnet für den 17. Juni angesetzte Zeitzeugen-Tagung in Berlin abgeblasen werden musste. Es kamen einige mehr, zwei Busladungen voll, lehrbuchhaft organisiert und offenkundig im Proporzverfahren gemäß den alten Abteilungen der 'Hauptverwaltung Aufklärung' geordnet. Selbst Wolfgang Schwanitz schob sich still in den Hörsaal in Odense, der Nachfolger Erich Mielkes, mit einem triumphalen Lächeln auch er. Mission completed. Wenn jemand ernsthaft geglaubt hatte, in Odense könne seriöse wissenschaftliche Arbeit, 'oral history', betrieben werden, dann zerstob diese Hoffnung angesichts der Stasi-Hundertschaft, die auf den letzten Bänken Platz nahm und Butterbrote auspackte."

Weitere Artikel: Der türkische Historiker Fikret Adanir rekapituliert die Geschichte des Kemalismus, um aus ihr die soeben wieder einigermaßen beruhigte Kurden-Krise verständlich zu machen. In der Glosse wäscht Jochen Hieber die schon seit sechsunddreißig Jahren schmutzige Wäsche der Herren Wolf Biermann und Florian Havemann. Joseph Hanimann berichtet von überwiegend positiven Reaktionen bei Publikum und Kritik auf Fatih Akins in Frankreich gerade angelaufenen Film "Auf der anderen Seite" (unsere nicht so positive Reaktion hier). Jürgen Kesting gratuliert dem Tenor Rene Kollo zum Siebzigsten. Sven Beckmann und Michael Marek stellen die umstrittene neue Zürcher Fifa-Zentrale vor. Jürgen Kaube porträtiert den Sozialanthropologen Steven Vertovec, einer von drei Leitern des gänzlich umstrukturierten Göttinger "Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften" (vormals: "für Geschichte"). Auf der Forschung-und-Lehre-Seite schildert der seit kurzem in Bochum lehrende Historiker Stefan Plaggenborg aus eigener Anschauung die, wenn man ihm glauben darf, wahrhaft aberwitzige Abwicklung der Osteuropa-Geschichte in Marburg.

Auf der Medien-Seite informiert Matthias Rüb über die in den USA gewonnenen, in der FAZ bislang eher nicht populären Erkenntnisse zur Zukunft der Zeitung: "Dass die Online-Auftritte das Zeitungsgeschäft kannibalisierten, das fürchtet offenbar niemand mehr. So langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass sie zu stärken den Zeitungen nutzt, auch wenn man um junge Leser, Auflagen und Marktanteile mehr kämpfen muss denn je."

Besprochen werden die von einem britischen Team aus Regisseur Richard Jones, Bühnenbildner Antony MacDonald und dem Dirigenten Paul Daniels auf die Bühne gebrachte Britten-Oper "Billy Budd" (ein "großer Wurf", schwärmt Wolfgang Sandner), ein neues Album mit Musik der Komponistin Isabel Mundry, ein Kölner Konzert von Roisin Murphy, eine Oscar-Niemeyer-Ausstellung an der ETH Zürich, die große Tropen-Ausstellung im Centro Cultural do Brasil in Brasilia und Bücher, darunter Jochen Hörischs Essayband "Das Wissen der Literatur" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 20.11.2007

Fast fünfzig Jahre nach seiner Entstehung ist Wassili Grossmans Roman "Leben und Schicksal" (hier eine Leseprobe) nun erstmals eine vollständige und damit mehr als tausendseitige deutsche Fassung vor. Olga Martynova kann ihn nur empfehlen, unfassbar, von welch "innerer Befreiung" dieses Werk des einst linintreuen Kommunisten zeugt: "Grossman untersucht schonungslos ehrlich die Situation, in die er selbst geraten war. Kurz vor Stalins Tod wurden nämlich die berühmtesten Künstler und Wissenschaftler jüdischer Abstammung gezwungen, der spätstalinistischen antisemitischen Hetzkampagne per Unterschrift zuzustimmen. Unter den Unterzeichnern: Wassili Grossman."

Weiteres: Eva C. Schweitzer bringt einen Lagebericht vom andauernden Streik der Drehbuchautoren in den USA. An der Dresdner Waldschlösschenbrücke haben nun trotz gefährdeter Hufeisennase die Bauarbeiten begonnen, meldet Bernhard Honnigfort. Guido Fischer resümiert das Kölner Festival "Musik der Zeit". In der Times mager spekuliert Hans-Jürgen Linke über Fahrradkuriere.

Besprechungen widmen sich Richard Jones' "eminent gelungener" Inszenierung von Benjamin Brittens Oper "Billy Budd" nach Herman Melville in der Oper Frankfurt, James Goldmans "Der Löwe im Winter" in einer Version von Grzegorz Jarzyna am Wiener Burgtheater, und die Erinnerungen der kommunistischen Philosophin Rossana Rossanda.