Heute in den Feuilletons

"Was kennt denn Ostermeier von der Welt?"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2007. Die SZ findet: Dass der Charakter der Auftragskunst heute gern geleugnet wird, macht die moderne Kunst besonders anfällig für servile Gesten. In der FR fragt Leander Haußmann: Was kennt denn Thomas Ostermeier von der Welt? Die NZZ fragt: Warum lässt die kommunistische Partei Indiens Taslima Nasrin im Stich? In der Welt warnt Bernard Lewis: eine Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge käme der Zerstörung Israels gleich. Die Times berichtet, dass die Selbstzensur in den Hirnen selbst der größten Provokateure bestens funktioniert - wenn es um den radikalen Islam geht.

FR, 28.11.2007

Regisseur Leander Haußmann spricht im Interview nicht über seinen neuen Film "Warum Männer nicht zuhören ...". Dafür erklärt er, warum er nicht ewig Theaterregisseur sein wollte: "Alle Theaterregisseure, die länger als 20 Jahre in dem Job arbeiten und ihren Lebensstandard halten wollen, müssen pro Jahr wenigstens zwei Inszenierungen machen. Die sind aber auf die Dauer nicht vorzubereiten. Erst arbeitet man ja alles ab, was man kennt oder mal gelesen hat. Dann muss man sich neu orientieren. Das hat Stefan Bachmann ganz gut gemacht, der, obwohl er Oberspielleiter in Basel geworden war, Pausen machte und um die Welt gefahren ist. Was kennt denn Thomas Ostermeier von der Welt? Der hat doch nur in seinem Theater gehockt. Woher nimmt er die Welt, von der er erzählt?"

Weitere Artikel: Arno Widmann denkt über das Verhältnis von Ehre und Schuld für eine Lösung im Nahostkonflikt nach. "Ehre und Schuld mögen die falschen Kategorien sein, aber allein der israelische Verhandlungspartner, der offen anspricht, dass nicht nur die Juden teuer bezahlt haben für die Errichtung des Judenstaates, wird Aussichten haben, von den Palästinensern gehört - und auch akzeptiert - zu werden." Und in Times mager berichtet Widmann über einen Diskussion zwischen Rossana Rossanda, der 83-jährigen Gründerin der linken Tageszeitung Il Manifesto, und Daniel Cohn-Bendit über Kommunismus.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Dichterin Mascha Kaleko im Literaturhaus Berlin, ein Konzert von Al Jarreau und der NDR-Bigband in der Alten Oper Frankfurt und ein Aschaffenburger Konzert des türkischen Pianisten Fazil Say sowie Bücher, nämlich das Buch "Die Bibliothek bei Nacht" von Alberto Manguel und John von Düffels Vater-Roman "Beste Jahre" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 28.11.2007

Tagelang wurde die im indischen Exil lebende, bangladeschische Islamkritikerin Taslima Nasrin von radikalen Muslimen durch das Land gejagt. Für die Kampagne, die zuerst in Nasrins Wahlheimat, im westbengalischen Kalkutta, aufbrandete, sieht Kersten Knipp mehrere Gründe, einen erklärt er so: "Der Vorwurf, den die Kommentatoren den Landesregierungen von Westbengalen und Rajasthan machten, war vorab der des politischen Opportunismus. Die von der Communist Party of India (Marxist) geführte Regierung Westbengalens habe Angst gehabt, sich mit der 'islamistischen Straße' anzulegen, hieß es etwa in der Economic Times. Für den Verbleib Nasrins in Kolkata habe sie sich allein aus wahltaktischen Gründen nicht hinreichend eingesetzt. Der Vorwurf ist stichhaltig: Während die Muslime in ganz Indien gut zwölf Prozent der Bevölkerung stellen, machen sie in Westbengalen ein gutes Viertel aus - ein Wählerpotenzial also, das auch die Kommunistische Partei in ihr Kalkül einbeziehen muss."

Weiteres: Franz Haas schreibt zum hundertsten Geburtstag des italienischen Schriftstellers Alberto Moravia. Besprochen werden die Ausstellung "Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei" im Kunsthistorischen Museum Wien, eine Schau zum Architekten und Kunstreformer Henry van de Velde im Hauptstaatsarchiv Weimar, Felix Philipp Ingolds Studie "Russische Wege" und Joseph Jungs Biografie Alfred Eschers (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 28.11.2007

Jonathan Littells Buch "Les Bienveillantes" - "Die Wohlmeinenden" - erzählt vom Dritten Reich aus der Perspektive des fiktiven SS-Offiziers Max Aue und war in Frankreich der nicht unumstrittene Sensationserfolg des letzten Jahres. Die FAZ ist schon seit längerem bemüht, den Roman, der erst im Februar auf Deutsch erscheinen wird, hierzulande ins Gespräch zu bringen (hier ein Interview mit Littell). Heute geht es in einem Interview von Jürg Altwegg mit dem "Shoah"-Regisseur Claude Lanzmann um die veränderte Erinnerung an den Holocaust und dabei in erster Linie um Littells Roman. Lanzmann hatte den Autor zunächst scharf kritisiert, gibt sich nach einem persönlichen Gespräch jetzt aber versöhnlich: "Littell verfügt als Romanschriftsteller über eine gewaltige und sehr realistische Einbildungskraft. Mit Personen, die existiert haben, und Ereignissen, die es so gegeben hat, schafft er etwas, das absolut authentisch wirkt. In gewisser Hinsicht hat er das Recht, dies zu tun." In gewisser Weise gelinge es Littell sogar darzustellen, was Lanzmann in "Shoah" nicht gelang: "Ich habe bei den Vorbereitungen für meinen Film viele Chefs der Einsatzgruppen gesehen. Das war schwierig und extrem kompliziert. Keiner wollte sich äußern, und natürlich wollte keiner gefilmt werden. Ich habe es wie mit anderen Nazis versucht. Ich wollte sie überlisten, mit versteckter Kamera filmen. Es ist mir nicht geglückt."

Weitere Artikel: In der Glosse findet es Lorenz Jäger anders als, wie er bedauert, der für das einschlägige Ehrenmal zuständige Minister Franz Josef Jung, gut und poetisch, dass im Krieg zu Tode gekommene Soldaten "Gefallene" heißen. In Form eines kurzen Texts und des in Original und Übersetzung von Thomas Eichhorn abgedruckten Gedichts "Die kranke Rose" wird des 250. Geburtstags des Künstlers, Privatmythologen und Dichters William Blake gedacht. Gemeldet wird, dass der rassismusverdächtige Band 32 der Rudolf-Steiner-Ausgabe nicht mehr ausgeliefert wird. Joseph Croitoru hat bei der Lektüre osteuropäischer Zeitschriften Einblicke in kafkaeske Formen der Vergangenheitspolitik erhalten. Dieter Bartetzko informiert über in Jerusalem entdeckte Mosaike aus einer spätantiken Synagoge und porträtiert außerdem den palästinensischen Milliardär Munib al Masri (hier ein Porträt im Guardian), der eine Palladio-Villa in Nablus hat errichten lassen.

Gina Thomas war dabei, als im Oxforder Debattierklub zu Nutz und Frommen der Meinungsfreiheit die Rechtsextremen David Irving und Nick Griffin aufliefen und auf den erwarteten Protest stießen. Hannes Hintermeier gratuliert dem von Walter Höllerer gegründeten Literaturarchiv in Sulzbach-Rosenberg (Website) zum dreißigsten Geburtstag - viel Grund zum Feiern gibt es aufgrund akuter Finanznot allerdings nicht. Auf der DVD-Seite werden Boxen mit mexikanischen Filmen von Luis Bunuel sowie feministischen Filmen von Helke Sander, aber auch neue Editionen von Claude Gorettas "Die Spitzenklöpplerin", John Fords "Wee Willie Winkie" und Karel Reisz' '"Samstagnacht bis Sonntagmorgen" empfohlen.

Welt, 28.11.2007

Der Islamwissenschaftler Bernard Lewis stellt die Vertreibung der Palästinenser aus Israel in den Jahren 1947/48 in Zusammenhang mit Millionen ausgewiesener arabischer Juden, aber auch der Vertreibungen in Pakistan, Deutschland und in Polen: "Die Polen und die Deutschen, die Hindus und die Muslime, die Juden aus den arabischen Ländern: alle wurden sie in ihrer neuen Heimat angesiedelt und erhielten eine normale Staatsbürgerschaft. Es gab nur eine Ausnahme: die palästinensischen Araber in arabischen Staaten. Warum? Weil man die Palästinenser für eine abgeschlossene Einheit hielt, damit sie, wenn die Zeit reif wäre, zurückkehren und das gesamte Palästina reklamieren könnten. 'Rückkehr' meint hier die Zerstörung Israels. Andere Stimmen hört man in der arabischen Welt kaum, und wenn, dann landen sie im Gefängnis."

Im Feuilleton zeigt sich Matthias Heine weder von dem Film "Hunting Party" mit Richard Gere noch von dem deutschen Film "Mörderischer Frieden", die beide die Jugoslawienkriege zum Hintergrund haben, völlig überzeugt. Thomas Kielinger war dabei, als der Debattierclub Oxford Union am Beispiel der Holocaustleugnung die Grenzen der Meinungsfreiheit ausloten wollte. Gerhard Charles Rump berichtet über die Versteigerung des ältesten Rolls-Royce von 1904. Rump erinnert auch an William Blake, dessen Geburtstag sich zum 250. Male jährt. Martin Haberland besucht die neue Dauerausstellung des Medizinhistorischen Museums der Charite, die unter dem Titel "Dem Leben auf der Spur" klar macht, dass man lieber heute Patient ist. Matthias Heine porträtiert den neuen Star des Deutschen Theater Berlin, Stefan Konarske, zur Zeit zu sehen in Heiner Müllers "Anatomie Titus". Hanns-Georg Rodek erzählt, wie ein 1999 aufgelegter Filmfonds platzte. Johannes Wetzel berichtet, dass Hans Ulrich Obrist die Biennale von Lyon kuratieren wird. Johanna Schmeller war dabei, als der Sohn von Anna Politkowskaja, Ilya Politkowsky, den posthumen Sophie-Scholl-Preis für sie entgegen nahm. Manuel Brug hat in Madrid einige Opern des Mozart-Zeitgenossen Martin y Soler gehört - mit großem Gewinn, wie es scheint.

Besprochen wird die Ausstellung "Wien - Paris" im Wiener Belvedere.

Weitere Medien, 28.11.2007

Die Selbstzensur in den Köpfen selbst der provokantesten Künstler funktioniert bestens, zumindest wenn es um den Islam geht, berichtet Ben Hoyle, Kunstreporter der britischen Times. (Wir entdeckten den Artikel durch einen Hinweis auf der Achse des Guten): "Grayson Perry, der töpfernde Transvestit, Turner-Preisträger und ehemalige Times-Kolumnist, sagt, dass er Anspielungen auf den radikalen Islam in seinem hochprovokanten Werk bewusst vermeidet - aus Angst vor Repressalien. (...) 'Ich habe mich selbst zensiert', sagte Perry in einer Diskussion über Kunst und Politik beim Art Fund. 'Der Grund, warum ich den Islamismus in meiner Kunst nicht angreife, ist eine reale Angst, dass mir jemand die Kehle durchschneidet."

TAZ, 28.11.2007

Dorothea Marcus resümiert das Programm von Impulse 2007, dem wichtigsten Festival der Freien Theaterszene, das noch bis zum 2. Dezember in Köln, Düsseldorf, Bochum und Mülheim läuft. "Auch wenn nicht alles überzeugt: Radikal rücken alle Stücke in Erinnerung, dass Theater nicht nur aus dem Verwalten von Spielplänen, Finanzen und Repertoirepflichten besteht. Nicht zufällig erinnert vieles an Konzeptkunst, die mit den Sehgewohnheiten experimentiert. Es sind ästhetische Versuchsanordnungen, die von den großen Institutionen zwar nicht entwickelt, dafür umso gieriger verschluckt werden, sobald sie im Verfahren der Selbstausbeutung ausreichend prominent wurden."

Weitere Artikel: Saskia Draxler berichtet über das Wiener Symposium "Durch die Formate - Wie die Gegenwartskunst in den Medien erscheint" zum Thema Kunstkritik. Und Alexander Camman wirft einen Blick in neue Ausgaben der Zeitschriften Fotogeschichte, in der es um die Symbiose von Geld und Fotografie geht, und Mittelweg 36, in der dafür beispielhaft die Geschichte der Fotoagentur Magnum erzählt wird.

Besprochen wird ein Berliner Konzert der Sängerin Rihanna, deren R-&-B-Arrangements "seit den frühen Achtzigern nicht mehr [so nah] am Sound der Abschleppläden von Mallorca" waren.

Und Tom.

Spiegel Online, 28.11.2007

Götz George sagt im Interview mit Julia Jüttner zum Niveau des deutschen Fernsehens heute: "Zum Glück bin ich alt: Den absoluten Untergang werd' ich nicht mehr erleben."

SZ, 28.11.2007

Thomas Steinfeld denkt über die moderne Auftragskunst nach. Auftraggeber ist zumeist der Staat, der in Deutschland ungefähr 8 Milliarden Euro im Jahr für die Kulturförderung ausgibt. Dass der Charakter der Auftragskunst heute gern geleugnet wird, macht die moderne Kunst besonders anfällig für servile Gesten, findet Steinfeld und vergleicht zum Beleg ein wenig schmeichelhaftes Papstporträt von Tizian mit dem goldenen Schröderporträt von Immendorff: "Gewiss, man mag in der heroischen Überhöhung eines demokratischen Politikers eine Ironie, abgründige Distanz erblicken. Aber spätestens, seitdem dieses Bild im Kanzleramt hängt, in Gesellschaft der Porträts von Willy Brandt und Helmut Kohl, wirkt es als unterwürfige Huldigung, als pathetische Überhöhung seines Gegenstands, die Tizians Darstellung von Paul III. eben nicht ist. Das Bild des ehemaligen Kanzlers in Gold, dargeboten als Frontalporträt mit heldenhafter Miene, gerahmt von ein paar Affen, in denen die Kunst sich selbst als niedere Närrin abbildet, wirkt unendlich viel feudaler als jedes Herrscherporträt der Renaissance."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh erklärt anlässlich des heutigen Solidaritätsstreiks der deutschen Drehbuchautoren mit ihren amerikanischen Kollegen, inwiefern sich die deutschen Verhältnisse von den amerikanischen unterscheiden. Andreas Zielcke informiert über ein spanisches Urteil, wonach eine Brücke des Architekten Santiago Calatrava in Bilbao höchstrichterlich verunstaltet werden darf. Alexander Menden schildert den zwiespältigen Auftritt von Holocaust-Leugner David Irving und dem Vorsitzenden der British National Party im ehrwürdigen Debattierclub der Universität Oxford. Lutz Lichtenberger berichtet über die posthume Preisverleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Anna Politkowskaja. Und Henning Klüver stellt die Veranstaltungen zum 100. Geburtstag von Alberto Moravia in dessen Heimatstadt Rom vor.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Blinky Palermo in Kunsthalle und Kunstverein Düsseldorf, Leander Haußmanns Komödie "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken", eine Inszenierung von Paul Dessaus "Die Verurteilung des Lukullus" an der Komischen Oper Berlin, ein Konzert unter Kent Nagano mit Schumann und Manoury im Münchner Nationaltheater, Michael Thalheimers Illustration von Schuberts "Winterreise" in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin und Bücher, darunter A.J. Lieblings Buch "Zwischen den Gängen. Ein Amerikaner in den Restaurants von Paris" (hier eine Leseprobe) und eine Biografie über Marieluise Fleißer von Hiltrud Häntzschel (Leseprobe hier). (Siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)