Heute in den Feuilletons

Anlage: 1 Giftpaket

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2008. In der Jungle World spricht Ngugi wa Thiong'o über die Unruhen in Kenia und identifiziert den üblichen Verdächtigen. Im Falter erklärt Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, warum er Google problematisch findet. Die NZZ ist total erleichtert: Walter Sickert war nicht Jack the Ripper. In der FAZ erklärt der türkische Jurist Ergun Özbudun, was deutsch ist an der türkischen Verfassung. In FR und taz spricht Claude Chabrol: die Bourgeoisie hat Schichten, und das Fernsehen lügt nicht.

NZZ, 10.01.2008

George Waser freut sich, Walter Sickerts guten Ruf wiederherzustellen können. Nach der Ausstellung "The Camden Town Nudes" in der Londoner Courtauld Gallery kann seiner Meinung nach nichts von den Anschudligungen der Krimiautorin Patricia Cornwell übrig bleiben, der Maler sei Jack the Ripper gewesen und seine Camden-Town-Serie zeige die ermordeten Prostituierten. "Wie wenig die frühere Angestellte eines Leichenschauhauses, die mit ihren Kay-Scarpetta-Romanen ein Vermögen verdiente, Kunst zu lesen vermag, geht uns vor Sickerts 1907 gemaltem Selbstporträt 'The Painter in his Studio' auf: Die Statue vor dem Maler, die Cornwell weder als 'den Torso eines Boxers' noch als 'eine enthauptete Frau' sicher zu deuten vermag, ist eine Variante von Praxiteles' Knidischer Venus."

Besprochen werden ein Koechlin-Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich unter Heinz Holliger, Alexander Solschenizyns Memoiren "Meine amerikanischen Jahre", Martin Suters Roman "Der letzte Weynfeldt" und Meir Shalevs Roman "Der Junge und die Taube".

Auf der Filmseite geht es um Woody Allens neuen, in Deutschland gar nicht laufenden London-Murder-Mystery "Cassandra's Dream" (Es geht um Geld, viel Geld) und Nadine Labakis Debüt "Caramel".

Weitere Medien, 10.01.2008

Im Interview mit der Jungle World-Autorin Doris Akrap spricht der Autor Ngugi wa Thiong?o über die Unruhen in Kenia. Schuld ist wieder einmal der übliche Verdächtige: "Ich habe keinen Zweifel daran, dass ethnische Gefühle von den Millionärseliten, die um die Macht kämpfen, aufgepeitscht wurden. Die Gegenwart ist vom Kolonialismus und seinen Nachwirkungen immer noch stark beeinflusst. Es war schließlich der Kolonialismus, der den Tribalismus als ein Instrument der Teilung erfunden hat. 'Teile und herrsche' war das Motto aller Kolonialisten, sei es der Deutschen, der Engländer oder der Franzosen. Die koloniale Politik der kenianischen und afrikanischen Elite verfolgt die schlimmsten Traditionen der kolonialen Vergangenheit weiter."

Im stets anregenden Blog Medienlese finden wir einen Link zu einem Interview mit Jimmy Wales im Falter. Der Wikipedia-Gründer erklärt, warum er eine (bisher noch recht rudimentäre) Suchmaschine gründet, und warum er Googles Macht inzwischen problematisch findet: "Die Algorithmen, die Google für seine Suchmaschine verwendet, sind geheim. Das Konzept ist überhaupt nicht transparent. Für eine offene Gesellschaft ist es aber überaus wichtig, dass man nachvollziehen kann, nach welchen Kriterien solche inhaltlichen Entscheidungen getroffen werden. Außerdem glaube ich, dass die Suchmaschinen nachlässig wurden. Wir können uns alle an die Zeit vor Google erinnern, als die Websuche wirklich erbärmlich war. Dann kam Google und die Ergebnisse wurden wesentlich besser. Aber in den letzten Jahren gab es einen Stillstand."

FR, 10.01.2008

"Die Geschichte der Bourgeoisie amüsiert mich wirklich", gibt Claude Chabrol im Gespräch mit Daniel Kothenschulte zu, versteht aber dennoch nicht ganz, warum er immer nur darauf angesprochen wird. "Immerhin spielt fast nur die Hälfte meiner Filme in der Bourgeoisie. Ich denke, das kommt daher, dass diese den meisten Erfolg beim Publikum hatten. Hinzu kommt, dass sich die Gesellschaft in den 90er Jahren, nach dem Mauerfall, dahingehend weiterentwickelt hat, dass keine Klassen mehr existieren. Es gibt nur noch eine zentrale, die Bourgeoisie, in die alle rein wollen. Diese eine Klasse hat allerdings mehrere Schichten. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass eine Art Big Brother alles überwacht und uns in Hampelmänner verwandelt. Da es nur noch eine Klasse gibt, zählt nur noch das Geld als soziale Leiter."

Der Schauspieler und Drehbuchautor Hannes Jaenicke spricht im Interview über seine Serie "Post Mortem" und den Unterschied zwischen deutscher und amerikanischer Film- und Fernsehkultur. "Das hat mit der Autorenkultur zu tun. Amerikaner sind da uneinholbar. Die größte Krux des deutschen Films ist der Umgang mit Drehbuchschreibern. Wobei ich nicht sagen will, dass wir keine guten Autoren haben, im Gegenteil. Aber wie Redaktionen, Produzenten, Regisseure, selbst Schauspieler mit ihnen und ihren Geschichten umgehen, ist nicht förderlich. Da wird aus allen Himmelsrichtungen reingefunkt, hauptsächlich aus Angst vorm Quotenflop, der zu einer unfassbaren Fehleinschätzung des Publikums führt".

Weitere Artikel: Harry Nutt zelebriert Heinrich Zilles 150. Geburstag und erzählt, wie Berlin dieses Jubiläum begeht. Arno Widmann denkt in der Kolumne Times Mager über die Zusammenhänge von Niedertracht und CDU-Wahlkämpfen sowie deren Konsequenzen für Deutschland nach.

Besprochen werden Anton Corbijns Spielfilmdebüt über das Leben des Sängers Ian Curtis "Control" ("Curtis konnte keinem besseren als Corbijn in die Hände fallen" jubelt Udo Feist) und Richard Sennetts neues Buch "Handwerk" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 10.01.2008

Ein Interview mit Claude Chabrol. Und Stefan Grissemanns erste Frage lautet: Wieso ist und bleibt die Bourgeoisie Ihr Lieblingssujet und Hauptangriffsziel? "Ich darf Sie korrigieren: Die Bourgeoisie ist das einzig existierende Angriffsziel."

Weiteres: Anderes: Wolf-Dieter Vogel wirft nach der Entlassung der regierungskritischen Moderatorin Carmen Aristeguis einen Blick auf die Lage der Meinungsfreiheit in Mexiko. Besprochen werden Henrik Ibsens selten gespielte nordische Saga "Die Helden auf Helgeland", die Roger Vontobel am Hamburger Schauspielhaus auf der Bühne ins Second Life geschickt hat, Wolfgang Eißlers Spielfilmdebüt "Berlin am Meer" über das Lebensgefühl junger Hauptstädter, die Landminen-Ausstellung "Explosives Erbe des Krieges" im Berliner Paul-Löbe-Haus (wo Brigitte Werneburg unter anderem das "humanitär-empörte 'Seht her!'" mancher Opferfotografie sauer aufstieß) und Francis Lawrences Science-Fiction-Film "I am Legend".

Schließlich Tom.

Berliner Zeitung, 10.01.2008

Daniel Baumann greift einen Blogbeitrag von Don Alphonso auf und fragt, ob 2008 tatsächlich das "Jahr des Exits" für bekannte Blogger sein wird. "Die Szene erkennt, dass sie sich professionalisieren muss, wenn sie weiter wachsen will, um tatsächlich ein Wort im Nachrichtengeschäft mitreden zu können, wie dies in den USA einigen Bloggern gelungen ist."
Stichwörter: USA, Don Alphonso

Zeit, 10.01.2008

In Zeit Online berichtet Carmen Eller, dass dem kritischen Sacharow-Zentrum in Moskau das Aus droht. Das Geld ist alle, und ein kritischer Blick auf die kommunistische Vergangenheit steht in Russland nicht hoch im Kurs: "Der Dissident Sacharow, der die erste Wasserstoffbombe mit entwickelte, aber auch für Abrüstung und Menschenrechte kämpfte, spielt im neuen Russland keine Rolle. Vergeblich hat Samodurow versucht, russische Geldhähne anzuzapfen. Keine Firma wollte helfen, kein Geschäftsmann signalisierte Interesse. 'Es ist so schwer, weil wir ein politisches Museum sind', sagt der 56-Jährige. Ein Transparent auf der Fassade dient als stummer Protest gegen die Gewalt in Tschetschenien. 'Der Krieg ist zu Ende. Was nun?' steht in schwarzen Lettern auf weißem Tuch. 'Leute, die unserem Museum Geld geben, müssen Unannehmlichkeiten befürchten.' Zu den Förderern gehörte etwa der in Sibirien inhaftierte Michael Chodorkowski." Hier der dringende Spendenaufruf.

In der Printausgabe diskutieren unter anderem die beiden pakistanischen Autoren Umbreen Butt und Ghazi Salahuddin in einem leider online nicht nachzulesenden Pro und Kontra die Zukunft des Landes nach der Ermordung Benazir Bhuttos. Der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik meint, dass Roland Koch mit seiner Forderung nach - sehr assoziationsreichen - Erziehungscamps nicht am politischen Rand nach Stimmen fischt, sondern in der U-Bahn fahrenden Unterschicht.

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Iris Radisch Peter Handkes Erzählung "Die morawische Nacht". Das Dossier widmet sich der neuen Verbundenheit von Afrika und China.

Im Wirtschaftsteil sieht sich Götz Hamann an, was das Netzwerk Facebook so wertvoll macht wie Thyssen Krupp und Metro zusammen (15 Milliarden Dollar): "Das Versprechen, dass man Werbung direkt adressieren kann. An jeden Einzelnen."

SZ, 10.01.2008

Alex Rühle schickt eine schöne Reportage über die forensische Linguistin Sabine Schall, die beim BKA Droh- und Erpresserbriefe oder Bekennerschreiben untersucht: "Was die Brutalität angeht, bemühen sich viele Erpresser zumindest im ersten Brief um einen höflichen Ausdruck. Vielleicht aus schlechtem Gewissen, vielleicht um zu signalisieren, dass man mit den Behörden oder der zu erpressenden Firma auf Augenhöhe ist, orientieren sie sich an Geschäftsbriefen ('Betr.: Erpressung'), inklusive Adressfeld, korrekter Anrede, Blocksatz oder gar dem Vermerk 'Anlage: 1 Giftpaket'."

Weitere Artikel: Im Aufmacher hält Andrian Kreye Angstmacherei für einen billigen Trick von Politikern. Gottfried Knapp schreibt zum 150. Geburtstag von Heinrich Zille. Jörg Häntzschel meldet, dass der Direktor des New Yorker Metropolitan Museum, der 71jährige Pilippe de Montebello, Ende 2008 seinen Posten aufgeben will.

Besprochen werden Claude Chabrols neuer Film "Die zweigeteilte Frau" ("Eine erstaunliche Dreierbeziehung hat er da hingekriegt", freut sich Fritz Göttler), Anton Corbijns Film über den 'Joy Division'-Sänger Ian Curtis "Control" ("Die weit aufgefächerte Grau-Palette der Bilder entspricht dem Melancholie-Spektrum des Helden", schreibt Rainer Gansera), Lucy Walkers Film über eine Himalaya-Expedition mit blinden Kindern "Blindsight", Axel Schills Dokumentarfilm "The Man Who Shot Chinatown" über den Kamermann John A. Alonzo, die Ausstellung "Renoir und die Landschaft des Impressionismus" im von-der-Heydt-Museum Wuppertal, Thomas Dannemanns Inszenierung von Shakespeares "Was Ihr wollte" am Staatstheater Stuttgart und Bücher, darunter Nicola Leccas Roman "Hotel Borg" und zwei Sammelbände über Bischof Clemens August Graf von Galen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 10.01.2008

Welt.de hatte heute morgen ein technisches Problem. Da hilft nur eins: Die Artikel selber suchen, wenn's wieder geht.

Sven Felix Kellerhoff unterhält sich mit dem Hindenburg-Biografen Wolfram Pyta über Hindenburgs Verhältnis zu Hitler. Eckhard Fuhr kritisiert in der Leitglosse die Knutisierung nun auch des Nürnberger Zoos. Ulrich Clauß war dabei, als Andre Glucksmann zur Eröffnung des Dahlem Humanities Center der FU Berlin (einst: Rostlaube) einen Vortrag über Europa hielt. Matthias Heine notiert, dass Simon Stephens kurz davor ist, Yasmina Reza als beliebtesten ausländischen Theaterautor abzulösen. Hendrik Werner schreibt zum 150. Geburtstag von Heinrich Zille, dem in Berlin zwei Ausstellungen gewidmet sind. Und Gabriela Walde unterhält sich mit Manfred Flügge, dem Kurator dieser Ausstellungen, über die Aktualität Zilles.

Besprochen werden Anton Corbijns Film "Control" über den Joy-Division-Sänger Ian Curtis, Claude Chabrols neuer Film "Die zweigeteilte Frau" und ein Roman Chuck Klostermans über die grauenerregende Rockmusik der achtziger Jahre.

FAZ, 10.01.2008

Die neue Verfassung der Türkei soll eine strikte Trennung zwischen Staat und Religion garantieren, erklärt der liberale türkische Jurist Ergun Özbudun, der maßgeblich an der Ausarbeitung des Entwurfs (mehr hier und hier) beteiligt war. Die bevorstehende Debatte werde zwischen zwei Lagern geführt werden, prophezeit er: den radikalen Laizisten, "orientiert am Laizismus jakobinischer Prägung und am Positivismus" betrachten sie "religiöse Anschauungen und religiöse Praxis ausschließlich als Gewissensfragen des Einzelnen". Und einer konservativen Mehrheit, die "den Säkularismus unter rein politischen und juristischen Gesichtspunkten (betrachtet), das heißt als Trennung von Religion und Staat. Sie wendet sich nicht gegen öffentliche oder soziale Äußerungsformen der Religion, solange diese nicht die Belange des Staates berühren."

Weitere Artikel: In der Glosse kommentiert Jürg Altwegg Nicholas Sarkozys Kulturkampf gegen 68 und betont, dass ein geschiedener und erst recht ein öffentlich turtelnder Präsident ohne die Folgen von 68 wohl kaum denkbar wäre. Gina Thomas berichtet über insgesamt wenig erfolgreiche Maßnahmen in Großbritannien gegen Jugendkriminalität. Im Flieger über Neuengland denkt Jordan Mejias über den US-Wahlkampf nach. In einer Reportage aus Johannesburg schildert Claudia Bröll Südafrika als scharf zwischen Luxus und Kriminalität gespaltenes Land. Konstanze Krüwell porträtiert Sabine Schulze, die am ersten Juni die Leitung des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe übernimmt. Claudius Seidl gratuliert dem Musiker Donald Fagen (Website), Gerhard Rohde dem Cellisten Mischa Maisky zum Sechzigsten. Michael Lentz schreibt zum Tod des französischen Dichters und Künstlers Henri Chopin. Auf der Kinoseite feiert Paul Ingendaay die Wiederentdeckung des mit Retrospektiven in Madrid und San Sebastian geehrten Hollywoodregisseurs Henry King.

Besprochen werden Claude Chabrols neuer Film "Die zweigeteilte Frau", eine Ausstellung mit Bildern des Fotografen Chargesheimer im Kölner Museum Ludwig, eine Rupprecht-Geiger-Retrospektive im Münchner Lenbachhaus und Bücher, darunter Knut Hortjos Roman "Staub und Sterne" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages).