Heute in den Feuilletons

Eine Kröte für Ägyptens Staatszensur

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2008. Die SZ weiß jetzt, warum die Pekinger weiße Tücher vorm Mund tragen. Die Welt findet das Thema Teenie-Schwangerschaft nach Jason Reitmans Film "Juno" gar nicht mehr trübsinnig. In der NZZ schreibt Najem Wali über den Irak nach fünf Jahren Krieg: kein Frühling in Sicht. Im Tagesspiegel bekennt Anne-Sophie Muter, dass sie in einigen Fragen nicht so kompetent ist wie der Fedex-Mann. Die FAZ lädt Klassik runter. Im Freitag sieht Norbert Frei 1968 ganz anders  als Götz Aly. Spiegel Online informiert über Osama bin Ladens Debattenbeitrag zu den Mohammed-Karikaturen.

NZZ, 20.03.2008

Der irakische, in Deutschland lebende Autor Najem Wali zieht nach fünf Jahren eine bittere Bilanz des Irak-Kriegs: "Am 21. März jeden Jahres feiern die Iraker Nuruz, den Frühlingsanfang. Vor fünf Jahren ließ der Lärm der Flugzeuge die Stimmen der Mütter verstummen, die ihre Gebete beim Schein von Kerzen sprechen, welche sie, auf Bast gebunden, auf dem Tigris oder dem Euphrat treiben lassen. Nun sind fünf Jahre vergangen, und kein Frühling ist in Sicht."

Weitere Artikel: Alexander von Bormann schreibt zum Tod des belgischen Schriftstellers Hugo Claus. Besprochen werden die Ausstellung "Störenfriede - der Schrecken der Avantgarde von Makart bis Nitsch" in Linz und Bücher, darunter Pascal Bruckners Essay "Der Schuldkomplex" ("die europäische Bußfertigkeit schafft Menschen, die sich für alte Vergehen entschuldigen, um sich die gegenwärtigen Verbrechen vom Leibe zu halten", resümiert Ulrike Ackermann).

Welt, 20.03.2008

Im Forum verteidigt Alexander Gauland den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr gegen den Vorwurf Rolf Schneiders, Sedlmayer habe einen "rührigen Faschismus" gepflegt: "Die Kunst, so Sedlmayr, ist Ausdruck der Zeit nur nebenbei und wesentlich außerzeitlich: Epiphanie des Zeitfreien, des Ewigen in der Brechung der Zeit. Die Leugnung dieses Ewigen ist essenziell auch Leugnung der Kunst. Dem muss man nicht folgen, nur mit Goebbels und 'entarteter Kunst' hat es nichts zu tun. Man mag Sedlmayr reaktionär, katholisch, vorgestrig und beschränkt nennen, 'rühriger Faschismus' ist es nicht, wenn jemand die Kluft zwischen Gott und den Menschen beklagt und die neuen Götter oder Götzen Natur, Vernunft, Maschinen und das daraus entstandene Chaos für den Verlust der Mitte verantwortlich macht."

Jason Reitmans Film "Juno" - über eine schwangere 16-Jährige - offenbart eine "wunderbar grobkörnige Poesie", verspricht Cosima Lutz. "Kritiker sind an diesem Film bereits auf berufsgefährdende Weise verzweifelt. Kluge Köpfe stürzten sich wie besoffen ins bloße Schwärmen, anderen, denen Mitjubeln zu unindividuell ist, blieb nichts anderes übrig, als 'Juno' wenigstens eine Typenkomödie zu schimpfen. Wenn auch eine - verdammt! - glaubwürdige. Mit - nun gut! - brillanten Dialogen. In der - auch das! - das trübsinnige Thema Teenie-Schwangerschaft zum hochintelligenten Anarcho-Spaß werde."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr lobt das Konzept zu "Sichtbaren Zeichen gegen Flucht und Vertreibung" von Kulturstaatsminister Neumann, das gestern das Bundeskabinett passierte. Sven Felix Kellerhoff erinnert an die Gründung des Konzentrationslagers Dachau vor 75 Jahren. Michael Stürmer erklärt, wie der Gründonnerstag zu Rang und Namen kam. Andrzej Wajda durfte seinen Film "Katyn" im Moskauer "Haus des Kinos" rund tausend geladenen Gästen zeigen, berichtet Paul Flückiger. Reinhard Wengierek schreibt zum Achtzigsten von Peter Hacks. Manfred Flügge schreibt zum Tod des belgischen Autors Hugo Claus. Matthias Heine schreibt den Nachruf auf den Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke. Peter Zander wirft einen Blick ins Fernsehprogramm für die Ostertage und findet nur Mord und Totschlag.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Oskar Kokoschka, "Träumender Knabe - Enfant terrible" im Wiener Belvedere, Veit Helmers Balkan-Märchen-Film "Absurdistan", Roy Anderssons Film "Das jüngste Gewitter" und Youssef Cahines Film "Chaos".

FR, 20.03.2008

Herrmann Wallmann würdigt in einem ausführlichen Nachruf den gestern verstorbenen belgischen Schriftsteller Hugo Claus. In der Kolumne Times Mager räsonniert Ina Hartwig über das Schimpfwort "Faschist". Daland Segler klärt uns auf der Medienseite auf, wie es kam, dass Claus Kleber für den Spiegel warb.

Besprochen werden die Stilleben-Ausstellung "Die Magie der Dinge" im Frankfurter Städel, die Aufführung von Krzysztof Pendereckis Oper "Die Teufel von Loudun" in Freiburg, Jason Reitmans Teenager-Schwangerschaftsfilm "Juno" ("Nicht zu fassen, warum noch niemand auf die Idee kam, einen solchen Film zu drehen", staunt, lacht und weint Daniel Kothenschulte), Roy Anderssons Film "Das jüngste Gewitter" (den Heike Kühn als "Meisterwerk der emotionalen und visuellen Entfremdung" feiert), Veit Helmers Film "Absurdistan" (in dem Michael Kohler das "Aufgesetzt-Burleske" ziemlich auf die Nerven ging) und eine überarbeitete Neuausgabe des Bildungs-Longseller "Götter, Gräber und Gelehrte" von C. W. Ceram (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 20.03.2008

Gerührt schreibt Bodo Mrozek über das Wiedervereinigungskonzert der amerikanischen Garagenrockband The Sonics nach mehr als dreißig Jahren. "Die Lederjacken und Parkas im Publikum hatten zwar sichtlich Patina angesetzt, und manch einer schien sie eigens für diesen Abend wieder aus dem Schrank geholt zu haben. Aber auch die jungen Fashion-Punks waren erschienen. Die Band selbst ist deutlich ergraut und Frontmann Rob Lind trägt zur Bundfaltenhose ein auberginefarbenes Hemd. Eine denkbar unglamouröse Angestelltenkluft - als wollte er sagen: Die Sonics brauchen sich nicht als Rockstars zu verkleiden. Sie sind schon welche."

Weitere Artikel: Roberto Orth befasst sich mit dem Übergreifen der französischen Studentenunruhen vom Unicampus in Nanterre auf das Proleariat in den Pariser Banlieues vor vierzig Jahren. Die Kuratoren der 5. Berlin Biennale, Elena Filipovic und Adam Szymczyk, erläutern im Interview ihr Programm für das kommende Kunstfestival. Auf der Tagesthemenseite feiert Wiebke Porombka den gestern verstorbenen Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke noch einmal als großen Visionär der Technik. Gemeldet wird außerdem, dass die islamkritische Schriftstellerin Taslima Nasrin gestern ihre Wahlheimat Indien aus Angst um ihr Leben verlassen hat, wohin sie 1994 nach Morddrohungen islamischer Fundamentalisten aus Bangladesh geflohen war.

"Willkommen. Willkommen im Streit!" ruft auf der Medienseite Peter Schneider (im Interview mit Klaus Raab) Springers Bild-Zeitung zu, die von Hamburg nach Berlin umzieht, Schneider, der einstmals für die Enteignung Springers plädierte, meint nun: "Sollen sie doch kommen. Hoffentlich bringen sie Geld mit, das kann Berlin gut gebrauchen." Ebenfalls auf der Medienseite berichtet Reinhard Wolf über ein interessantes Urteil des obersten schwedischen Gerichts Högsta Domstolen, das zwei Filmregisseuren Recht gab, die mit der Unterbrechung der Ausstrahlung ihrer Filme im Fernsehen durch Werbepausen ihr Urheberrecht verletzt sahen.

Besprochen werden Youssef Chahines und Khaled Youssefs ägyptisches Melodram "Chaos" ("Eine politische Kröte für Ägyptens Staatszensur", freut sich Dietrich Kuhlbrodt) und Roy Anderssons neuer Film "Das jüngste Gewitter".

Und TOM

Weitere Medien, 20.03.2008

Im amerikanischen Slate Magazin erklären sechs "Falken", warum sie mit ihrer Befürwortung des Irakkriegs falsch lagen. Es schreiben: Phillip Carter hier, Josef Joffe hier, Richard Cohen hier, Fred Kaplan hier, Kanan Makiya hier und Christopher Hitchens hier.

Der Historiker Norbert Frei hat ein Buch über 1968 geschrieben und setzt sich im Interview mit Ulrike Baureithel für den Freitag von seinem Konkurrenten Götz Aly ab: "Eine 33er-Generation auszurufen und dieser die 68er-Generation an die Seite zu stellen, dient allein der Provokation, nicht der historischen Erkenntnis."

Tagesspiegel, 20.03.2008

Im Interview mit Frederik Hanssen antwortet die Geigerin Anne-Sophie Mutter auf die Bemerkung, dass die Namen der Interpreten auf den Plattenhüllen immer größer werden und die der Komponisten immer kleiner: "Wissen Sie, ich führe Interviews über Musik, nicht über Verpackung. Wenn Sie über Verpackung reden wollen, dann müssen Sie den FedEx-Mann fragen." Mutter erhält in ein paar Tage den mit 200.000 Mark dotierten Siemens-Musikpreis.

FAZ, 20.03.2008

Harld Fastner erläutert, dass aufgrund höherer Bitraten der Online-Download von klassischer Musik nun auch für die "audiophilen" Hörer interessant zu werden beginnt. Mit einer stärkeren Verlagerung der Klassik-Verkäufe ins Internet ist nicht nur deshalb zu rechnen: "Das Geschäft im Netz kann wachsen, und so bieten große Klassiklabels wie die Deutsche Grammophon und die britische EMI seit kurzem ihre Musik auch auf den eigenen Internetseiten an; kleinere Plattenfirmen, die sich den Onlinevertrieb in Eigenregie nicht leisten können, verkaufen weiterhin über iTunes, aber auch über neue Spezialseiten wie www.andante.com, die zum Teil sogar exklusives Material anbieten können. Der Vorteil liegt hier wie dort darin, dass die Labels praktisch uneingeschränkt auf ihren Backkatalog zurückgreifen können. Viele ältere Aufnahmen sind aus Kostengründen nicht als CD auf dem Markt zu halten; als Audiodatei aber lassen sie sich ohne großen Aufwand ins Netz stellen, samt Cover, Begleittexten und Libretti im PDF-Format."

Weitere Artikel: Hans-Christoph Buch erstattet Bericht aus dem kolumbianischen Cartagena, Heimatstadt von Gabriel Garcia Marquez, in der sich Autoren und Journalisten zum Debattieren trafen. Kardinal Walter Kasper erklärt, warum die Ablehnung, die die von Papst Benedikt formulierte neue Karfreitagsfürbitte (Text) von jüdischer Seite erfährt, zwar nicht "rational", aber dennoch nicht "als Ausdruck von Überempfindlichkeit" zu begreifen ist. In der Glosse kritisiert Karen Krüger den "mit Furor ausgebreiteten Unwillen" der türkischen Boulevardpresse, "einen Beitrag zur Integration der Türken in Deutschland zu leisten". Von einer Tagung in Heiligkreuztal, die das Verhältnis Ernst Jüngers zur Natur untersuchte, berichtet Martin Thoemmes. Tobias Rüther hat den Schriftsteller Edgar Hilsenrath erlebt, der auf einer Lesereise in Frankfurt Station machte. Der Jazzpianistin Marian McPartland gratuliert Wolfgang Sandner zum Neunzigsten. Dietmar Dath schreibt zum Tod des Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke, Hubert Spiegel hat den Nachruf auf den belgischen Schriftsteller Hugo Claus verfasst, der, an Alzheimer erkrankt, sein Recht auf aktive Sterbehilfe in Anspruch nahm. Kurz gemeldet wird auch, dass der diesjährige Lessing-Preisträger Peter Sloterdijk den Lessing-Förderpreis dem Autor und Ex-FAZ-Redakteur Dietmar Dath zuerkannt hat. Auf der Medienseite stellt Heike Hupertz die Grimme-Preisträger 2008 vor. (Stefan Niggemeier, Mitglied der Jury "Fiktion", präsentiert in seinem Blog recht ausführlich die Gewinner in seiner Rubrik.)

Auf der Kinoseite erinnert Michael Althen an den großen deutschen Regisseur Helmut Käutner, der nächste Woche seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte. Hans-Jörg Rother berichtet von der ungarischen Filmwoche in Budapest. Aus Indien vermeldet Martin Kämpchen, dass in Bollywood auch Filme mit ernsthaften Themen - wie Behinderung und nationale Integration - gedreht werden.

Besprochen werden eine Ausstellung zur künstlerischen Auseinandersetzung mit Massenmord bei Goya, Zoran Music und Alain Resnais in Barcelona, der von Ivor Bolton hervorragend dirigierte, von Pierre Audi weniger überzeugend inszenierte "Tamerlano" von Händel in München, ein Kölner Konzert der australischen Band Operator Please, Roy Anderssons Film "Das jüngste Gewitter", und Bücher, darunter Nick Hornbys neuer Roman "Slam" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 20.03.2008

Spiegel Online resümiert die jüngsten Meldungen über Osama bin Ladens neuesten Debattenbeitrag zu den Mohammed-Karikaturen: "Der Terroristenchef beschuldigt den Westen, angeführt vom Weißen Haus, 'gezielt unsere Dörfer zu bombardieren'. Doch auch die Tragödie getöteter Frauen und Kinder verblasse 'gegen die Veröffentlichung dieser beleidigenden Zeichnungen', betont der Islamistenführer."

SZ, 20.03.2008

Die SZ (oder wer?) hat Gerhard Matzig nach Peking geschickt, wo er unter anderem das neue Flughafenterminal besichtigte, aber doch auch mit den Leuten über Tibet sprechen wollte. Vergeblich: "Die Vorsicht und die Stummheit der Menschen sind in Peking wie mit Händen zu greifen. All die weißen Tücher, die sich die Einwohner Pekings seit Jahren vor Mund und Nase klemmen, um sich im Dauerstau vor Staub und Gestank zu schützen: In diesen Tagen bekommen sie eine neue Bedeutung. Sie schützen offenbar auch davor, deutlich zu sprechen."

Weitere Artikel: Johannes Willms berichtet, dass die Pariser Buchmesse "Salon du Livre", die wegen ihres Israel-Schwerpunkts nicht nur von arabischen Ländern boykottiert wurde, sondern auch Drohungen ausgesetzt war, ohne Zwischenfälle zuende gegangen ist. Stephan Speicher schreibt anlassgemäß über "Transzendenz ohne Gewalttätigkeit" in Bachs Matthäus-Passion. Jens Bisky erinnert an Peter Hacks, der in diesen Tagen achtzig Jahre alt geworden wäre. Henning Klüver schreibt, dass die Camorra erneut den Schriftsteller Roberto Saviano ins Visier genommen hat, der seit der Veröffentlichung seines Mafia-Buchs "Gomorrha" unter Polizeischutz steht. Fritz Göttler freut sich über eine Bunuel-Restrospektive im Münchner Filmmuseum. Andrian Kreye schreibt über eine Lesung des amerikanischen Journalisten Jeremy Scahill aus seinem Bestseller "Blackwater" im Werkraum der Münchner Kammerspiele, (in der Kreye übrigens höchstselbst als Moderator fungierte). Fritz Göttler verabschiedet den belgischen Schrifsteller Hugo Claus, der am Mittwoch mit Hilfe von Sterbehelfern diese Welt verlassen hat. Florian Kessler gibt dem gestern verstorbenen Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke (der unter anderem auf der Basis einer seiner Kurzgeschichten das Drehbuch für Stanley Kubriks Filmklassiker "Odyssee im Weltall" schrieb) das letzte feuilletonistische Geleit.

Besprochen werden Roy Anderssons filmisches Panorama "Das Jüngste Gewitter" (für Rainer Gansera ein "faszinierendes Traumbilder-Panoptikum menschlicher Donquichotterie"), Hartmut Bitomskis Dokumentarfilm "Staub" (den Martina Knoben als "einen wunderbar freien, souveränen Film" feiert), Eric Vallettes "Tödlicher Anruf", Peter Hedges romantische Komödie "Dan - Mitten im Leben" mit Juliette Binoche, Youssef Chahines und Khaled Youssefs Film "Chaos", sowie Claus Guths und Simone Youngs Hamburger Neueinstudierung von Richard Wagners Oper "Rheingold" (die Wolfgang Schreiber freilich nur matt glänzen sah).