Heute in den Feuilletons

Die immergleiche böse Linie

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.02.2009. In der FR sieht der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer in der Geste des Papstes gegenüber den Lefebvristen eine Tendenz: "Als ob wir nicht alle Auschwitz mental so allmählich verrotten lassen." Der Tagesspiegel möchte sehr gern, dass Suhrkamp nach Berlin kommt. Die FAZ fragt: Wie reagieren deutsche Bibliotheken auf den Digitalisierungsangriff durch Google? Die SZ kann nach der Lektüre des neuen Philip Roth keine Entwarnung bezüglich Amerikas geben. Die Blogosphäre ist aufgeregt: Die Bahn will Netzpolitik.org wegen Veröffentlichung eines Dokuments juristisch belangen.

FR, 04.02.2009

Der Tübinger Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer versteht nicht, warum sich alle so über den Papst aufregen, nur weil er ein paar "Hardliner" in die Kirche zurückholt: "Als ob wir nicht alle Auschwitz mental so allmählich verrotten, verfallen lassen und in uns halb abgewrackt, halb abgehakt hätten. Denkmäler tragen die Altlast unsrer mürbe gewordenen Gefühle. Und dann zerreißt ausgerechnet der Garant unverbindlicher Heuchelei den Schleier der Schwiemelei, um ein möglichst unpathetisches Wort zu verwenden."

Weitere Artikel: Der Architekt und Stadtplaner Albert Speer hat Frankfurts Oberbürgermeisterin ein privat finanziertes Dokument mit 16 Thesen zu "Handlungsperspektiven für die internationale Bürgerstadt Frankfurt am Main" überreicht - wenn auch nur ein Bruchteil verwirklicht würde, käme dies einem Umbau von Magistrat und Verwaltung gleich, wie Christian Thomas mit Sympathie feststellt. In Times Mager fordert Hans-Jürgen Linke die Rettung des Modelleisenbahnherstellers Märklin.

Besprochen werden Ron Howards Film "Frost/Nixon" und Philip Roth' Roman "Empörung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 04.02.2009

In seinem Ausblick auf die Berliner Filmfestspiele freut sich Hanns-Georg Rodek: "Sie sind so deutsch wie seit dem Beginn der Ära Kosslick nicht mehr, der sie 2002/03 zum Schaufenster für das kleine deutsche Filmwunder machte, das damals aufblühte. Wäre die Berlinale vor zehn Jahren derart 'deutschlastig' gewesen wie heuer, man hätte sie der Provinzialität geziehen."

Weiteres: Gernot Facius schreibt eine kleine Kirchengeschichte der Exkommunikation, von Heinrich IV. über Luther bis zu Lefebvre. In der Ausstellung "Darwin" in der Frankfurter Schirn hat Uwe Wittstock gelernt, wie Evolution die Malerei verändert hat. Hendrik Werner berichtet von der Suche eines schottischen Archäologen nach dem Tagebuch des Seeräubers Alexander Selkirk in Berlin. Stefan Klein schildert, wie sich das Theater Oberhausen etabliert. Besprochen werden das Musical "Marie Antoinette" in Bremen und das ARD-Drama "Schuldig".

NZZ, 04.02.2009

Joachim Güntner bemerkt in der Debatte um die Heimholung der abtrünnigen Bischöfe und Holocaust-Leugner, dass sich der Papst von den Pius-Brüdern sogar Bedingungen hat stellen lassen, wie etwa die 'Rehabilitierung der überlieferten heiligen Messe': "Bei Lichte betrachtet sieht es also so aus, als habe die Pius-Bruderschaft dem Papst vorgezeichnet, wie er den Weg einer möglichen Versöhnung zu beschreiten habe." Und später schreibt Güntner: "Mögen seine Verteidiger auch um differenzierte Betrachtung bitten - in diesem Register rückt jeder Eklat auf die immergleiche böse Linie: Die Muslime hat er mit einem abschätzigen Zitat über ihren Propheten brüskiert, den Protestanten zeigt er Geringschätzung, brasilianischen Indios erklärt er, die (gewaltsame) Christianisierung sei eigentlich ihr innerster Wunsch gewesen, und die Juden befremdet er einmal mit Fürbitten, die nach Missionierung schmecken, dann durch seinen Gnadenakt für Antisemiten."

Weiteres: In einem Ausblick auf die morgen beginnende Berlinale sieht Susanne Ostwald Anzeichen für eine Trendwende: "Zwar fehlen auch heuer die politisch brisanten Filme nicht, doch das Wettbewerbsprogramm wird dominiert von Liebesfilmen und Beziehungsdramen." Aureliana Sorrento berichtet vom Festival "Politics of ecstasy" im Berliner Hebbel am Ufer. Besprochen werden Diarmaid MacCullochs Geschichte der "Die Reformation 1490-1700" und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 04.02.2009

Robin Meyer-Lucht hält es in seinem Blog Carta.info für absolut gaga, dass die Deutsche Bahn das blog Netzpolitik.org wegen Veröffentlichung eines Dokuments juristisch belangen will: "Die Schuld an der Datenaffäre liegt eindeutig bei der Bahnführung. Eine Behinderung der Berichterstattung und der Aufklärung kann nur auf die Bahnführung selbst zurückfallen!"

Markus Beckedahl von Netzpolitik.org erklärt, warum er ein Bahn-Dokument veröffentlichte: "Ich veröffentliche diese Dokumente wie auch das interne Memo zur DB-Rasterfahndung, weil ich denke, dass sich jeder selbst eine Meinung bilden können sollte. Ich bin auch der Meinung, dass eine aufgeklärte Demokratie wie in unserem Lande das zulassen sollte. Und dieses Dokument ist für den öffentlichen Diskurs rund um die Überwachungsaffäre bei der Deutschen Bahn AG relevant."

TAZ, 04.02.2009

Esther Boldt würdigt die Arbeit von VA Wölfl und der Compagnie "Neuer Tanz", die 20-jähriges Jubiläum feiern. Henrike Thomsen fragt: "Wie stark beeinträchtigt die Finanzkrise die großspurigen Kunstpläne Dubais und Abu Dhabis?" Besprochen werden eine Ausstellung mit Algerien-Fotografien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu in Konstanz und Ron Howards Spielfilm "Frost/Nixon".

Auf der Meinungsseite verteidigt Daniel Bax die Altermondialistin Naomi Klein, die anlässlich des Gaza-Kriegs zu einem Boykott israelischer Produkte aufgerufen hat. In tazzwei schreibt Gunnar Leue einen Nachruf auf den Texter und Liedermacher Kurt Demmler, der sich in der Untersuchungshaft nach Missbrauchsvorwürfen an Minderjährigen erhängt hat.

Tom.

Tagesspiegel, 04.02.2009

Vieles spricht dafür, dass Suhrkamp nach Berlin kommt, meint Ralf Schönball in einem Artikel, der selbst ein bisschen wie ein Liebeswerben klingt: "Die Köder für den Suhrkamp-Verlag haben die Wirtschaftsförderer aus Reihen der Berlin-Partner ausgelegt. Die verstehen ihr Geschäft: 'Wir schnüren maßgeschneiderte Unterstützungspakete, die von der Immobiliensuche über die Finanzierung des Umzugs bis zur Personalrekrutierung reichen', sagt Sprecher Christoph Lang. Der Buch- und Pressemarkt zähle zu den 'Wirtschaftskernen', auf deren Förderung sich der Senat konzentriere. Die Details des Suhrkamp-Angebots will er aber nicht verraten."

Stichwörter: Berlin, Suhrkamp Verlag

FAZ, 04.02.2009

Joseph Hanimann hat das nun in deutscher Sprache vorliegende Tagebuch der Helene Berr gelesen, einer jüdischen Studentin, die sich in den Vierzigern in Paris versteckt hielt, entdeckt und deportiert wurde und in Bergen-Belsen starb. "Im Herbst 1943 verdichten sich die Todesahnungen, nicht zuletzt durch die Gerüchte, was mit den Deportierten geschieht. Es ist nicht Schicksalsergebenheit eines künftigen Opfers, sondern eine mürbe gewordene Auflehnung. 'Ich vergesse, dass ich ein postumes Leben führe', notiert die Autorin im November und einen Monat später: 'Es sind nicht mehr viele Juden in Paris.' Klar und sachlich blickt sie dem eigenen Verderben entgegen und staunt selbst über ihr Verhalten. 'Wieso hast du, obwohl du das wusstest, nichts unternommen, um es zu vermeiden?' - werde sie sich wohl fragen, wenn es so weit sei, und ein allfälliger Leser dieser Zeilen werde wohl sagen: 'Ja, wieso, wieso?' Vielleicht weil die Müdigkeit schon zu groß war."

Oliver Jungen fragt, wie sich die deutschen Bibliotheken zum Teufelspakt ihrer amerikanischen Kollegen mit Google verhalten: "Wie stehen die führenden deutschen Bibliotheken in diesem magischen Moment zum Digitalisierungsangriff durch Google? Handeln sie, solange es noch möglich ist, gute Bedingungen aus? Arbeiten sie an einem Gegenmodell? Kämpfen sie vielleicht gezielt gegen Google?" Die Antwort muss wohl lauten: Sie bekommen - von der Münchener Staatsbibliothek abgesehen - nicht einmal richtig mit, was hier gerade vor sich geht.

Weitere Artikel: Thomas Thiel war bei einer Tagung in Marbach, die sich die Auseinandersetzung der deutschen Literatur mit dem Atom-Zeitalter vornahm. In der Glosse scherzt Richard Kämmerlings über den Zug zur Metafiktion in den Büchertiteln des Frühlings - wie etwa im Falle von Sarah Kuttners Romandebüt "Mängelexemplar". Martin Kämpchen erklärt, warum die Frage "Wäre ein indischer Obama möglich?" auf dem an sozialen und ethnischen Minderheiten nicht armen Subkontinent eher skeptisch beantwortet wird. Gustav Falke hat in Berlin einen Vortrag der Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer gehört, bei dem sie über die Geschichte des Hassan al-Bannas sprach, des Gründers der Muslimbruderschaft. Arnold Bartetzky lobt den höchst funktionalen Bau, der die Sonderlabore der Universität Leipzig beherbergen wird. Camilla Blechen porträtiert Dirk Blübaum, den neuen Leiter des Staatlichen Museums Schwerin.

Auf der DVD-Seite werden Editionen von Apichatpong Weerasethakuls "Blissfully Yours", eine 50 Filme umfassende Box mit deutschem Autorenfilm und eine Kollektion von Animations-Kurzfilmen empfohlen. Auf der Medienseite lobt Karl-Peter Schwarz einen heute bei Arte ausgestrahlten Dokumentarfilm über das von Prag aus gen Osten sendende Radio Liberty.

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von Peter Eötvös' Garcia-Marquez-Veroperung "Love and Demons" in Chemnitz, die Ausstellung "Man Son 1969" in der Hamburger Kunsthalle, Dariusz Jablonskis in Polen für viel Aufregung sorgender Dokumentarfilm über den Spion Ryszard Kuklinski, Ron Howards Film "Frost/Nixon", und Bücher, darunter zwei Bände mit Literatur aus Haiti (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 04.02.2009

Trotz Obama kann Gustav Seibt nach Lektüre von Philip Roth' jüngstem Roman "Empörung" keine Entwarnung über Amerika geben: "Der aktuelle Obama-Rausch darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Welt der Sarah Palin der religiöse Irrsinn - die Vorstellung, voreheliche Keuschheit sei ein zentrales politisches Problem der Vereinigten Staaten von Amerika - überraschend nah am Griff nach der Macht war. 'Empörung' zeigt nun den Amerikanern und dem internationalen Publikum die amerikanische Gesellschaft vor den Emanzipationen der sechziger Jahre, mit ihrer überkommenen ethnischen und konfessionellen Versäultheit, ihrer Verklemmtheit und ihrem Sektengeist." Und das, so Seibt nach Roth sind "Möglichkeiten, die offenkundig wiederkehren können".

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel meldet, dass Roman Polanski wegen eines uralten Gerichtsprozesses trotz einer neuen Initiative nach wie vor die USA nicht betreten kann, ohne eine Verhaftung zu fürchten. Laut "lmue" fragt sich ganz Bordeaux, wo Sarah Bernardts Bein geblieben ist - es musste der Schauspielerin vor dem Ersten Weltkrieg amputiert werden und wurde danach eigentlich in einem Museum der Stadt gelagert. Manfred Schwarz verfolgte das Kölner Kolloquium "Welt-Bild-Museum". Klaus Podak verfolgte ein Tutzinger Kolloquium über den neuesten Stand der Hirnforschung. Petra Steinberger berichtet über die missliche Lage der jüdischen Brandeis-Universität, die durch den Madoff-Skandal betroffen ist. Gottfried Knapp besucht die Staatsgalerie Stuttgart, die nach einer Renovierung des Altbaus ihre Sammlungen neu präsentiert.

Bsprochen werden Ron Howards Film "Frost/Nixon", zu dem auch auch der Drehbuchautor Peter Morgan interviewt wird, und eine Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" durch Sam Mendes in New York.

Auf Seite 2 der SZ zitiert der Rabbiner Walter Homolka den Generaloberen der Lefebvristen, Bernard Fellay, "'Die Juden unserer Tage' seien 'nicht nur nicht unsere älteren Brüder im Glauben, sie sind vielmehr des Gottesmordes mitschuldig, solange sie sich nicht durch das Bekenntnis der Gottheit Christi und die Taufe von der Schuld ihrer Vorväter distanzieren.'"