Heute in den Feuilletons

Das Lachen ist kein edler Affekt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2009. In der Welt äußert sich Tom Segev schockiert über den Wahlerfolg des Rechtspopulisten Avigdor Lieberman. In der NZZ warnt Michael Hochgeschwender: Nur weil Abraham Lincoln an einem Ostersonntag beerdigt wurde, war er noch kein Messias. Die Zeit enthüllt: Möglicherweise hat Daniel Kehlmann selbst als erster die Sperrfrist zur Besprechung seines Romans durchbrochen. In der taz spricht Manoel de Oliveira: Hundert Jahre, und alles nur eine Wiederholung.

Welt, 12.02.2009

Der Historiker und Publizist Tom Segev äußert sich schockiert über den Wahlerfolg des Rechtspopulisten Avigdor Lieberman in Israel: "Über Jahre schmeichelten wir uns selbst damit, dass wir als Juden ja immun gegenüber rassistischen Stimmungen seien. Über Jahre wollten wir sogar glauben, dass die anhaltende Unterdrückung der Palästinenser in der West Bank unser eigenes demokratisches System nicht beeinträchtigen würde. Wir sagten stolz zu uns selbst, dass wir nicht hassten; es war der Feind, der uns hasste. Nun ist der Hass auch für uns legitim geworden."

Weitere Artikel: Vatikankorrespondent Paul Badde wirbt um Verständnis für die Bemühungen des Papstes um Versöhnung mit seinen holocaustleugnenden verlorenen Schäfchen. Gerhard Gnauck besucht für eine atmosphärisch starke Reportage das wohl tristeste Land Europas, Lukaschenkos Weißrussland ("Ein Euro sind 3.000 weißrussische Rubel. Der KGB heißt hier immer noch KGB, und er macht seinem klangvollen Namen alle Ehre. Die Vertreter deutscher Kulturinstitutionen in Minsk beklagen, dass sie beschattet werden"). Uwe Schmitt erzählt von der großen, offiziellen und großteils ungespielten Plattensammlung im Weißen Haus. Sebastian Borger resümiert die erstaunlich ernsthaften Erkenntnisbemühungen der britischen Kritik um Charlotte Roches "Wetlands".

Besprochen werden die Ausstellung "Die verborgene Spur - Jüdische Wege durch die Moderne" im Osnabrücker Nussbaum-Haus und neue Berlinale-Filme.

Auf der Magazinseite unterhält sich Andrea Seibel mit der Schauspielerin Karin Dor, die ihren Mann pflegte, und dem Hirnforscher Michael Madeja über die Alzheimer-Krankheit. Und auf der Forumsseite erinnert Berthold Seewald an die beiden großen 200-Jährigen Lincoln und Darwin.

Spiegel Online, 12.02.2009

Warum wird das Kindle als ein E-Book bezeichnet?, fragt völlig zurecht Konrad Lischka. Mit diesem "Reading Device" lassen sich doch nicht nur Bücher vertreiben. Warum nicht Fortsetzungsromane, wie einst im 19. Jahrhundert, oder einfache Erzählungen für die U-Bahnfahrt: "Autoren wie Nikolai Gogol, Guy de Maupassant, Edgar Allan Poe und Anton Tschechow waren berühmt für ihre Kurzgeschichten und Erzählungen. Und die sind zuerst oft in Zeitschriften und Zeitungen erschienen - als kurze, schnelle, unterhaltende Lektüre für einen Abend." Und noch eine Frage: "Könnte es sein, dass man mit einem anderen Produkt als dem Buch neue Käufergruppen für Literatur gewinnen könnte?"

NZZ, 12.02.2009

Der Münchner Amerikanist Michael Hochgeschwender befindet zu Abraham Lincolns zweihundertstem Geburtstag, dass er nicht die Verklärung nötig habe, die schon mit seiner Ermordung einsetzte: "Drei Tage später, am Ostersonntag, wurde er beerdigt. Der Prediger, der der Feier vorstand, erklärte, Lincoln sei der gekreuzigte Christus der Union. Doch Abraham Lincoln war zu Lebzeiten kein Heiliger, sondern ein vorsichtiger Politiker mit dem Gespür für das Machbare in einer aufgeregten Zeit. Vielleicht sollte man sich in unseren Tagen eher dieser Qualitäten erinnern als an den messianischen Mythos, der jüngst, in den Tagen der Inauguration Barack Obamas, so intensiv beschworen wurde."

Weitere Artikel: Susanne Ostwald zeigt sich auf der Filmseite vor allem von Frank Lagellas schauspielerischer Leistung in Ron Howards "Frost/Nixon" angetan. Martin Girod hat sich auf dem Forum der Berlinale umgetan und findet die hier gezeigten Filme alle schön unhektisch.

Außerdem wird das Programm des diesjährigen Theatertreffens vorgestellt. Besprochen werden Adam Zagajewskis Essaysammlung "Verteidigung der Leidenschaft" und Stefan Beuses Roman "Alles was du siehst" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 12.02.2009

Manoel de Oliveira, der 1908 geborene älteste aktive Filmregisseur der Welt, zeigt auf der Berlinale sein neues Werk "Singularidades de uma rapariga loura" - "Die Eigenheiten einer jungen Blondine". Im Gespräch besteht er darauf, dass es nicht Aufgabe des Künstlers sei, zu bewerten: "Ein Künstler zeigt das, was da ist. Er zeigt, dass wir uns in einer ewigen Wiederholungsschleife befinden. Für die Zukunft der Menschheit oder der Humanität ist er nicht verantwortlich. Niemals. Das ist Aufgabe der Politik. Die Künstler arbeiten mit den Resultaten der Politik, nichts anderes."

Weitere Artikel: Diedrich Diederichsen sah die Hiphop-Biografie "Notorious", die im Berlinale-Wettbewerb außer Konkurrenz lief. Christina Nord resümiert den achten Berlinale-Tag. Besprochen werden ein Gastspiel des amerikanischen Theaterstars Richard Maxwell, der mit seiner New Yorker Truppe in der Hamburger Kampnagelfabrik "Ode to the man who kneels" zeigt, der bisher "mit Abstand beste" Film des österreichischen Regisseurs Götz Spielmann "Revanche" und die DVD des Puppen-Stop-Motion-Films "Blood Tea and Red String" (2006) von Christiane Cegavske.

Auf der Meinungsseite kommentiert Marcia Pally Barack Obamas Politik der ausgestreckten Hand. In Bezug auf seine Zugeständnisse an die Republikaner beim Konjunkturpaket meint sie. "Jetzt beginnt die ganze verflixte Geschichte noch mal von vorn. (...) Aber in dieser Wiederaufführung von 'Pontius Pilatus' besitzen die Republikaner Fäuste und Äxte. Reicht Obama ihnen die Hand, hacken sie sie ab." Und auf der Tagesthemenseite analysiert der Sachbuchautor Robert Misik die Wirtschaftskrise: "Langsam wird klar, wie groß das Ausmaß der potenziellen Katastrophe ist. Der Neoliberalismus hat der Welt das größte globale Desaster seit Hitler und Stalin beschert. Tolle Bilanz."

Hier Tom.

FR, 12.02.2009

Im Interview spricht Systemtheoretiker Dirk Baecker über den Kontrollwahn von Unternehmen, der die Loyalität auf beiden Seiten außer Kraft setzt: "Die Kategorie des Vertrauens spielt schon deshalb eine zentrale Rolle, weil sie die eine Seite einer Medaille ist, deren andere Seite Misstrauen heißt. Wir brauchen Vertrauen, aber wir testen es auch laufend. Dummerweise ist ein getestetes Vertrauen für den, der getestet wird, ein bestätigtes Misstrauen. Aus dieser kommunikativen Falle kommt niemand heraus. Nur um endlich Sicherheit zu haben, testen die Unternehmen ihr Vertrauen in die Mitarbeiter. Mit diesem Test jedoch verlieren sie den letzten Rest an Sicherheit."

"Das Lachen ist kein edler Affekt", weiß der Germanist Manfred Schneider, der den vor zwanzig Jahren verstorbenen Thomas Bernhard sehr vermisst: "Das Ressentiment ist der Meisteraffekt der Weltverschlechterung, es schlägt tausend Pfauenräder, um all die vernichtenden Urteile abzugeben, die an der Unannehmbarkeit der Welt mitwirken. Wer sich so stets am Rande des Äußersten aufhält, um von diesem Äußersten erzählen zu können, der Weltverschlechterer, verfügt über die teuflische Gabe des Lachens."

Weiteres: In Times mager erklärt sich Christian Thomas die Schließung von Norman Fosters Büro in Berlin damit, dass Deutschland in Zeiten des schwachen Pfunds kein Billiglohnland mehr ist. Stefan Keim bewundert Richard Maxwells ganz eigene Theatersprache. Harry Nutt meldet, dass das Deutsche Historische Museum Plakate der Sachs-Sammlung zurückgeben muss. Besprochen werden Götz Spielmanns Film "Revanche", Hermine Huntgeburths Fontane-Verfilmung "Effi Briest" sowie Konzerte von Maceo Parker und Tower of Power in Frankfurt.

Zeit, 12.02.2009

Christof Siemes hält zur Klage des Rowohlt Verlag gegen den Spiegel wegen dessen Vorabrezensionen zu Daniel Kehlmanns Roman "Ruhm" fest, dass die Sperrfrist vor allem das Marketingkonzept der Verlage schützen soll: "Hier ein Vorabdruck, der die (Kauf-) Lust der Leser auf das ganze Werk befeuern soll, dort eine Homestory, die den Autor im besten Licht zeigt, schließlich das Vorabinterview, in dem Kehlmann seinen Roman ausführlich erläutert und ihn - Überraschung! - für seinen besten und avanciertesten hält. Der Autor als sein eigener Kritiker: Vielleicht sollte das Landgericht Hamburg, vor dem die Klage verhandelt wird, zunächst prüfen, ob nicht Kehlmann selbst als Erster die Sperrfrist gebrochen hat."

Vor allem starke Frauenfiguren hat Katja Nicodemus bisher auf der Berlinale gesehen und als schönsten und schrecklichsten Film "Katalin Varga" von Peter Strickland. Diedrich Diederichsen hätte sich für Tom Tykwers Weltverschwörungsthriller "The International" statt des James Bond-Verschnitts einen Francesco-Rosi-Ermittler als Helden gewünscht. Und Ulrich Greiner beschreibt Baron Instettens Sexualverhalten in Hermine Huntgeburths "Effi-Briest"-Verfilmung mit folgenden Worten: "Anstatt sie liebevoll an- und aufzuwärmen, macht er sich in einer Weise über sie her, die man nicht anders denn eine Vergewaltigung nennen kann."

Weiteres: Hanno Rauterberg erinnert an das Futuristische Manifest, mit dem vor hundert Jahren die italienischen Maler um - den späteren Faschisten - Filippo Tommaso Marinetti die Kunst mit dem Leben verbinden wollten und die sich heute pudelwohl fühlen würden: "Wie glorreich der Bankrott der Banken! Wie herzerquickend die Ratlosigkeit der Politik." Moderiert von Thomas Groß sprechen der Schauspieler Jan Josef Liefers (Dresden) und der Kabarettist Frank Goosen (Ruhrgebiet) über die Soundtracks ihrer Kindheit. Thomas Assheuer bekreuzigt sich angesichts der Rückkehr des katholischen Antimodernismus. Besprochen wird Peter Zadeks Shaw-Inszenierung "Major Barbara" in Zürich.

Im Aufmacher des Literaturteils preist Stefan Rebenich den Althistoriker Christian Meier und seine Geschichte Griechenlands "Kultur um der Freiheit willen".

SZ, 12.02.2009

Stephan Speicher hält, die bevorstehende Berliner Abstimmung zum Thema "Pro Reli" betreffend, den Religionsunterricht in Deutschland - Goethe und Mosebach zitierend - für die selbstverständlichste Sache der Welt. Susanne Klingenstein schildert, wie Bernhard Schlink, der gerade in New York lehrt, seinen "Vorleser" mit Begleitargumentation flankiert. Alex Rühle freut sich am 20. Todestag von Thomas Bernhard, dass dessen Wortschöpfung "Lebensmensch" nun, als Absurdität aus dem Mund des Jörg-Haider-"Schoßhunds" Stephan Petzner, in Österreich zum Wort des Jahres geworden ist. Lothar Müller hat die Vorlesung gehört, mit der Jan Philipp Reemtsma seine Schiller-Professur in Jena antrat. Roman Deininger fragt, ob Abraham Lincoln wirklich als Vorbild für Barack Obama taugt. Nora Sobich schreibt über den Riesen-Verkaufserfolg eines Bausatzes von Lincolns Blockhütte. Alexander Runte staunt über die Wiederkehr des Krautrock - in England.

Auf der Berlinale-Seite schreibt Susan Vahabzadeh über die Wettbewerbsfilme "Cheri", "London River" und "Katalin Varga". Georg Diez macht sich Gedanken zu Globalisierungsfilmen und ihren Botschaften. Anke Sterneborg findet die "Sprachlosigkeit", der sie in den Filmen der "Perspektive Deutsches Kino" begegnet, einigermaßen "befremdlich". Doris Kuhn porträtiert den im Panorama-Programm gefeierten Warhol-Star Joe Dallesandro.

Besprochen werden Hasko Webers Stuttgarter Theater-Version von Andrei Tarkowskis Film "Stalker", eine Arbeit von Simon Starling in der temporären Berliner Kunsthalle, Götz Spielmanns Oscar-nominierter Spielfilm "Revanche" und Bücher, darunter Klaus Ferentschiks "Weltmaschinenroman" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 12.02.2009

Jürg Altwegg stellt fest, dass bei den aktuellen Diskussionen über Nachlassveröffentlichungen der Großdenker Barthes und Foucault ihre politischen Irrtümer gerne verschwiegen werden: "Hartnäckig wird Foucaults Faszination für Chomeinis Revolution verdrängt. Und fast ebenso systematisch die Reise der Tel Quel-Redaktion 1974 nach China verharmlost. Gleichzeitig mit Foucaults Vorlesungen sind aus dem Nachlass von Roland Barthes dessen Notizen und Aufzeichnungen erschienen: 'Carnets de voyage en Chine'. Andre Gide hatte nach seiner Rückkehr aus Moskau mit dem Kommunismus gebrochen, die Pariser Maoisten der intellektuellen Avantgarde blieben ihren Illusionen auch nach drei Wochen im realen Totalitarismus treu. Barthes, neben Foucault, Lacan und Levi-Strauss der einflussreichste Denker der sechziger und siebziger Jahre, veröffentlichte einen sträflich naiven Artikel in Le Monde."

Weitere Artikel: Julia Voss bereitet die Leserschaft auf eine neue Serie vor, in der sich in den nächsten Wochen Publizisten und Gelehrte aller Couleur zu Charles Darwin äußern dürfen. Als erster ist Hubert Markl dran. Mara Delius hat den Schriftsteller Werner Fritsch bei den Frankfurter Poetikvorlesungen gehört. In der Glosse klagt Regina Mönch über Schulreformen in Berlin. Günter Kowa berichtet von Versuchen, den Wiederaufbau der Magedeburger Ulrich-Kirche auf die Beine zu stellen. Paul Ingendaay hat einen spanischen Dokumentarfilm gesehen, der die Authentizität von Robert Capas berühmtem Bürgerkriegsfoto, die eigentlich als gesichert galt, wieder in Zweifel zieht. Mit leiser Skepsis kommentiert er die nun vom Prado publizierte Studie, derzufolge nicht mehr Goya als Maler des berühmten Gemäldes "Der Koloss" zu betrachten sei. Dirk Schümer stellt die italienische Kulturbehörde "Beni Culturali" vor. Wolfgang Sandner informiert über die Gründung eines Albert-Mangelsdorff-Archivs. Patrick Bahners schreibt zum Tod des Philosophen Andreas Kuhlmann, von Andreas Rossmann stammt der Nachruf auf den Museumsdirektor Johannes Cladders.

Auf der Filmseite dominiert klar die Berlinale. Einem Interview mit Christoph Schlingensief darf man entnehmen, dass er über die von ihm zu begutachtenden Wettbewerbs-Filme gerade nicht überglücklich ist: "Hier sieht man jetzt natürlich Filmchen, die alles sehr stark im Kausalzusammenhang behandeln. Aber mein Freund, der Schauspieler Alfred Edel, hat mir beigebracht, wenn ich etwas geschrieben hatte, zu sagen: 'Ist das kausal, oder ist das akausal? Wenn es akausal ist, ist es gut!' Das ist etwas, was vielleicht für die Zukunft auch bei der Berlinale-Programmauswahl wieder mehr präsent sein müsste." Hans-Jörg Rother hat Dokumentarfilme von Hans-Christian Schmid und Thomas Heise gesehen, Andreas Platthaus schreibt über Chen Kaiges Wettbewerbsbeitrag "Forever Enthralled". Hingewiesen wird auf die neue Film- und Kulturzeitschrift Cargo.

Besprochen werden eine von Roman Brogli-Sacher inszenierte und dirigierte "Salome" in Lübeck, und Bücher, darunter Barbara Piattis Studie zur "Geografie der Literatur" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).