Heute in den Feuilletons

Selber denken macht fett

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.11.2009. Auch die Afrikaner wollen Strom: In der Welt protestiert die ugandische Menschenrechtlerin Fiona Kobusingye gegen die Klimaschützer. In der FR bekennt Jakob Augstein, dass er der Sohn von Martin Walser ist. Die NZZ berichtet über die geplante Pantheonisierung Albert Camus' und ihre Gegner. Die taz und andere Zeitungen kritisieren die für heute geplante Absetzung des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender. In der SZ  analysiert der Psychologe Peter Kruse die Angst  Frank Schirrmachers vorm Kontrollverlust durch das Netz.

Welt, 27.11.2009

In einem furiosen Artikel auf der Forumsseite wendet sich die ugandische Menschenrechtlerin Fiona Kobusingye gegen Al Gore und den Diskurs der Klimaschützer: "Die durchschnittliche Lebenserwartung in Afrika ist niedriger als in den Vereinigten Staaten und Europa vor 100 Jahren. Aber uns Afrikanern wird gesagt, wir sollten uns nicht entwickeln, keinen Strom oder Autos haben, denn jetzt, da diese Länder reicher sind, als Afrikaner sich das überhaupt vorstellen können, machen sie sich über die globale Erwärmung Sorgen. Al Gore und der UN-Klima-Chef Yvo de Boer sagen uns, die Welt braucht eine Energiediät. Nun, ich habe Neuigkeiten für sie. Afrikaner sind bereits mitten drin in der Reduktionsdiät: Wir verhungern!"

Im Feuilleton erinnert Jenni Roth an den Beginn von Stalins Krieg gegen Finnland vor siebzig Jahren, den Stalin verlor, weil die Finnen noch größere Virtuosen des Winters waren als die Russen. Kai-Hinrich Renner vermutet, dass der ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender trotz zahlreicher Proteste heute wohl von der CDU abgesägt wird. In der Leitglosse staunt Peter Dittmar über Fantasiepreise für wertlosen Plunder, die auf Auktionen immer dann erzielt werden, wenn er Prominenten gehörte. Gabriela Walde annonciert das große Berliner Ausstellungsereignis des Jahres 2011 - "Gesichter der Renaissance", eine Kooperation der Berliner Museen mit dem Metropolitan Museum in New York und weiteren internationalen Sammlungen. Olaf Neumann unterhält sich mit Campino von den Toten Hosen über Konzerte, die die Band vor dem Mauerfall heimlich in der DDR gab. Hanns-Georg Rodek gratuliert dem Regisseur Peter Lilienthal zum Achtzigsten. Manuel Brug hat neue Choreografien klassischer Ballette in Karlsruhe und Zürich gesehen. Abgedruckt wird die Rede des Kardinals Lehmann zur nunmehr friedlich abgewickelten Entgegennahme des Hessischen Kulturpreises.

FR, 27.11.2009

Ulrike Simon stellt in einem Porträt den Journalisten und Freitag-Herausgeber Jakob Augstein etwas richtig: Der Mann ist gar kein berühmter Journalisten-Sohn, sondern berühmter Schriftstellersohn. "Rudolf Augstein, 2002 gestorben, war zwar Jakobs gesetzlicher Vater. Nicht jedoch sein leiblicher. Das war Martin Walser, der 82-jährige, am Bodensee lebende Schriftsteller. Ja, sagt Jakob Augstein: 'Das ist lange bekannt, und ich bestätige Ihnen das gerne.' Maria Carlsson hatte Rudolf Augstein und Martin Walser einst miteinander bekannt gemacht. Jeder für sich gilt als großer Mann der deutschen Nachkriegszeit. Die beiden waren befreundet, sie teilten ihr Wissen."

Werner Girgert beschreibt die schöne neue Welt von London, wo es zwar keine bezahlbaren Wohnungen mehr gibt, dafür jede Menge piekfeiner Ausgehzonen: "Die fortschreitende Enteignung des öffentlichen Raums in Gestalt seiner exklusiven Reinszenierung lässt sich am Südufer der Themse, einem ehemaligen Industrie- und Hafenareal, hautnah erleben. Auf der ausgebauten Promenade mit Publikumsmagneten wie der Tate Modern, einem Design-Museum und dem Globe Theatre ist nur geduldet, wer den Ordnungs- und Sauberkeitsvorstellungen der Allianz aus Investoren und Politik genügt. Hinweistafeln informieren über nicht toleriertes Verhalten jenseits von Konsum und Kommerz. Videokameras wachen darüber, dass unerwünschte Nutzergruppen sich nicht breit machen, Bettler oder Straßenhändler sucht man hier vergebens."

Weiteres: Harry Nutt berichtet von einer Berliner Tagung über die Deutschen. Harald Keller trauert um den insolventen Auto-Zulieferer Karmann, dem die Welt den VW-Sportwagen Karmann Ghia verdankte. Besprochen werden die Konzerte der Kölner MusikFabrik und Rainald Goetz' Bericht aus dem Kulturleben "loslabern"

NZZ, 27.11.2009

Marc Zitzmann berichtet von den widerstrebenden Reaktionen auf Nicolas Sarkozys Pläne, Albert Camus ins Pantheon zu überführen: "Fachautoritäten wie der Camus-Biograf Olivier Todd oder der Journalist Jean Daniel, ein Freund des Schriftstellers, haben sich schon jetzt klar gegen Sarkozys Ansinnen ausgesprochen. Der Philosoph Michel Onfray rief gar den Präsidenten auf, sich zu Camus' Werten zu bekehren: etwa zur Wertschätzung der Rolle der Gewerkschaften oder zum Kampf für die Kleinen, Armen und Vergessenen im Geist eines libertären Sozialismus. Die Forderung, der Saulus möge sich zum Paulus wandeln, ist gewiss realitätsfremd und zudem kein Argument gegen Camus' 'Pantheonisierung' - ein Präsident muss die Werte derer, die er ehrt, ja nicht teilen. Aber grundsätzlicher zeugen solche Stellungnahmen von der Angst, Camus werde einbalsamiert und entschärft."

Weiteres: Joachim Güntner gibt den gegen die Bologna-Reform protestierenden Studenten ein wenig Schützenhilfe, zumal sie keine gesamtrevolutionären Anwandlungen pflegen und erinnert unter anderem an Hannah Arendts schöne Maxime: "Selber denken macht fett." Jonathan Fischer lässt sich von der oberbayrischen Kapelle La Brass Banda ihren Erfolg so erklären: "'Die Leute haben einfach wieder Lust auf Musik mit Dreck drin - Handfestes, das sie auf tieferer Ebene berührt.'"

Besprochen werden Alban Bergs "Wozzeck" in einer Eigenproduktion im Moskauer Bolschoi-Theater und Peter Brooks Inszenierung von "Eleven and Twelve" in Paris.

TAZ, 27.11.2009

Es gehe um nicht weniger als journalistische Unabhängigkeit meint Ines Pohl auf der Meinungsseite über das Geschachere um die Ablösung von ZDF-Chef Nikolaus Brender. Und findet: "So ist nicht nur das intrigante Vorgehen von Roland Koch skandalös, sondern vor allem das Verhalten der sogenannten gesellschaftlichen Gruppen in den ZDF-Gremien. Sie haben die Pflicht, die Gesellschaft und deren Interessen zu vertreten. Ihr Stillhalten belegt indes, dass sie sich längst zum politischen Stimmvieh haben degradieren lassen. Dass sie zur Causa Brender so beredt schweigen, sagt alles. Das ist der Skandal."

Auf den Tagsthemenseiten untersucht Steffen Grimberg die Rolle von Roland Koch in der Geschichte und sieht die Drahtzieherin im Kanzleramt sitzen. Und mit Max Büch schreibt er über die "Mär von der Staatsferne" im öffentlichen Fernsehen sowie die Initiative von über dreißig Juristen, die von Karlsruhe eine Prüfung der Einflussnahme von "Granden von SPD und Union" im ZDF-Verwaltungsrat fordern.

Im Kulturteil spricht die britische BBC-Moderatorin Mary Anne Hobbs über ihre wöchentliche Kultsendung "Experimental Show" und ihre neue, inzwischen dritte Compilation "Wild Angels". Besprochen werden der Film "Nokan - Die Kunst des Ausklangs", worin der Regisseur Yojiro Takita sehr einfühlsam von der Kunst des Bestattens und der Zeremonie des Abschiednehmens erzählt, und die neue CD "What Will We Be" des kalifornischen Sängers Devendra Banhart.

Und Tom.

FAZ, 27.11.2009

In einer versöhnlichen Rede bedankt sich der Autor Navid Kermani für die Zuerkennung des Hessischen Kulturpreises, ohne doch von seiner Kritik an Roland Koch oder am Zentralrat oder seinem umstrittenen Text zum christlichen Kreuz etwas zurückzunehmen. Den tieferen Grund für den Konflikt erkennt er freilich in einer Rollenverwechslung. Seine Guido-Reni-Deutung war ein literarischer Text, und keineswegs, auch wenn sie von vielen so aufgefasst worden sei, eine Äußerung, die er als Repräsentant einer Religion getan hätte: "Beinah könnte man darüber lachen: Ausgerechnet ich bin in die Identitätsfalle getappt, die ich zuvor in meinen Essays beschrieben hatte. Ja, ich bin Muslim, und ja, ich bin Schriftsteller. Aber ich bin kein muslimischer Schriftsteller. Die einzige Gemeinschaft, der ich als Schriftsteller angehören möchte und vom heutigen Abend an hoffentlich wieder ausschließlich angehören werde, ist weder Nation noch Konfession. Es ist eine Literatur. Ich bin ein deutscher Schriftsteller."

Auf der Medienseite warnt Oliver Jungen vor der Wiederkehr staatlicher Lenkungs- und Disziplinierungsmechanismen im Internet. Er leitet den Text mit einer Beschreibung dessen ein, was dadurch in Gefahr gerät: "Das Internet ist die bedeutendste Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts: eine friedliche Revolution im Geiste der Dezentralisierung, die größte Stimulation, die der Weltgeist je erfahren hat... Und doch konnte man hierzulande ... letzthin den Eindruck gewinnen, es handele sich um einen Tummelplatz von Räubern, Terroristen und Triebtätern. Nicht nur die Netzgemeinde argwöhnt, dass es bei der rhetorischen Degradierung des Internets zum digitalen Bahnhofsviertel darum ging, den staatlichen Zugriff auf das System zu erleichtern." (Am Ende setzt sich Jungen dann aber wieder aufs FAZ-Steckenpferd und reitet gegen Google und die Öffentlich-Rechtlichen.)

Weitere Artikel: Martin Thoemmes berichtet von einer deutsch-dänischen Tagung zum Thema "1864 - und der lange Schatten der Geschichte" in Kopenhagen. Einen Vortrag des Neuroästhetikers Semir Zeki in Berlin hat sich Mara Delius angehört. In der Glosse kritisiert Dieter Bartetzko die "Gewinnmaximierungs"-Fixierung der Bahn, die sich an den Zerstörungsplänen fürs potenzielle Weltkulturerbe Stuttgarter Hauptbahnhof mal wieder manifestiere. Bartetzko gratuliert auch dem Deutschen Architektur Museum (Website) in Frankfurt zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen.

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von Christopher Wheeldons "Schwanensee"-Choreografie, Sandra Nettelbecks in den USA gedrehter Film "Helen" und Bücher, darunter Robert Harris' zweiter Teil seiner Cicero-Biografie "Titan" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 27.11.2009

Haben wir gestern zu spät gesehen. Johannes Kuhn interviewt den Psychologen Peter Kruse zu den Thesen Frank Schirrmachers in seinem neuen Buch "Payback" ("Das Internet zermanscht uns das Gehirn"): "Auf nahezu jeder Seite von 'Payback' spürt man das Unwohlsein des Autors angesichts des realen oder befürchteten Kontrollverlustes: Herr Schirrmacher vertritt offenkundig die Idee, dass es die Aufgabe des Individuums ist, sich die Welt untertan zu machen, sie zu beherrschen oder wenigstens zu bewältigen - alles eine Frage guten Managements."

Gleich zwei Ausstellungen in Frankfurt ermöglichen die Wiederentdeckung des sehr jung verstorbenen Künstlers Peter Roehr. Es ist dafür, findet Holger Liebs, höchste Zeit: "Er war noch nicht mal zwanzig, da hatte Roehr das Formprinzip gefunden, das er zeitlebens verfolgte. Er dachte in Serien. Er montierte vom Paketaufkleber bis zur VW-Radkappe ausschließlich vorgefundene Alltagsware, industrieerzeugt, zu beinahe immer quadratischen Formaten. Er schaffte den formerfindenden Künstler in sich ab, tötete das Individuum, den Autor, der Tafelbilder mit der Hand produziert."

Weitere Artikel: Gerhard Matzig glaubt zwar, dass das Architekturstudium grundlegend verändert gehört - mit der bloßen Forderung der Bundesarchitektenkammer nach Verlängerung der Studienzeit ist es seiner Ansicht nach freilich nicht getan. Warum der Streit um Erika Steinbach vor allem den polnischen Nationalisten nützt, erklärt Thomas Urban. Rainer Gansera gratuliert dem Filmemacher Peter Lilienthal zum Achtzigsten.

Besprochen werden die Aufführung von Hans-Werner Kroesingers Dokutheater-Stück "Ruanda Revisited" beim Impulse-Festival in Düsseldorf und Köln, ein Konzert der Fado-Sängerin Cristina Branco in München, Chris Weitz' Stephenie-Meyer-Verfilmung "New Moon", das Videospiel "Call of Duty: Modern Warfare 2" und Bücher, darunter Barney Hoskyns' 700-Seiten-"Tom Waits"-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).