Heute in den Feuilletons

Die Künstlichkeit bleibt unerlöst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2009. In der NZZ preist Mario Vargas Llosa die EU als das einzige politische Projekt der Welt, das zugleich revolutionär und Realität ist. In der SZ ergründet Georg Klein die Kunst des David Lynch. In der Welt geht Norbert Zähringer der großen Schweinegrippe-Verschwörung nach. Die FAZ ertappt Roland Koch bei einer Verstiegenheit zur Tarnung der Taktlosigkeit. Die FR geht auf Baustellen-Tour in Südafrika. Und die taz erkundet Seouls neue Clubkultur. 

NZZ, 28.11.2009

"Die Europäische Union ist das einzige soziale und politische Projekt, das zutiefst revolutionär und Realität geworden ist. Alle anderen sind verschwunden und Fiktion", sagt der peruanische Schriftsteller Schriftsteller Mario Vargas Llosa im Gespräch über die Lage der Welt, die Rolle der Intellektuellen und die Tradition des Caudillos. Das vielbeschworene neue Selbstbewusstsein in Lateinamerika sieht er nicht: "Das ist die europäische Vision eines folkloristischen Lateinamerika. Wirkliche Emanzipation kommt mit dem Fortschritt, in diesem Sinne ist Chile emanzipierter als alle, nicht aufgrund eines Selbstbewusstseins, sondern weil es prosperiert, weil es weniger Armut aufweist und mehr Bildung auf allen gesellschaftlichen Ebenen bietet. Das gibt dem Land wahre Souveränität und Unabhängigkeit. In der Armut Boliviens, Ecuadors und Nicaraguas gibt es keine Emanzipation, auch wenn die Staatsführer das zehnmal täglich erzählen."

Außerdem in Literatur und Kunst: Peter von Matt erklärt Kafka: "Kafka lebte um des Schreibens willen. Er lebte nicht um des Geschriebenen willen." Holm Tetens erinnert sich noch dunkel an die einstige Idee der Universität. Roman Luckscheiter schreibt zum hundertsten Geburtstag von Eugene Ionesco.

Im Feuilleton berichtet Barbara Villiger Heilig begeistert von Martin Kusejs Zürcher Bühnenfassung des Theo-van-Gogh-Films "Das Interview": "Eine grauenhafte Geschichte - und phantastisches Theater. Schritt für Schritt, immer wieder von irgendwoher Anlauf nehmend und immer wieder auflaufend im nächsten Teildesaster, entwickeln Birgit Minichmayr und ihr Schauspielpartner Sebastian Blomberg den Balztanz als Machtkampf. Eine liaison dangereuse zwischen zwei Champions der Manipulation, die sich - das merken beide bald - gegenseitig gewachsen sind, auch wenn sie aus verschiedenen Welten kommen."

Weitere Artikel: Als schillernde Figur porträtiert Ulrich M. Schmid den Russen Wladislaw Surkow, der tagsüber Moskaus mächtige Präsidialadministraion leitet, und nachts düstere Gangsta Fiction schreibt. Stephan Templ berichtet vom heftigen Streit in und um das neugegründete Wiener Simon-Wiesenthal-Institut. Schließlich erklärt in dieser Woche Norbert Gstrein seinen Stil.

Besprochen werden eine Ausstellung chinesischer Tempelmodelle im Architekturmuseum der TU München und Bücher, nämlich Martin Gülichs Roman "Septemberleuchten" und Ellen Johnson Sirleafs Erinnerungen "Mein Leben für Liberia" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 28.11.2009

In der Literarischen Welt liest der Schriftsteller Norbert Zähringer in Blogs Verschwörungstheorien zur Schweinegrippe. Beliebtes Ziel: die amerikanische Pharmamafia. "Befindet sich denn nicht unweit der Hütte jenes armen Edgar Hernandez in La Gloria eine Schweinemastfarm des amerikanischen Unternehmens 'Smithfield Foods'? Dessen Chef heißt Larry Pope, was kaum weniger Spott auslösen dürfte wie der Name jener Bundesinstitution, die die Sicherheit von Arzneimitteln hierzulande beurteilen soll: dem Paul-Ehrlich-Institut. 'Ehrlich?', höhnte ein Blogger, 'das ich nicht lache.' Alle steckten mit der Pharmaindustrie unter einer Decke - und überhaupt: Warum musste man den Impfstoff bei amerikanischen Konzernen einkaufen, anstatt ihn selbst herzustellen? Nur ist der Hersteller des in Deutschland verwendeten Impfstoffs 'Pandemrix' ein britisches Unternehmen, die Adjuvantien werden in Belgien zusammengemixt, und das Antigen in Dresden ausgebrütet. [...] Der Paranoiker wünscht sich eine Antwort, eine einzige nur. Dass die Konzerne ihre Gewinne maximieren wollen, das Virus aber trotzdem gefährlich sein könnte, kommt in seiner Vorstellung nicht vor."

Weiteres: Tilman Krause porträtiert den französischen Schriftsteller Richard Morgieve. Besprochen werden u.a. Maxim Billers Selbstporträt "Der gebrauchte Jude", Robert Menasses Erzählband "Ich kann jeder sagen", Matthias Küntzels Buch "Die Deutschen und der Iran" und Barbara Bongartz' Roman "Perlensamt".

Im Feuilleton bedauert Uwe Wittstock die Entschuldigung Roland Kochs bei der Verleihung des Hessischen Kulturpreises: der Preis war Navid Kermani erst zuerkannt, dann aberkannt, dann wieder zuerkannt worden. Kochs Entschuldigung wirkte zwar besänftigend, zielte aber in die falsche Richtung: "So war der Konflikt um Kermani in Kochs Augen zwar bedauerlich, aber definitiv 'kein Grund gewesen, die Heraushebung der Verdienste von Judentum und Christentum zu unterlassen'. Die Frage, ob Lehmanns und Steinackers Empörung über Kermani berechtigt war oder nicht, spielte bei diesen Überlegungen offenbar die geringste Rolle."

Besprochen werden eine Ausstellung über Manieren im Bremer Focke-Museum und Jossi Wielers Inszenierung der Aischylos-Tragödie "Prometheus, gefesselt" an der Schaubühne.

FR, 28.11.2009

Christian Thomas ist mit weiteren geladenen Journalisten in Südafrika unterwegs, um den Gang der Dinge beim WM-Stadionbau zu begutachten. Es wird ihm freilich aus anderen Gründen ganz anders: "Wir schauen beklommen vom Bus aus auf die Downtown von Johannesburg, während der ARD-Kollege Richard Klug Downtownteile als No-Go-Areas mit dem Zeigefinger markiert. Lebensgefährlich, und vielleicht ist es in der nächsten Woche schon eine andere Straße. Entgeistert fahren wir durch Soweto, die South Western Township, in der zwei Millionen, vielleicht drei Millionen auf der Fläche von drei Frankfurter Vororten leben. Wir, die Journalistengruppe, die von gmp-Architekten nicht nur zu einer Baustellenreise eingeladen wurde, schauen auf Gegensätze. Parallelgesellschaft? Migrationshintergrund? Eurozentrische Erklärungsmuster kollabieren."

Weitere Artikel: Ulrike Simon setzt die von ihr in die Welt gesetzte Jakob-Augstein-Geschichte gleich selber fort: mit gesammelten Reaktionen auf die Enthüllung, dass Augstein der biologische Sohn nicht Rudolf Augsteins, sondern Martin Walsers ist. Natalie Soondrum erläutert, was es mit der "'Florence Declaration' zum Erhalt analoger Fotoarchive" auf sich hat. Ina Hartwig begeistert sich in einer Times Mager für einen "Leidenschaften" betitelten Band mit Texten über "99 Autorinnen der Weltliteratur". In ihrer US-Kolumne liest Marcia Pally Sarah Palins sofort zum Bestseller gewordenes Buch "Going Rogue".

Besprochen werden zwei Frankfurter Ausstellungen, die die Wiederentdeckung des jung verstorbenen Künstlers Peter Roehr ermöglichen, die Uraufführung des Stücks "Buback" in der Brotfabrik Frankfurt und Gerard Donovans Kriminalroman "Winter in Maine" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 28.11.2009

Uh-Young Kim entdeckt avancierte Clubkultur, wo man sie bislang nicht vermutet hätte, in Südkoreas Hauptstadt Seoul: "Unterm Radar des eurozentrischen Hipstertums hat sich hier dennoch in nur wenigen Jahren eine vielseitige Clublandschaft herausgebildet. Mittlerweile findet man alles, was das Dance-Music-Herz begehrt: die Techno-Afterhour, den Dubstep-Allnighter oder das Abstract-HipHop-Jam. Und wie bei jeder neuen Bewegung in Südkorea nimmt der Boom in der Clubkultur gerade rasant an Fahrt auf. Vor 15 Jahren glich Seoul einer popkulturellen Wüste. Wer ausgehen wollte, musste in sogenannten Nite Clubs einen Tisch für viel Geld reservieren und bekam dafür wenig Spaß. Der Plattenunterhalter spielte Pophits und Stehblues. Über das Internet sind nun auch die DJs in Südkorea an den Puls der globalisierten Dance Music angeschlossen."

Weitere Artikel: Daniel Bax kommentiert knapp den "versöhnlichen" Ausgang des Skandals um den Hessischen Kulturpreis. Wolfgang Gast glossiert in der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne neueste RAF-Deutungen. Andreas Fanizadeh unterhält sich mit David Schalko über dessen Roman "Weiße Nacht", in dem dieser den Jörg-Haider-Kult in Österreich aufarbeitet.

Besprochen werden Michael Glawoggers Josef-Haslinger-Verfilmung "Das Vaterspiel", neue Kinder- und Jugendbüchermehr und Edward Burtynskys Bildband "Oil" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der beiliegenden Weihnachts-literataz geht es unter anderem um die "Naturphilosophie" des Philosophen Paul Feyerabend.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 28.11.2009

Im Magazin unterhält sich Petra Ahne mit David Marwell, der für das US-Justizministerium acht Jahre lang NS-Täter gesucht hat. Über den in wenigen Tagen beginnenden Prozess gegen John Demjanjuk sagt er: "Wenn man den Fall für sich betrachtet, ist es absolut angemessen, dass er für seine Taten zur Verantwortung gezogen wird. Wenn man ihn im Kontext der Verfolgung von NS-Verbrechen sieht, ist es natürlich kurios, dass gerade dieser Mann im Zentrum eines der letzten NS-Prozesse stehen wird: Er ist kein Deutscher, seine Rolle bei den Verbrechen war, sagen wir es so, nicht selbst gewählt. Er hat Sobibor nicht geschaffen, er hat es nicht organisiert, er war Teil davon. Vermutlich ein williger und aktiver Teil, aber es ist doch etwas anderes als die, die ihn rekrutiert haben, die ihm die Wahl ließen, zu verhungern oder die Waffe in die Hand zu nehmen und sich ausbilden zu lassen."
Stichwörter: Demjanjuk, John, Sobibor

SZ, 28.11.2009

Georg Klein hat sich die Brühler Ausstellung mit David Lynchs nicht-filmischer Kunst angesehen und findet das Erlebnis jedenfalls eigentümlich: "Die legendären Filmsets und die gezeigte Installation verbindet ihre theatralisch überdeutliche, fast prätentiöse Gemachtheit. Aber während im Film die Kamerabewegung, die Präsenz der Schauspieler und die Einbettung in Handlung unsere Wahrnehmung zu der einzigartigen Raumillusion steigern, für die Lynch berühmt ist, dominiert nun das Attrappenhafte. Die Künstlichkeit bleibt unerlöst. Es ist, als ginge man durch eine stillstehende, ihrer Schreckfiguren beraubte Geisterbahn, deren Betreiber versehentlich vergessen hat, die Musik abzuschalten." Außerdem hat sich Klein auch gleich noch mit Lynch über dessen Kunst unterhalten.

Weitere Artikel: Tobias Kniebe erzählt, wie es zur Domestizieriung des Vampirmythos kam, die mit Stephenie Meyers "Twilight"-Saga nun ihren Höhepunkt erreicht hat. Angesichts der Pleite des Wüstenstaats Dubai wird, findet Laura Weissmüller "das Kolonialgehabe der westlichen Architekten und Kulturschaffenden", die dort westliche Architektur und Kunst abwarfen, nur noch deutlicher. Die BBC wird, wie Alexander Menden meldet, einen Tanzabend der Ballets Russes um eine Choreografie gekürzt ausstrahlen, weil sie dem Publikum nicht zumuten will, dass es einem Papst beim Vergewaltigen und Erwürgen zusehen muss. Auf den aktuellen Stand katholischer Liturgiestreitigkeiten bringt uns Alexander Kissler.

In der SZ am Wochenende eröffnet Georg Diez eine Serie zur Bilanz der Nullerjahre. Benjamin Henrichs erinnert an die letzte Reise des Schauspielers Ulrich Wildgruber, der vor zehn Jahren auf Sylt ins Wasser ging. Was ist nur aus John Waters geworden, fragt Dirk Peitz sich - und den Regisseur selbst. Der Anlass: John Waters' Film "Hairspray" ist nun als Musical in London zu erleben. Auf der Historienseite geht es um Anita Lasker-Wallfisch, die als Mitglied des Mädchenorchesters Auschwitz überlebte. Abgedruckt wird Ulf Erdmann Zieglers Adventserzählung "Letzte Rettung". Roman Pletter unterhält sich mit dem legendären Reporter Bob Woodward über "Informationen".

Besprochen werden Jossi Wielers "Prometheus"-Inszenierung an der Berliner Schaubühne, die Frankfurter Wiederaufführung von Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt", eine Münchner Aufführung von Felix Mendelssohn-Bartholdys Chorwerk "Elias" (Harald Eggebrecht ist vor allem vom Solisten Christian Gerhaher begeistert), Christian Stückls Münchner Volkstheater-"Hamlet", Simon El Habres Film "One Man Village" und Bücher, nämlich Barbara Bongartz' Roman "Perlensamt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 28.11.2009

Patrick Bahners bemerkt, dass sich Roland Koch bei der Verleihung des Hessischen Kulturpreises nur für eine verpatzte Kommunikation bei Navid Kermani entschuldigt hat, nicht aber für die schlechte Behandlung an sich. Und schlimmer noch: "Nach Benennung eines muslimischen Preisträgers diesem zu eröffnen, er müsse wegen der christlich-jüdischen Prägung des Landes seine Schlechterstellung hinnehmen, ist eine Verstiegenheit zur Tarnung der Taktlosigkeit." Die Reden von Roland Koch und von Salomon Korn werden abgedruckt.

Weiteres: Paul Ingendaay huldigt seinem Club Real Madrid und dessen "galaktischer" Einkaufspolitik, die am liebsten Megastars wie Zidane, Figo und Beckham mit Nobodies kombiniert. Jürgen Dollase überlegt, ob die einst klassische Küche nicht langsam zur naiven verkommen ist. Am Rande kommentiert S.K. die Babyklappe. Die Medienseite meldet, dass die WAZ den Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen sowie seine Frau und Stellvertreterin entlassen hat.

In Bilder und Zeiten besucht Hubert Spiegel Ernst Jüngers Wohnhaus in Wilfingen, das jetzt zum ersten Mal saniert werden soll. Lena Bopp reist nach Marseilles.

Besprochen werden die Doppelausstellung zu Peter Roehr in Frankfurt (für Swantje Koch die "Entdeckung des Jahres"), die Moskauer "Wozzeck"-Inszenierung, eine, wie Gerhard Stadelmaier schimpft, "verjammerlappte" Aufführung von Aischylos' "Prometheus, gefesselt" an der Berliner Schaubühne, Philippe Jarousskys "famoses" Album mit Bachs Kastratenarien "La dolce fiamma" und Bücher, darunter Maxim Billers "Der gebrauchte Jude" und Thomas Mann neu herausgegebene "Betrachtungen eines Unpolitischen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Peter von Matt Christoph Meckels Gedicht "Die Krähe" vor:

"Ich sah den Dichter
in seinem Haus, er hatte
eine Krähe geschlachtet und aß sie hungrig..."