Heute in den Feuilletons

Selbst das schwefligste Gelb wird materiell

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2012. Die FR feiert zwei Ausstellungen: Ron B. Kitaj in Berlin und Narren, Künstler, Heilige in Bonn. In der Welt wundert sich Henryk Broder: Ein neuer Faschismus erhebt sein Haupt, und der Rest der Welt steckt den Kopf in den Sand. Das war schon vor zwanzig Jahren nicht anders, meint Kenan Malik in seinem Blog. Für Tim Wu geht's mit Apple bergab. Michael Wolffsohn bedankt sich im Tagesspiegel für die Beschneidungsdebatte. Zwei deutsche Alpha-Journalisten fetzen sich auf Twitter über #LSR. Und dräuend dröhnt es aus der FAZ, denn Drohnen drohen.

FR/Berliner, 21.09.2012

Im Jüdischen Museum Berlin kann man derzeit eine große Retrospektive zum Werk des Malers Ron B. Kitaj sehen. Es ist, schreibt eine begeisterte Ingeborg Ruthe, "eine fulminante Bildversammlung in 13 Kapiteln. Der Berliner Kurator Eckhart Gillen hat Monate im Kitaj-Archiv Los Angeles zugebracht. Die Farben knallen, selbst das schwefligste Gelb wird materiell, zur Giftwand, an der alles scheitert: Diaspora. Der intellektuelle Reiz in Kitajs Bildwelt steckt freilich weniger in diesem schwierigen Thema als in der Malweise, den krassen realen Formungen, den Kontrasten, Linien, der nervösen Spannung."

Judith von Sternburg betrachtet vergnügt "Flatschmäuler, Schnäbel, Schnauzen, Glubsch- und Knopfaugen, Schlapp- und Schiefohren, Gurken- und Clownsnasen" in den Visagen der "Meister der Unordnung" - so der Titel einer aus Paris übernommenen Ausstellung, die derzeit in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen ist. Platz eingeräumt ist auch jenen, die die unberechenbaren Götter "einigermaßen verstehen können. Ein Film zeigt sie weltweit bei der Arbeit, etwa den usbekischen Heiler, der erklärt, es gehe darum, dem Dschinn mit Geschrei Angst zu machen und ihn so zu verjagen. Argumenten sind die Götter nicht zugänglich, aber ihre Eigenschaften sind nur allzu menschlich. Die Götter sind Temperamentsbolzen, die Sinnlosigkeit ihres Handelns ist damit vollständig zu erklären."

Weiteres: Peter Iden feiert die ruhmreiche Peter-Stein-Ära an der Schaubühne, die vor 50 Jahren gegründet wurde. Ulrich Seidler würdigt die "postlegendäre Schaubühne unter dem wackeren Thomas Ostermeier". Besprochen werden eine Sonderausstellung zur Kulturgeschichte der Antike im Archäologischen Museum in Frankfurt und Heinz Buschkowskys Buch "Neukölln ist überall" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf Facebook aufgeschnappt. Eine Antwort des Psychologen Manfred Lütz auf eine Frage der FR.


Perlentaucher, 21.09.2012

In vier Bilddichtungen und einem Essay schreitet der bulgarische Dichter Georgi Gospodinov die Skala des europäischen Radios von der Vorkriegszeit bis heute ab, bis zum Europa der Krise, die nicht nur eine finanzielle ist: "Die Krise ist eine Krise der Art und Weise, wie wir Europa erdichten, eine Krise unserer Erzählung von Europa. Und hier, wie immer, wenn die Dinge hoffnungslos werden, können wir sagen: Bühne frei für die Literatur."

Welt, 21.09.2012

Henryk Broder staunt über die Reaktionen auf die Hassausbrüche in den arabischen Ländern, die von Deutschland über Frankreich bis Amerika ähnlich kleinmütig ausfallen: "Aus der German Angst vor Atomtod und Waldsterben ist eine globale Angst vor einer gewalttätigen Ideologie geworden, die das Erbe von Kommunismus und Faschismus antritt. Der Islamismus will nicht seine Anhänger befreien, er will die Welt versklaven."

Weitere Artikel: Lucas Wiegelmann liest ein Papier der Katholischen Kirche, das ein für alle Mal klarmacht: Wer austritt und keine Kirchensteuern mehr zahlt, ist quasi exkommuniziert. Thomas Schmid sichtet Entwürfe für ein Freiheitsdenkmal in Leipzig, das an die großen Tage von 1989 erinnern soll (Bilder). Richard Kämmerlings unterhält sich mit dem britischen Autor David Mitchell, der über seine Liebe zu Japan spricht. Auf der Forumsseite sinniert Sascha Lehnartz angesichts eines ausschließlich von Sponsoren finanzierten Anbaus für Islamische Kunst im Louvre über den Taubstummendialog der Kulturen.

Besprochen wird eine (laut Manuel Brug enttäuschende) "Macht des Schicksals" unter Olivier Py in Köln.

Aus den Blogs, 21.09.2012

Kenan Malik hat Salman Rushdies Erinnerungen an die Zeit der Fatwa gelesen und erinnert an Reaktionen, die einem heute recht vertraut vorkommen: "Neither Margaret Thatcher, nor any government minister, would agree for years to meet with Rushdie. On his first, secret trip to France after the fatwa, the French government refused him leave to stay on French soil overnight. The Americans were equally limp. After riots in Islamabad, the American embassy there expressed its 'wish to emphasize that the US government in no way associates itself with any activity that is any sense offensive or insulting to Islam or any other religion'. When Khomeini issued his fatwa the worst that the secretary of state James Baker could say of it was that it was 'regrettable'."

Islamisten fordern vom Westen mehr Respekt, berichtet Der Postillon: Man bitte freundlich darum, zwischen den derzeit hochfrequenten "Mohammed-Schmähungen" doch etwas mehr Zeit zu lassen, Gesundheit und Familie kommen beim Akkord-Protest schon spürbar zu kurz.

Martin Weigert bildet auf Netzwertig eine "Twitterbattle" zum Leistungschutzrecht zwischen Springer-Lobbyist Christoph Keese und Zeit-Online-Chef Wolfgang Blau ab: Keee schreibt: "@wblau : DIE ZEIT druckt heute Pro/Contra #LSR von Till Kreutzer und mir. Sie senden Online aber nur Contra, nicht Pro. Ist das fair?" Blau antwortet: "@ChristophKeese Nein, fair ist das nicht. Aber sicher verkaufsfördernd. Wollen ja nicht alle Blatt-Inhalte verschenken. #kostenloskultur"

Für Tim Wu, Autor von "The Master Switch", der ein Blog in The New Republic hat, steht Apple am Anfang vom Ende. Grund sind die exzessiven Patentprozesse: "Apple's resort to patent law is a completely different way of doing business. It's an appeal to the federal government for protection against competition. It can be effective, but relying on public help is an addictive habit, and unhealthy over the long term."

TAZ, 21.09.2012

Auf der Meinungsseite resümiert die amerikanische Religionswissenschaftlerin Sarah Eltantawi ein lebhaftes Abendessen mit jungen Liberalen in Kairo, die den Sieg der Muslimbrüder schwer nehmen: "Linken Kritikern muss man es nachsehen, wenn sie immer und immer wieder darauf zurückkommen, dass die Muslimbrüder in vielen wichtigen Fragen doppelzüngig und illiberal waren. Aber sie irren sich gewaltig, wenn sie meinen begriffen zu haben, warum die Muslimbrüder als Sieger aus den Wahlen hervorgingen. Sie sagen: 'Die haben doch nur Öl und Brot beigesteuert.' Dieser Satz illustriert exakt das Problem der Linken: ihre herablassende Gleichgültigkeit gegenüber den Armen, ihre Annahme, dass 13 Millionen Ägypter, die Mursi gewählt haben, einfach ahnungslos seien".

Außerdem im vorderen Teil: Dorothea Hahn warnt vor dem Einfluss des "kleinen, finanzstarken und effizienten Netzwerks" der amerikanischen "Muslimhasser".

Im Kulturteil unterhält sich sich Dagmar Leischow mit dem ehemaligen Velvet Underground-Musiker John Cale über dessen neues Album, Drogen und seinen ursprünglichen Berufswunsch Dirigent. Hannes Koch berichtet über die Vorstellung einer Biografie von Peer Steinbrück in Berlin. Ingo Arend kommentiert die Entscheidung von Kuratorin Susanne Gaensheimer, den deutschen Pavillon bei der nächsten Biennale in Venedig neben Regisseur Romuald Karmakar mit drei internationalen Künstlern - darunter auch Ai Weiwei - zu beschicken als Versuch, einen "allgemeinen Trend spektakulär zu toppen". Besprochen werden das Album "Integrier mich, Baby" der Elektropop-Musikerin Bernadette La Hengst und Heinz Buschkowskys Buch "Neukölln ist überall" (Alke Wierth wirft dem Neuköllner Bürgermeister naserümpfend sein Kleinbürgertum und seine "Rassismen" vor).

Und Tom.

NZZ, 21.09.2012

Nach dem sensationellen Youtube-Hit "Gangnam Style" ruht auf dem Rapper Park Jae Sang alias Psy die Hoffnung, er möge der südkoreanischen Musikindustrie im Ausland zum Erfolg verhelfen, informiert Hoo Nam Seelmann. Dabei entspreche Psy ganz und gar nicht dem im koreanischen Pop "gängigen Bild eines schönen Idols, das von Luxus und Glanz umgeben ist. Er ist mittelgroß und wirkt untersetzt. Sein rundliches Gesicht und seine schmalen Augen machen ihn zu einem Durchschnittskoreaner, während die meisten K-Pop-Sänger eher dem westlichen Schönheitsideal entsprechen." Hier das Video:



Weiteres: Roman Hollenstein berichtet von einer Ausstellung zu Skandinaviens architektonischer Identität im Louisiana-Museum in Humlebæk bei Kopenhagen. Besprochen werden das Album "Shields" von Grizzly Bear (Hanspeter Künzler empfiehlt besonders Track sechs, "A Simple Answer", "den schönsten Song des Jahres"), die Marathon-Inszenierung aller drei überlieferter Monteverdi-Opern an der Komischen Oper in Berlin (Georg-Friedrich Kühns Fazit: "Mit dem legendären Zürcher Monteverdi-Zyklus von Harnoncourt und Ponnelle ... kann der von Kosky in keiner Weise mithalten") und Hans-Joachim Maaz' psychologische Studie über "Die narzisstische Gesellschaft" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 21.09.2012

Michael Wolffsohn sieht anders als andere jüdische Autoren in der Beschneidungsdebatte keine Infragestellung jüdischer Präsenz in Deutschland und legt seine Position im Tagespiegel dar: "In der Beschneidungsdebatte erweckten viele jüdische Wortführer den Eindruck, (männlich) jüdische Identität hinge von der Beschneidung ab. Darauf reduziert, wäre jüdische Identität armselig. Wir sind das 'Volk des Buches'... Eigentlich verdanken wir Juden der vermeintlich deutschen Debatte die Möglichkeit, über unsere Identität nachzudenken. Noch haben wir diese Möglichkeit nicht genutzt. Was nicht ist, kann noch werden."

FAZ, 21.09.2012

Das FAZ-Feuilleton steht heute ganz unter dem mächtig düsteren Eindruck von Daniel Suarez' (bereits im Juli von Dietmar Dath besprochenen) Roman "Kill Decision", in dem vollautomatisierte Waffensysteme einen Weltkrieg anzetteln. Frank Rieger plädiert in einem Überblicksartikel über heutige technische Möglichkeiten solcher Waffensysteme für eine schnellstmögliche ethische Diskussion: "Sind die Drohnen einmal bewaffnet, greift die Wettrüsten-Logik der Militärs, die wohlklingende Gründe für immer mehr Autonomie anführen werden... Die Debatte um die Bewaffnung von Robotern, um Nutzen und Grenzen von maschineller Autonomie und ihre ethischen Implikationen muss geführt werden, bevor diese vermeintlichen Sachzwänge mit absehbarem Ausgang die Grundfesten moralischen und humanistischen Handelns erodieren."

Außerdem führt Rieger ein ausführliches Gespräch mit dem Autor des Romans, der durch bewaffnete Drohnen- und Militärrobotsysteme in erster Linie autoritäre Regimes gestärkt sieht: "Wir stehen am Beginn eines Zeitalters des 'anonymen Kriegs', in dem es selbst dann nahezu unmöglich sein wird, den Angreifer zu identifizieren, wenn einem die Drohne unbeschädigt in die Hände fällt."

Weitere Artikel: Felix Johannes Enzian kriegt beim Berliner Konzert von Laibach "erst einmal schlechte Laune", tröstet sich aber beim anschließenden DJ-Set darüber hinweg. Martin Jurgeit stellt die Arbeit der russischen Zeichnerin Viktoria Lomasko vor, die mit ihrer Arbeit die Prozesse gegen russische Dissidenten dokumentiert (mehr dazu hier). Auf der Medienseite berichtet Joseph Croitoru von diversen juristischen Auseinandersetzungen nach den gewalttätigen Protesten gegen das Mohammed-Video in Ägypten.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Dennis Hopper im Martin-Gropius-Bau in Berlin und neue Bücher zum 200. Todestag von Emanuel Schikaneder (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 21.09.2012

Laura Weißmüller ärgert sich angesichts von Benthem Crouwels großer, nach acht Jahren Bau endlich eröffneter badewannen-artigen Erweiterung des Stedelijk Museums in Amsterdam grün und blau: Nicht nur, dass in einer der wichtigsten Avantgarde-Institutionen nun offen dem Kommerz gehuldigt wird, der Anbau steht auch im harten, verdrängenden Kontrast zur Architektur des Ursprungbaus: Statt "einen spannungsvollen Dialog zu entwickeln, lässt Benthem Crouwel an dem Kunststoffweiß der Oberfläche alles abperlen... Der Eindruck einer hochtourig getrimmten Mall ist perfekt: Man könnte diese Begrüßungsgeste der Architektur leicht als Einladung zum Einkaufen interpretieren. Von der Kollektion des Weltklassehauses ist dagegen nichts zu sehen." Außerdem spricht Catrin Lorch mit Ann Goldstein, der Direktorin der Museum.

Weitere Artikel: Andrian Kreye spricht mit dem Moralpsychologen Jonathan Haidt über das Wählerverhalten in den USA. Peter Münch porträtiert den israelischen Schriftsteller Nir Baram. Wolfgang Görl schreibt den Nachruf auf den Schriftsteller Herbert Rosendorfer.

Einer Meldung auf der Medienseite entnehmen wir, dass der geplante Titel der Titanic (siehe gestrige Feuilletonrundschau) nach Ansicht des Bundesinnenministeriums von der Kunst- und Meinungsfreiheit gedeckt ist (dazu mehr beim Tagesspiegel).

Besprochen werden die Aufführung von Simon Stephens "Morning" in London, eine Ausstellung im Kunsthaus Bregenz über Bücher und Buchformate und Bücher, darunter Hans Blumenbergs Kulturgeschichte der Wassermetaphern (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).