Im Kino

Die gesamte Paketlogistik

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
17.05.2019. Waad-al-Kateabs Dokumentarfilm "For Sama" über Aleppo im Krieg zeigt, wie ein Ausweg aus der Krise des Filmfestes von Cannes aussehen könnte. Sehenswert auch Ladj Lys Polizei-Thriller "Les Misérables". Ken Loach liefert sein übliches Erzählkino für Jeremy-Corbyn-Anhänger.
Es geht immer noch schlimmer. Ricky Turner kommt in das Depot der Paketfirma und fleht Maloney, den glatzköpfigen Chef, um ein paar freie Tage an, weil sein Sohn gerade von der Schule zu fliegen droht. Maloney setzt dem unglückseligen Boten auseinander, dass und warum die ganze schöne Ordnung des hiesigen Depots und eigentlich der gesamten Paketlogistik zusammenbrechen würde, wenn er Befindlichkeiten wie denen von Ricky nachgäbe. Neulich erst war ein Kollege da, der bei Freunden auf dem Sofa schläft, nachdem ihm die Frau rausgeworfen hatte. Ein anderer wollte frei haben, nachdem seine Tochter versucht hat, sich umzubringen. Ein Dritter hatte ernste gesundheitliche Probleme. Alle haben weitergemacht und nur das, so Maloneys Logik, sorge dafür, dass ihr Stützpunkt im Nordosten Englands die besten Werte im ganzen Land habe. "Das hier" sagt Maloney, "weiß alles", und zeigt auf das digitale Erfassungsgerät, das jeder Fahrer bei sich trägt. Und erst wenn das Erfassungssystem zufrieden ist, kommen die Bedürfnisse der Menschen. Maloney ist ihm selbst ausgeliefert, er will ja kein Unmensch sein.

Ken Loach hat sich für "Sorry we missed you", seinen diesjährigen Beitrag beim Filmfestival in Cannes, die Leiden der Paketboten und Scheinselbständigen vorgenommen und seiner langen Reihe von Abhandlungen über die Übel des beschleunigten globalisierten Kapitalismus eine weitere hinzugefügt. Wie immer bei Loach tritt ein Ensemble hochanständiger einfacher Leute auf. Und wir sehen dabei zu, wie ihnen die Verhältnisse immer weniger Raum lassen.

Loach wird demnächst 83, er war schon häufig in Cannes, er hat 2006 und 2016 hier die Goldene Palme gewonnen. Er ist damit der einzige neben den etwas jüngeren Dardenne-Brüdern, die wie Loach Experten für das klassisch erzählte Sozialdrama sind, und dieses Jahr auch wieder in Cannes dabei sind.

"Sorry We Missed You" von Ken Loach.



Überhaupt protzt das Filmfest an der Côte d'Azur in diesem Jahr mit großen Namen: Jim Jarmusch, Quentin Tarantino, Pedro Almodóvar, Xavier Dolan. Ein Drittel der 21 Wettbewerbsteilnehmer hat hier schon einmal eine Goldene Palme gewonnen, das gab es auch noch nicht. Die Festivalverantwortlichen sehen sich ganz offiziell als Verteidiger der alten Kinoherrlichkeit. Wenn alle über deren Untergang reden, über angebliche Zerstörer wie Netflix, die Hollywood-Studios, die zu Markenfabriken verkommen sind, über die Jugend, die lieber daddelt - dann feiert Cannes elf Tage lang ein Hochamt des Autorenkinos. Und wenn so viele große Namen im Programm stehen, wenn Leonardo DiCaprio, Claudia Schiffer, Elton John, Alain Delon, Diego Maradona, Sylvester Stallone an die Croisette kommen, dann sieht es fast aus wie früher. Jedenfalls nicht mehr ganz so wie in den letzten Jahren, in denen die Klage anschwoll: Weniger Filme, weniger Partys, weniger Promis.

So ist das Selbstbild von Cannes gar nicht so unterschiedlich von dem der Loach-Figuren, die ja auch eine bessere Welt verteidigen gegen die Unbill, die von außen kommt. Aber im Fall von Cannes müssen die großen Namen erst einmal große Filme liefern. Loach zum Beispiel hat in "Sorry we missed you" abgeliefert, was man von ihm erwartet, sauber erzähltes konventionelles Erzählkino für Jeremy-Corbyn-Anhänger. Und er hat den Ton gesetzt für ein Festival, das sich zu Anfang erst einmal den Ausgelieferten und Schutzlosen widmet, wo auch immer in der Welt.

"Les Misérables" heißt der Debütfilm des Franzosen Ladj Ly nicht von ungefähr. Der 41-Jährige stammt aus dem Pariser Vorstadtviertel Montfermeil und hat dort eine Filmschule gegründet. Aber tatsächlich ist es auch der Ort, an dem Victor Hugo seinen berühmten Roman über einen von den Schergen der Macht geknechteten Aufrechten angesiedelt hat. Bei Ly steht ein Polizistentrio im Mittelpunkt, das in der Vorstadt für Ordnung sorgen soll. Ihm ist aber längst entglitten, was diese Ordnung sein soll. Sie paktieren mit den Drogenhändlern, attackieren willkürlich die Bewohner, und als sich der Neue unter ihnen, Stéphane, einmal bei einer älteren Dame für ein Missverständnis um Verzeihung bittet, da fährt ihn Chris, der Chef des Trios an: "Polizisten entschuldigten sich nicht". Ly ist ein brutaler Polizeifilm gelungen, nah dran an der Wirklichkeit der Vorstädte, und - gerade weil Ly aus dem Milieu stammt, das er zeigt - weitaus differenzierter als ein Ken-Loach-Film.

Szene aus "Les Misérables" von Ladj Ly.



Die ganze Härte, Aussichtslosigkeit, Beliebigkeit und Willkür der französischen Polizei in Einwanderervierteln wird thematisiert. Und gleichzeitig verstehen wir auch, warum Männer wie die drei so handeln. Es gibt eine Reihe von Menschen mit guten Absichten in dem Film, aber anders als bei Loach werden auch sie nicht idealisiert. Das Ganze ist außerordentlich spannend und kurzweilig erzählt, aber eben auch nicht abseits der Pfade des klassischen Polizeithrillers. Alexis Manenti, der Chris spielt, ist aber auf jeden Fall für den Darstellerpreis dieses Festivals gut. Selbstverleugnung, Härte, Einsamkeit, alle Momente toxischer Männlichkeit kann man in seinem Gesicht finden, er knüpft an die großen Antihelden des französischen Kinos an.

Und dann wechselt man von den Schutzlosen von Loach und Ly in eine ganz andere Dimension der Gesetzlosigkeit. Die syrische Journalistin und Filmemacherin Waad-al-Kateab gehörte zu den letzten, die die belagerte Stadt Aleppo vor ihrer Eroberung durch Regierungstruppen verließen. All die Zeit hat sie mit ihrer Kamera gedreht und daraus jetzt mit "For Sama" eine ebenso persönliche wie erschreckende Dokumentation gemacht, die in Cannes außer Konkurrenz lief. Die Geschichte beginnt mit der Hochzeit der Filmemacherin und dem Arzt Hamza in einer - noch - blühenden und aufbegehrenden Stadt. Als Sama, die Tochter geboren wird, an die sich der Film richtet, gehören die Raketeneinschläge in der Umgebung schon zum Alltag.

Szene aus "For Sama".



In Hamzas Krankenhaus drängen sich die Überlebenden. Der Arzt gibt den Medien der Welt zwischen den Operationen Interviews, um auf die aussichtslose Lage der Menschen aufmerksam zu machen. Wir nehmen Teil an der vollkommenen Zerstörung bürgerlicher Strukturen und den verzweifelten Versuchen, Menschlichkeit im Krieg aufrechtzuerhalten. Wir sehen Ströme von Blut, wir sehen Menschen sterben, einen Notkaiserschnitt, wir sehen Menschen, die fliehen wollen, aber unter Raketenbeschuss geraten. Was Krieg bedeutet, ist schon oft erzählt worden, aber bei al-Kateab muss sich der Zuschauer vorstellen, wie es wäre, wenn es ihn selber träfe.

Und wir sehen: Es geht auch ohne große Auftritte. Mehr Dokumentationen wie diese könnten ein Ausweg aus der Krise des Filmfestes sein. Am Ausgang der Syrien-Doku warten bereits die Fotografen auf Elton John, "Rocketman", der Film über das Leben des Sängers wird am gleichen Abend aufgeführt.

Lutz Meier