Im Kino

Technik der Weltabwehr

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
06.09.2017. Emin Alper hat mit "Abluka" einen lichtskeptischen Film gedreht, der von einer doppelten Psychose geprägt ist. James Ponsoldts "The Circle" inszeniert in unserer digitalen Gegenwart den uralten Kampf zwischen Individuum und System.


Wenn Kadir (Mehmet Özgür; steingrauer Vollbart, unlesbare Mine) nach seinem Gefängnisaufenhalt erstmals wieder seinen Bruder Ahmet (Berkay Ateş; ein weiches, unfertiges Gesicht, das eine rührende, unrettbare Hilflosigkeit ausstrahlt) besucht, weist er ihn an, die Vorhänge aufzuziehen, Licht in die schummrige Wohnung eindringen zu lassen. Wenig später beginnt er freilich selbst damit, die Räume, in denen er sich aufhält, zu verdunkeln. Man kann diese Wandlung auf zweierlei Art lesen. Zum einen vollzieht sie die Paranoia nach, die zunehmend Besitz von Kadir ergreift: Schritt für Schritt verwandelt sich das Leben in Freiheit in eine erneute, jetzt innerliche Gefangenschaft, die wiederum auf gesellschaftliche Beengung und ein übergriffiges, autoritäres politisches System verweist. Zum anderen passt Kadirs Hinwendung zur Dunkelheit jedoch auch zur Ästhetik des Films, durch den er sich bewegt: In Emin Alpers zweiter Regiearbeit "Abluka" ist Licht keine Selbstverständlichkeit, keine problemlos verfügbare Ressource, die Dinge sichtbar macht, sondern ein komplexes Medium, das erst dann zu seinem Recht kommt, wenn es auf Hindernisse stößt. "Abluka" ist ein lichtskeptischer Film, den es allerdings nicht zur völligen Dunkelheit drängt, sondern zum Chiaroskuro, zum Schattenspiel.

Es bleibt bis zum Schluss offen, wie sich beides zueinander verhält: Das psychologische Familiendrama, unter dem ziemlich unverhohlen eine reichlich pessimistische politische Allegorie hervorlugt; und ein Gestaltungswille, eine ästhetische Wucht, die unverkennbar am Genrekino geschult ist. Das verbindet den Film mit Alpers Erstlingswerk "Tepenin Ardı": War der eine Westernparaphrase, so ist das Nachfolgeprojekt "Abluka" ein de-facto Horrorfilm.

Auch der Hang zum Allegorischen schließt an "Tepenin Ardı", und freilich auch an weite Teilen des sonstigen türkischen Autorenkinos an. Man erkennt schnell, dass "Abluka" in dieser Hinsicht weiter geht als die meisten seiner Vorgänger, dass der Film der politischen Wirklichkeit einen entscheidenden Schritt näher kommt, als es den anderen türkischen Kunstkinoerfolgen der letzten Jahre gelungen ist. Eindrücklich ist vor allem die exzessive Polizeipräsenz. Andauernd müssen die Figuren Polizeisperren passieren, ohne dass auch nur noch zur Sprache kommt, wer hier angeblich vor wem beschützt werden soll. Das Gemeinwesen ist derweil komplett zerfallen, die Männer treffen sich gelegentlich in illegalen Bars und kippen düster dreinblickend Schnaps herunter, Frauen tauchen eh kaum auf und wo doch, da kann man sich nicht sicher sein, ob es sich vielleicht nur um Projektionen handelt.



Dazu eine Familiengeschichte, die von einer Abwesenheit angetrieben und ausgehöhlt wird: Es gibt noch einen dritten Bruder, aber der ist vor zehn Jahren verschwunden, spurlos. Die beiden Übriggebliebenen finden kein Verhältnis zueinander. In der zweiten Hälfte ergreift die vorher noch einigermaßen narrativ gebändigte Doppelpsychose vom Film selbst Besitz. Wie ein schizophrenes Bewusststein spaltet er sich auf, zerfällt in die nicht mehr miteinander kommunizierenden Perspektiven der beiden Brüder, die freilich nicht neben-, sondern hintereinander geschaltet werden. Daraus ergibt sich eine bizarre Konstruktion: Erst wird der eine verrückt, dann der andere, aber eigentlich doch beide gleichzeitig. Jedoch nicht: beide auf die gleiche Weise. Es handelt sich um zwei grundlegend unterschiedliche Psychosen: Ahmets Paranoia ist klaustrophobisch, defensiv, kontrollsüchtig, eine Technik der Weltabwehr, die notwendigerweise in Selbsteinschließung und -einmauerung endet. Kadirs Paranoia dagegen ist expansiv, nichtseßhaft, landstreicherisch, sucht nach Sinn, wo keiner ist. Hyperaktivität im Leerlauf, organisiert in selbstbezüglichen Zeitschleifen.

Auch Alpers Formanstrengung zielt darauf, Paranoia nachfühlbar zu machen. Wie der Scheinwerfer eines Polizeitransporters eine Wand illuminiert und dabei alle konventionelle Räumlichkeit zu verschwinden scheint; wie sich die Lichtverhältnisse in einem Treppenhaus plötzlich ändern, ohne dass man gleich sagen könnte, warum; wie sich aus einer fahlen Dunkelheitszonen gespenstisch gleißende Straßenhunde lösen; wie sich der Blick auf eine brennende Mülltonne schockartig auf eine Panoramaeinstellung erweitert, die offenbart, dass auch vor vielen anderen Häusern Feuer entzündet wurden: Das sind die Bilder, die im Gedächtnis hängen bleiben.

In diesem Sinne liegt es zunächst nahe, die Form des Films einfach als die sinnliche Dimension der Allegorie zu beschrieben. Aber ganz geht das nicht auf; die Bilder tendieren - je länger der Film dauert, desto deutlich - zur Abstraktion, verwandeln sich in ein zwar furchterregendes, aber doch freies Formenspiel, das sich konkreten politischen Zuschreibungen entzieht. Es funktioniert eher anders herum: Die autonomen Attraktionen der Form verweisen darauf, dass auch die Erzählung weit weniger spezifisch ist, als man zunächst annehmen könnte. "Vor zehn Jahren mussten wir uns Sorgen darüber machen, ob wir genug Essen auf den Teller bekommen - heute haben wir Angst davor, auf die Straße zu gehen." Ein solcher Satz würde genauso gut in die Türkei der frühen 1980er passen, in die Zeit nach dem Militärputsch, wie in der Gegenwart. Gleiches gilt für die alles zerfressende Angst vor dem Terrorismus, die den Film umtreibt. Tatsächlich tippt Kadir die Berichte, die er für die Geheimpolizei verfassen muss, in eine altmodische Schreibmaschine und auch sonst vermeidet es der Film schon fast systematisch, moderne Kommunikationsmittel ins Bild zu rücken. Aber das verwandelt "Abluka" nicht in einen Historienfilm, und schon gar nicht spricht es gegen den Film. Dessen eigentümliche Kraft speist sich gerade daraus, dass sein hypnotischer Bilderfluss sich letztlich gegen die Realität wendet.

Eine Einstellung beginnt mit einer komplett schwarzen Leinwand, auf der plötzlich ein Lichtstrahl erscheint. Es dauert noch einen Moment, bevor man begreift, dass die Kamera sich hinter einer Wand befindet, die von Ahmet mithilfe einer Stichhacke abgerissen wird. Das ist ein gutes Bild für den Film: Er blickt von einem absoluten Außen der Repräsentation auf eine Welt, die ihm erst einmal nur als ein irritierender Lichtblitz erscheint. Dann schaut er etwas genauer hin und bekommt es mit der Angst zu tun.

Lukas Foerster

Abluka - Türkei 2015 - Regie: Emin Alper - Darsteller: Mehmet Özgür, Berkay Ateş, Tülin Özen, Müfit Kayacan, Ozan Akbaba - Laufzeit: 119 Minuten.

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Zu Beginn braucht Mae Holland einen Job. Den findet sie auch schnell und zwar bei dem Internetunternehmen "The Circle", einer Mischung aus Google und Facebook, das durch die Taktik, so erklärt es Eamon Bailey, der von Tom Hanks gespielte Boss des Unternehmens, immer noch ein paar entscheidende Schritte weiterzugehen (wohl auch weiter als seine realen Vorbilder), es bis ganz nach oben geschafft hat. Das Unternehmen will, so heißt das im Firmensprech, absolute Transparenz schaffen, was, anders und weniger freundlich ausgedrückt, bedeutet: den ganz und gar gläsernen Menschen. Mae (Emma Watson) ist zunächst begeistert von ihrem neuen Job und fasziniert von der perfekten Maschinerie der Superfirma. Beides überträgt sich ziemlich vollständig auf das Publikum im Kinosaal. Der Film nach dem gleichnamigen Bestseller von Dave Eggers liefert eine deutlich in der digitalen Realität der Gegenwart verankerte Dystopie, die wir, das ist zu gleichen Teilen interessant und problematisch, ziemlich toll finden sollen.

Überhaupt ist das besondere an "The Circle" die Art, wie er mit altbekannten dystopischen Narrativen spielt, sie evoziert, aber dann nicht (ganz) einlöst. Es geht hier, wie in den New Hollywood-Thrillern der 1970er und ihrer Weiterführung im Quality TV des frühen 21. Jahrhunderts, um die uralte Geschichte vom Kampf des Individuums gegen ein System. Aber doch wieder nicht ganz. Denn Mae reagiert auf die Machenschaften des Circle nicht mit Rebellion, sondern mit absoluter (Über-)Anpassung. Die in beißender Freundlichkeit gehaltene, aber trotzdem sehr bestimmte Anweisung zweier KollegInnen, doch bitte selbst etwas reger in ihrem Circle-Account zu sozialisieren, mag ihr sonderbar vorkommen, aber sie gibt ihr schließlich nach. Am Ende, wenn sie sich doch gegen ihren Arbeitgeber wendet, kann sie ihn nur mit seinen eigenen Waffen schlagen: mit Kameras und Smartphones - der Film ist klug genug, um zu wissen, dass das das Ende einer Firma ist, nicht das des Systems.



Doch worum geht es dem Megakonzern eigentlich? Im Prinzip einfach darum, die gesamte Welt und alle Menschen in ihr mit Kameras vollzupflastern, um die zentralisierte Dauerüberwachung von Allem und Jedem und also zwangsläufig auch um die endgültige Abschaffung der Privatsphäre. Das interessante an der Vision dieses alles beherrschenden Konzerns ist, dass er, sicherlich anders als die meisten seiner unzähligen Pendants in der Geschichte der narrativen Künste, zunächst nicht über Leichen geht. Zwar bekommen die Zuschauenden suggeriert, dass eine Senatorin, die es wagte, The Circle öffentlich zu kritisieren, ihren Posten schnell los ist, aber erst gegen Ende kommt ein Mensch zu Tode - die einzige Leiche in diesem Film, der sonderbar frei von Waffen aller Art ist, was wohl daran liegt, dass hier gilt: Die Kamera ist mächtiger als das Schwert.

Das zentrale Element der Dystopie von "The Circle" ist denn auch nicht die riesige Datenkrake, um die es auf den ersten Blick geht, sondern, dass die Menschen, die ihn bevölkern, nicht nur keine Privatsphäre, sondern auch kein Privatleben mehr haben. Das humorvoll charmante erste Treffen von Mae und dem Circle-Erfinder Ty führt nicht zu der erwartbaren Liebesgeschichte. Maes Beziehung zu ihrem Freund Mercer ist von Beginn an in Auflösung begriffen. Auch Eamon, den (ziemlich weichgespülten) Patriarchen, sehen wir nie mit einer Frau. Die einzigen, die augenscheinlich noch ein Sexualleben haben, sind Maes Eltern. Ansonsten sind alle Menschen im Film ganz und gar von ihrer Arbeit und dem social networking absorbiert. Grenzen gibt es keine mehr. Weder zwischen digitaler und analoger Wirklichkeit, noch zwischen Beruf und Leben.

"The Circle" ist gewiss kein großer Wurf, aber die Art, wie er bestimmte Fragen und Erzählungen variiert, macht ihn zu einem interessanten und ordentlich weirden Stück Kino. Inszenatorisch erfindet Regisseur und Drehbuchautor James Ponsoldt das Rad nicht neu. Der Film ist formal ziemlich schlicht. Kamera und Schnitt haben keinen eigenen Wert, es geht lediglich um die adäquate Bebilderung des Inhalts. Auffällig sind nur die im Bild eingeblendeten Textnachrichten, die mehr und mehrsprachiger werden, als Mae beschließt, ihren gesamten Alltag mit einer an ihrer Brust angebrachten Kamera festzuhalten und über "The Circle" der ganzen Welt zugänglich zu machen.

Nicolai Bühnemann

The Circle - USA 2017 - Regie: James Ponsoldt, Darsteller: Emma Watson, Ellar Coltrane, Glenne Headly, Bill Paxton, Karen Gillan, Tom Hanks - Laufzeit: 110 Minuten.