Im Kino

Aus dem Takt

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl
05.01.2023. Cyril Schäublin erzählt in "Unruh" von der industriellen Uhrenherstellung in der Gemeinde Saint-Imier und von der kapitalistischen Erfindung einer einheitlichen Zeit, die eine Handvoll Anarchisten abschaffen will.


Die Unruh ist ein Schwungrad, das mit einer spiralförmigen Feder versehen ist und in mechanischen Uhren für eine gleichmäßige Bewegung des Sekundenzeigers sorgt. Sie ist das Herz des Uhrwerks oder, weniger wohlwollend und vermenschlichend ausgedrückt, eine Apparatur, die durch ihren unerschöpflichen Antrieb den totalitären Charakter der Zeit offenbart. Für den Schweizer Regisseur Cyril Schäublin ist die Unruh vor allem ein guter Anlass, um mithilfe einer fragmentarischen und mehrschichtigen Erzählung aus der Vergangenheit über Ordnungssysteme, staatliche Unterdrückung, Kapitalismus und letztlich auch eine mögliche Alternative zu alldem nachzudenken.

Im Jahr 1877 muss die industrielle Uhrenherstellung in der Gemeinde Saint-Imier noch ökonomisch optimiert werden. Die Fabrikarbeiterinnen bauen die Unruh mit Mikroskop und enormem Fingerspitzengefühl ein. Die Zeit ist ihr ständiger Gegner. Die Vorgesetzten legen für Botengänge immer schnellere Routen fest und beobachten die Angestellten mit der Stoppuhr, damit auch noch die letzte unnötige Handbewegung aus dem Arbeitsprozess eliminiert wird. Schäublin siedelt "Unruh" in einer Ära an, in der die Zeit noch nicht einheitlich ist und genau deshalb als Konstrukt entlarvt wird. Das beschauliche Saint-Imier hat gleich vier verschiedene Zeitzonen, eine ist auf die Fabrik abgestimmt, eine andere auf die Gemeinde und so weiter. Ständig müssen die aus dem Takt geratenen öffentlichen Uhren wieder richtiggestellt werden.



Der russische Geograph Piotr Kropotkin (Alexei Evstratov) kommt nach Saint-Imier, um eine Landkarte zu entwerfen, die nicht nach herrschaftlichen, sondern nach anarchistischen Kriterien ausgemessen wird. Wie dieses alternative System aussieht, erfahren wir leider nicht, aber es geht ohnehin mehr darum, in die anarchistische Bewegung der Region einzuführen, die alles nur vermeintlich Gegebene hinterfragt. Man sammelt für die streikenden Genossen in den USA, sabotiert die Rüstungsindustrie und singt Lieder über eine bessere Welt. Anders als die Sozialisten streben die Anarchisten nicht nach einem zentralen Machtsystem, sondern nach freiwillig selbstverwalteten Kommunen. Nicht der Markt soll es regeln, sondern die Gesellschaft selbst. Dieser zersplitterten, organischen Struktur entspricht auch der Film, der bewusst an vielen Enden offen bleibt und mit Figurenpsychologie nichts am Hut hat.

Politik und Ästhetik durchdringen sich in "Unruh". Durch die teilweise ungewöhnlich verschobenen Einstellungen wirkt es, als würden die Personen aus dem Bild fallen. Baumstämme oder Häuser mit Dächern, die wie gefräßige Monster aussehen, sind manchmal prominenter platziert als Menschen. Durch die hohen Brennweiten der Kameralinsen wird der Bildraum extrem flach. Selbst wenn mehrere, in unterschiedliche Entfernungen gestaffelte Ereignisse im Bild sind, wirkt es, als würde sich alles nebeneinander abspielen. Eigentlich logisch: Wenn es in der Geschichte um Anarchisten geht, die sämtliche Hierarchien beseitigen wollen, muss das auch im Bild praktiziert werden.



"Unruh" ist aber kein trockenes Diskurswerk ohne Sinn fürs Menschliche. Als Gegenpol zu den entrückten Kadragen gibt es immer wieder Close-Ups, in denen die Darsteller zwar gerahmt werden, in ihrem reduzierten Spiel aber auch etwas Unbezwingbares aufblitzen lassen. Oft sind es Laien, die nicht ganz in ihrer Rolle aufgehen, sondern mit mimischen Unsauberkeiten wie einem auffällig häufigen Blinzeln gegen sie aufbegehren. Auch ein meditatives Blätterrauschen ist manchmal auf der Tonspur zu hören. Der Enge der Stadt setzt Schäublin einen Wald entgegen, der die Hoffnung auf ein Leben ohne Zwänge verkörpert.

Wenn es um Kontrollstrukturen und die ideologische Durchsetzung der Technik geht, bezieht "Unruh" explizit das damals noch junge Medium der Fotografie mit ein. Zweimal versucht die Fabrikleitung Fotos für den Firmenkatalog zu schießen und achtet dabei penibel darauf, dass bloß niemand durchs Bild läuft. An anderer Stelle werden die Porträts eines zwielichtigen Straßenfotografen (Mayo Irion) zu verhängnisvollen Beweisstücken. Es ist, als wäre hier schon die Dystopie eines Überwachungsstaats angelegt. Wie bei einer frühindustriellen Form von Google Maps soll ein Paar seinen Weg durch den Wald mit der Stoppuhr messen und dazu die jeweilige Laufgeschwindigkeit notieren. Doch plötzlich verschwinden die beiden. Dass sie sich in diesem Moment nicht nur dem Bild entzogen haben, sondern auch noch ihre Taschenuhr in den Ästen hängt, ist wohl der größte Befreiungsschlag, den man sich in diesem Film vorstellen kann.

Michael Kienzl

Unruh - Schweiz 2022 - OT: Unrueh - Regie: Cyril Schäublin - Darsteller: Valentin Merz, Alexei Evstratov, Clara Gostynski, Monika Stalder, Nikolai Bosshardt - Laufzeit: 93 Minuten.