Im Kino

Zwei grüne Augen

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Lukas Foerster
23.12.2020. Ganze Seitenarchitekturen mit geteilten Bildschirmen haben Tomm Moore und Ross Stewart für ihren Animationsfilm "Wolfwalkers" entworfen. Lucio Fulcis Mysterythriller "Sieben schwarze Noten" hat einiges Alfred Hitchcock zu verdanken, während er  Bild, Film und Psyche zu einer psychotischen Einheit formt.


Robyn (Honor Kneafsey) will Wölfe jagen, genau wie ihr breitschultriger Vater (Sean Bean), der jeden Morgen in den Wald aufbricht um dort Fallen aufzustellen. Stattdessen soll sie in der sicheren Stube bleiben und die Hausarbeit machen. Das irische Kilkenny des Jahres 1650 bietet ihr als Mädchen nicht viele Optionen. Aber Robyn stiehlt sich immer wieder davon, schlüpft durch die Stadtmauer und folgt ihrem Vater in den Wald, der mit seinen blätterrauschend knorrigen Ästen nicht nur eine neue Welt, sondern gleich ein ganz anderes Leben zu verheißen scheint.

Einmal wird in "Wolfwalkers", dem neuen Film des irischen Animationsstudios Cartoon Saloon ("The Secret of Kells"), als Ablenkungsmanöver eine Herde Schafe aus einem Käfig freigelassen. So wie die Tiere hineingepfercht wurden, so fallen sie als quadratischer Block heraus. Dann dauert es nur noch den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie unter lautem Blöken auseinander stieben und von links nach rechts und wieder zurück durch den Bildschirm hoppelnd für großen Tumult sorgen. Animationszauber, der die Dekonstruktion all seiner Formen bis hin zu ihrer Auflösung vollführt.



Während eines ihrer geheimen Streifzüge trifft Robyn auf das rothaarige Mädchen Mebh (Eva Whittaker), eine der letzten Angehörigen vom Stamm der Wolfwalker. Sie leben bei den Tieren, können mit ihnen sprechen und verfügen über heilende Kräfte. Weil Robyn ein kluges Mädchen ist, geht ihr auf, dass die Wölfe nicht die feindlichen Bestien sind, für die sie Lord Protector Cromwell (Simon McBurney) den Stadtbewohnern verkauft. Wenn sie gemeinsam mit Mebh auf einem Ast sitzt, in der Hand einen Korb mit frisch stibitzten Broten, und Kilkenny betrachtet, vermittelt eher die Stadt den Eindruck eines feindlichen Forts. Aus der Ferne sieht sie aus wie ein von dicken Mauern eingefasstes Quadrat, gefüllt mit gleichförmigen Dreiecken. Schwarz und grau, die rechteckigen Schafweiden und Äcker im Umkreis lassen an Friedhöfe denken. In "Wolfwalkers" sind zuweilen zwei Perspektiven gleichzeitig in einer Einstellung zu sehen: Der Bildvordergrund den drei Dimensionen entsprechend mit Raumtiefe gezeichnet, der Hintergrund wie eine flach aufgefaltete Draufsicht. Auf diese Weise nimmt die abstrakte Form des eingemauerten Kilkenny die komplette obere Hälfte des Bildes ein. Kein Horizont zu sehen, geschweige denn ein Stück vom Himmel.

Doch kommt Robyn der Stadt wieder näher, erweisen sich ihre Formen und Silhouetten als weitaus unbändiger als es das Bestreben des englischen Lord Protektor Cromwell ist, der in Kilkenny Land und Leute zähmen will und dessen schnarrende Stimme, sobald er sich in Rage redet, sicher nicht zufällig an Donald Trump erinnert. Das Gegensatzpaar Wildnis/Zivilisation spiegelt in "Wolfwalkers" den historischen Konflikt zwischen England und Irland, aber nicht nur der Plot, sondern auch der Zeichenstil arbeiten daran, die entsprechenden Verhärtungen abzuschaffen. Verschiedenfarbige Dachschindeln, aus der Ferne zu schwarzen Dreiecken verschmolzen, machen aus der Nähe den Eindruck eines bunten Flickenteppichs, voll beladene Marktstände ächzen unter den feilgebotenen Waren und wenn in ihrer Mitte Musiker aufspielen, tanzen die Leute auf den Straßen. Das abstrakte Rechteck, mit Leben gefüllt.

Die regelmäßige Bauweise der Gebäude erweist sich genau genommen sogar als Vorteil: Selbst die Gestalt einer Wölfin annehmend kann Robyn, sobald es brenzlig wird, problemlos von Dach zu Dach springen und sich so ihre Stadt auf ganz neue Weise zu Nutze machen. Regisseur Tomm Moore ist genauso flexibel. Er zeichnete zu Beginn seiner Karriere Comics und scheint noch immer wie ein Comiczeichner zu denken, der statt isolierter Panels ganze Seitenarchitekturen entwirft. Immer wieder teilt er den Bildschirm horizontal oder vertikal in einen mehrfachen Splitscreen auf, nutzt Bildelemente wie die Speere der Soldaten als Grenze zwischen den einzelnen Einstellungen. Fenstergitter, rautenförmige Bodenfliesen, die rechtwinklig zulaufenden Holzbalken der Fachwerkhäuser funktionieren als Symbole für die Zwänge der Figuren einerseits - aber andererseits erweitern sie die Möglichkeiten des Zeichners ins schier Unendliche. Sie umgrenzen immer neue Flächen, die es zu füllen gilt.

Katrin Doerksen

Wolfwalkers - Irland 2020 - Regie: Tomm Moore, Ross Stewart - Laufzeit: 103 Minuten. "Wolfwalkers" auf Apple TV+

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Ein schickes, grün-weißes Auto fährt durch Südengland. Am Steuer eine Frau, oder genauer: ein Gesicht. Blondes Haar und starrer Blick in Großaufnahme. Es geht zu den weißen Klippen von Dover, wenn das Auto anhält, springt der Film nach Florenz, zu einem anderen, viel jüngeren Gesicht. Wieder: blondes Haar, starrer Blick. "Mama!" Der Schrei macht klar: Der raumgreifende Schnitt ist nicht einfach nur ein Schauplatzwechsel; vielmehr schweißt er die beiden Gesichter zusammen, wider alle Alltagslogik und doch unwiderbringlich. Das jüngere Gesicht, das Gesicht der Tochter, "sieht", wie das ältere, das Gesicht der Mutter, sich zuerst den Klippen nähert und dann an denselben zerschellt - in einer weiteren Großaufnahme, die dem Gesicht die Anmutung des Menschlichen schon deshalb raubt, weil es sich offensichtlich nicht mehr um das Gesicht eines Menschen, sondern um das einer Puppe handelt. Kein bisschen versucht der Film die Künstlichkeit des Effekts zu verbergen. Es ist, als würde die Mutter, wenn sie sich von den Klippen stürzt, nicht nur Selbstmord begehen, sondern gleichzeitig etwas Schreckliches über sich selbst Preis geben, als würde im Moment des Aufpralls eine Maske von ihr Abfallen und damit jede Ähnlichkeit mit ihrer Tochter verschwinden.

Ein Filmschnitt und ein Maskentrick: Es sind zwei basale filmische Verfahren, zwei Verfahren der filmischen Lüge auch, die Lucio Fulcis "Die sieben schwarzen Noten" (auf Italienisch viel schöner: "Sette note in nero") in Gang setzen. Das Gesicht der Mutter, das plötzlich nicht mehr das Gesicht der Mutter ist, wird das Gesicht der Tochter nicht mehr loslassen, auch später nicht, wenn es selbst älter geworden ist. Dieses ältere Tochtergesicht treffen wir nach der Titelsequenz und einem Zeitsprung wiederum in einem schicken Auto an. Braune Haare diesmal, die feinen Model-Gesichtzüge von Jennifer O'Neill und ein noch nicht allzu starrer, vielmehr abgelenkt-nervöser Blick. Dieses neue Gesicht, das den Film hinfort fast nach Belieben dominiert, muss erst zugerichtet, aktiviert werden. Dies geschieht, wenn die Straße, auf der das Auto unterwegs ist, durch eine Serie von Tunnel führt: jede neue Tunneldunkelheit umschließt das Gesicht gründlicher, fugenloser, bis da nur noch zwei grüne Augen im ewigen Schwarz leuchten. Aus diesem Schwarz nun tauchen plötzlich ganz andere Bilder auf: Ein zerbrochener Spiegel ist zu sehen, ein gelbes Taxi, ein Heiligenbild, ein mit rosa Polstermöbeln vollgestelltes Zimmer… Bilder des inneren Auges, die ihren Platz nicht in der Welt, sondern im Kopf von Jennifer O'Neill haben.



Unter den Großmeistern des italienischen Genrekinos ist Lucio Fulci der Obsessivste, Exzessivste, Durchgeknallteste. Am konsequentesten von allen verschreibt er sich insbesondere dem Horrorfilm, also der Konfrontation mit dem irrationalen Anderen als der Rückseite der modernen bürgerlichen Welt. Gleichzeitig jedoch ist er, anders etwa als sein Kollege Dario Argento, in erster Linie und dem eigenen Selbstverständnis nach kein Künstler, sondern ein klassischer Regiehandwerker, der jahraus jahrein Film um Film herunterkurbelt und die Formeln populärer Kinounterhaltung im Schlaf beherrscht. In viele seiner Horrorfilme ist eine Spannung eingetragen zwischen dem gut geölten, durchrationalisierten Räderwerk der Genrekonvention und düsteren, antirealistischen Energien, die sich nicht um Alltagswahrscheinlichkeiten, Gesetze der Verhältnismäßigkeit oder gar die Grenzen des guten Geschmacks scheren.

In "Sette note in nero" ist diese Spannung so offensichtlich, dass man es fast schon mit zwei unterschiedlichen Filmen zu tun hat. Der eine Film, derjenige, der von Genre und Konvention her gedacht ist, ist ein Mysterythriller. In diesem ersten, äußeren und letztlich ziemlich nebensächlichen Film schauen wir Polizisten zu, die, nachdem in einer Villa hinter einer Wand ein Skelett aufgefunden wird, Spuren verfolgen, Verdächtige interviewen und vor allem jede Menge Telefonate führen. Der andere, innere und viel wichtigere Film hingegen spielt, siehe oben, in Jennifer O'Neills Kopf. O'Neill spielt Virginia Ducci, die Frau des Hauptverdächtigen, die den Versuch unternimmt, ihren Ehemann zu entlasten, dabei aber von ihrem eigenen Wahrnehmungsapparat sabotiert wird.



Denn die Bilder, die zum ersten Mal im Tunnel auftauchen, machen keine Anstalten zu verschwinden. Die Bilder kehren zurück, wieder und wieder, und sie triggern jedesmal denselben Zoom auf O'Neills Augen, dieselbe fiebrig-hypnotische Melodie auf der Tonspur. Bild, Film und Psyche bilden eine psychotische Einheit, kommen nicht mehr voneinander los. Eben weil sie vorläufig keine Entsprechung in der Welt haben, werden die Bilder für das Subjekt, das sie dennoch sieht, zum Schicksal. O'Neill ist der Anfang und das Ende der Bilder, ihr Produzent und ihr (einziges) Publikum, ihre Augen sind Kameralinsen, ihr psychischer Apparat ist Dunkelkammer, Projektor und Leinwand in einem. Ein Kurzschluss zwischen optischem Nerv und Cortex, der in einer kompletten Fixierung resultiert: O'Neill fürchtet die Bilder, aber gleichzeitig richtet sie ihr gesamtes Denken und Handeln an ihnen aus. Wenn sie recht früh im Film den Raum mit den rosafarbenen Möbeln betritt, ist die Sache bereits entschieden: ab sofort lebt sie in ihrem eigenen Gehirn.

Der andere, äußere Film verschwindet nicht ganz. Ab und an ist es notwendig, die rekursiven psychotischen Loops zu durchbrechen und die Dinge einer Zuspitzung zuzuführen. Letztlich geht es darum, die Bilder vom Geistigen ins Materielle rückzuübersetzen, mithilfe einer Reihe großartig entschleunigter Suspense-Szenen, die auf ein zentrales Vorgängerwerk verweisen. Alfred Hitchcocks Einfluss ist nie weit weg im Spannungskino und "Die sieben schwarzen Noten" ist vermutlich derjenige Film, in dem Fulci dem Briten am nächsten kommt. Man könnte es vielleicht so beschreiben, dass der Italiener die psychotischen, antirealistischen Energien des Hitchcock-Kinos isoliert und absolut setzt. "Die sieben schwarzen Noten" ist wie "Vertigo", nur dass sich am Ende herausstellt, dass nicht nur Judy und Madeleine, sondern auch noch Scottie in Wahrheit immer ein und dieselbe Person gewesen sind.

Lukas Foerster

Die sieben schwarzen Noten - Italien 1977 - OT: Sette note in nero - Regie: Lucio Fulci - Darsteller: Jennifer O'Neill, Gabriele Ferzetti, Marc Porel, Gianni Garko, Evelyn Stewart - Laufzeit: 95 Minuten. "Die sieben schwarzen Noten" in der arte-Mediathek.