Im Kino

Klarsichtige Verwirrtheit

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Carolin Weidner
06.10.2021. Julia Ducournau wirft in ihrem mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film "Titane" über die Bändigung eines Monsters einen furchlosen Blick auf die Getriebe und Triebe des Menschlichen. In "Siebzehn" ermuntern Saskia und Ralf Walker ganz milde zum Nachdenken über die Liebe zu dritt.

Mitten im Motorblock beginnt der Film, und Alexia ist von Anfang an auf einer Wellenlänge mit der Maschinenkraft, in tune mit dem Getriebe. Im Prolog sitzt sie als kleines Mädchen auf dem Rücksitz eines Kleinwagens (später wird sie größer und die Autos auch), und es ist ihr dem Motor sich gleichmachendes Summen, das den Fahrer, ihren Vater, aus der Ruhe bringt und zu einem Crash führt, einer krachenden Eruption, der ersten von vielen in "Titane". Der Crash ist für den Film keine Negation, keine Arretierung des surrenden Getriebes, sondern seinerseits Bewegungsmoment. Es muss knallen, nicht nur einmal, sondern immer wieder, damit es weitergeht. Und es muss, das ist die tiefste, letzte Regel des Films, weitergehen.

Im Krankenhaus wird Alexias Kopf mit Stahlstreben stabilisiert, nach der Entlassung gibt sie der Fensterscheibe des Gefährts, das sie um ein Haar in den Tod befördert hätte, einen Zungenkuss und einen Zeitsprung später ist sie eine junge Frau, die ihr Geld als erotische Tänzerin bei Autoshows verdient. Ihr blondiertes Haar verdeckt vorläufig noch die kahle, hautlose Stelle über ihrem linken Ohr, direkte Schnittstelle zum Cortex, Zeichen einer neuen, anderen Natur. In Netzstrümpfen und nicht viel mehr räkelt sie sich auf dem Sportwagen, die Flammen, die auf dessen Motorhaube lackiert sind, umzüngeln ihren Körper, fahren ihr zwischen die Beine. Die Kamera fährt gerne mit. Bald danach rummst es vor ihrer Tür, und da steht derselbe Sportwagen und ist offensichtlich horny. Jedenfalls hüpfen seine Räder auf und ab, wie in Teeniekomödien, wenn die Figuren Sex auf dem Rücksitz haben.

Alexia hingegen besteigt das Auto alleine. Nur kurz sehen wir sie in direktem Kontakt mit dem geilen Motor, in höchster, konzentrierter Erregung, eingespannt in die Sitzgurte. Ein bisschen wie Juliette Binoche in der Raumschiff-"Fuckbox" in Claire Denis, wie überhaupt Denis mit ihrer körperfixierten Sinnlichkeit und Vorliebe für verschwitzte Tanzszenen, wie sie auch in "Titane" ausgiebig zelebriert werden, eine deutlich hilfreichere Referenz ist für Julia Ducournaus zweiten Film als der in zahlreichen Besprechungen genannte David Cronenberg. In dessen Body-Horror- (und auch Car-Crash-Erotik-)Fantasien ist Technik stets etwas, das den Menschen transzendiert und von sich selbst entfremdet. In "Titane" hingegen, gefilmt im punkig-dekorativen in-your-face-Stil, die agile Kamera nah an den Körpern, auf der Tonspur jede Menge upbeat-Popmusik, bleibt die Menschin stets Herrin im eigenen Haus, und Technik ist, genauso wie Geschlecht, letztlich nur Material. Material, das inkorporiert und bearbeitet werden muss, andauernd, auch wenn es, siehe oben, kracht. Beziehungsweise: gerade dann.


Eine noch bessere Referenz als Denis sind vielleicht die klassischen Monsterfilme, insbesondere die diversen Frankenstein-Variationen. Alexia ist das Monster, das, nachdem es der Obhut seines Erschaffers und ersten Herrn entkommt, an sich selbst zu experimentieren beginnt, fast blind noch, angetrieben von Wut auf eine Welt, in der jemand wie es selbst nicht vorgesehen ist; das nach einer ersten Transformation bei einem zweiten Herrn Unterschlupf findet und dort nicht nur eine Erziehung des Körpers, sondern auch eine des Herzens durchläuft; das schließlich in einer finalen Synthese zu sich selbst findet.

Wenn das Monster und sein Erschaffer in eins fallen: Ist das dann die queere Erlösung oder die neoliberale Entkernung des Frankenstein-Mythos? In jedem Fall ist "Titane", genau wie die klassischen Monsterfilme, zumindest auch eine Geschichte der Bändigung und Instrumentalisierung. Ganz findet der Film, sobald der Bildungsroman erst einmal in Gang gesetzt ist, nicht mehr zurück zur Wucht des Anfangs, wenn Alexia noch versucht, das Monster in sich zu verdrängen. Die Crashs und Eruptionen sind zunächst eben nicht produktive Selbsttechnik, sondern rein destruktive Entäußerung. Ein Stich ins Ohr läßt Schaum aus dem Mund schießen: Auch der Mensch ist eine Maschine, dessen Getriebe von Körperflüssigkeiten am Laufen gehalten wird.

Der absolut furchlose Blick auf die Getriebe und Triebe des Menschlichen: Das ist die große Stärke des Films, die sich auch dann nicht verliert, wenn das Drehbuch im weiteren Verlauf die eine oder andere grobschlächtige Wendung nimmt und sich insgesamt doch etwas arg plakativ an aktuellen Queer- und Geschlechterdiskursen entlang hangelt. Der menschliche Körper ist in "Titane" nichts Authentisches, aber er ist stets unmittelbar expressiv. Er ist unsere einzige Wahrheit, und eben deshalb müssen wir lernen, über ihn zu verfügen.

Lukas Foerster

Titane - Frankreich 2021 - Regie: Julia Ducournau - Darsteller: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Laïs Salameh, Mara Cisse - Laufzeit: 108 Minuten.

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Bella mag das Spiel mit den Worten. In einer Szene, im Bett mit Daniel, wechseln zärtliches Miteinander und ein Gespräch über Diäten einander ab. Es geht um bestimmte Öle, mit denen sich freie Radikale eliminieren ließen (Leinöl, ägyptisches Schwarzkümmelöl etc). Politisch problematisch klinge das, befindet Bella. Denn ein freies Radikal, das ist doch nichts Schlechtes, ganz im Gegenteil. Bella (Saskia Walker) jedenfalls kann sich damit identifizieren. Man sieht es ihr zunächst nicht an. Aber sie weiß darum, und genauso weiß es Andreas (Ralf Walker), ihr Partner, mit dem sie so etwas wie eine offene Beziehung führt. Der Mann zwischen beiden, der aber nicht wirklich zwischen ihnen steht, ist der aus dem Bett, der Diätexperte, besagter Daniel (Devid Striesow). In "Der Siebzehnte", den Saskia und Ralf Walker zusammen gedreht haben, und für den Ralf Walker das Drehbuch verfasst hat, beflügelt er auf subtile Weise.

Dabei ist es gar nicht leicht, die Geschichte dieses Films einzufangen. Vielleicht, weil es um eine solche auch gar nicht geht. Woran Ralf und Bella gelegen ist, ist das "Schmiermittel". "Ich glaub ja sowieso, das ist alles nur Schmiermittel", sagt Andreas zu Bella, in einer schummrigen Kneipe sitzend. Der Moment ist schön und fühlt sich echt an, irgendwie gelingt den beiden eine große Liebeserklärung, während man sich gleichzeitig darüber austauscht, dass Andreas mal wieder einen Kerl braucht und Bellas Affäre mit Daniel gar nicht so spektakulär ist. Über verschlungene Wege erschließt sich die Liebe immer wieder ein neues Kapitel. Das Schmiermittel ist der Weg dorthin. Und an Daniels Körper lässt sich gut entlang schmieren.


Es glitscht auch an anderer Stelle. Jörg Janzer, Jahrgang 1939, rauscht in der Rolle des "Doc" nackt durch den Wald, findet den Kadaver des erschossenen Wildschweins (Werk der Gräfin Charlotte, gespielt von Franziska Petri), und beschmiert sich mit dessen Blut. Aktionskunst auf dem Land, die ein bisschen im Nichts verläuft. Janzer, Psychiater und Verfasser des Romans "Fleischesfleisch - Rhizome aus dem Zwischennachlass des Dichters und Malers Alexander Meins" (1985) unterscheidet zwischen "klarsichtiger Verwirrtheit" und "funktionaler Verblödung bei formal intakter Intelligenz". In "Der Siebzehnte" ist fast allen Protagonisten an "klarsichtiger Verwirrtheit" gelegen. Andreas ist auch einmal bei Arzt Janzer zu Besuch: auf eine Pritsche drapiert, wird er in die Schräglage gefahren. Das Blut schießt in den Kopf. Danach wirkt Andreas klarer, mehr bei sich.

Erstaunlich ist, wie das scheinbar zusammenhanglose Geschehen, das dieser Film ist, doch zum Denken ermuntert. Auf ganz milde Weise. Denn die beiden Walkers wollen niemanden schlauer machen, wollen auch nicht schlauer sein. Sie gehen von einer Situation in die nächste und finden sich an immer neuen Orten wieder, an denen es gilt, auch den anderen ausfindig zu machen. Ist er noch derselbe? Was gibt es zu erfahren? So stehen Bella und Daniel in Wien auf einem Dach und versuchen Andreas, der auch dort oben ist, aber gleichzeitig ganz woanders, mit ins Boot zu holen. Als alle wieder unten sind, wird geknutscht, mit Zunge, und es hat nichts Peinliches. Eher rührt es ein wenig an, ist aber gleichzeitig auch sexy. Eine sonderbare Kombination, die man erst einmal verdauen muss.

Außen vor und damit verschont wie verprellt ist Kostja (Arsenij Walker), philosophierender Teenager und Sohn von Andreas und Bella, der sich inmitten der ganzen Gefühle noch am ehesten an den Geist hält. Anhand der Paare seiner Schule unterscheidet er verschiedene Konzepte von Beziehung und stellt fest, dass sich die Erwachsenen mehrheitlich wohl an der höchsten, aber auch kompliziertesten Form versuchen würden: der lang anhaltenden, heißen und aufrichtigen Liebe. Kostja steigt tief ein, muss sich zusätzlich aber auch mit Problematiken wie dem ersten Bartwuchs auseinandersetzen. Leicht hat es hier wirklich niemand. Wie auch, wenn man als freies Radikal von solch harmlos anmutenden Dingen wie Leinöl bekämpft wird.

Carolin Weidner

Der Siebzehnte - Deutschland 2020 - Regie: Saskia Walker, Ralf Walker - Darsteller: Saskia Walker, Devid Striesow, Ralf Walker, Jörg Janzer, Arsenij Walker, Franziska Petri, Lars Rudolph - Laufzeit: 75 Minuten.