Im Kino

Unbedingt entzückende Mischwesen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Friederike Horstmann
07.12.2016. Werner Herzog schickt in "Salt and Fire", einem großartigen Zeugnis souveräner Altersbeknacktheit, Veronica Ferres in die Wüste. Hong Sang-soo ist mit seinem 17. Film endlich in den deutschen Kinos angekommen; "Right Now, Wrong Then" beweist ein weiteres Mal, dass die älteste Geschichte der Welt noch längst nicht auserzählt ist.


Werner Herzog ist immer schon meta. Die physischen und metaphysischen Forschungsreisen ans Ende aller Dinge und darüber hinaus, denen der bayrische Regisseur seit Jahrzehnten Film um Film widmet, die Expeditionen in den südamerikanischen Dschungel, zum Polarkreis, in die Höhlen der Frühzeit menschlicher Kultur oder in den Todestrakt texanischer Gefängnisse, sind stets auch Spiegelungen des Herzog'schen Kinobegriffs. Die Filme sind selbst, was sie zeigen: Überschreitungen, die sich dem Zugriff rein funktionalistischer Erkenntnis entziehen. Zum Rest des Kinos verhalten sich Herzogfilme wie die durchgeknallten, getriebenen Wissenschaftler, die in ihnen regelmäßig auftauchen, zum Normalbetrieb eines zu Tode verwalteten post-Bologna-Exzellenzclusters.

Vielleicht kann man sich aus dieser Perspektive "Salt and Fire" nähern, Herzogs neuestem Spielfilm, einem Werk, das selbst in seiner eklektischen Filmografie wie ein besonders schräger Vogel ausschaut. Wenn alle Herzogfilme immer auch Meta-Herzogfilme sind, dann ist "Salt and Fire", dieses abstruse, aber unbedingt entzückende Mischwesen aus (unter anderem) low-Budget-Pulpkino, Wissenschaftstheorie, Wüstenkitsch und touristischer Foto-Herumalberei der reinste aller Meta-Herzogfilme.

Zwar unterhält "Salt and Fire" durchaus Verbindungen zur physischen Realität: Der Vulkan Uturuncu existiert wirklich, ebenso wie die existenzielle, alles menschliche Maß überschreitende Gefahr, die von ihm ausgeht; und die gigantische Salzwüste, die sich zu seinem Fuße erstreckt, ist keine Herzog'sche Projektion, sondern breitet sich tatsächlich Jahr für Jahr, Tag für Tag mit beängstigender Geschwindigkeit aus. Auch das Interesse, das Herzog diesem apokalyptischen Doppelphänomen von Feuer und Salz, Feuer unter Salz, entgegenbringt, ist zweifellos ein ehrliches, typisch intensives. Und doch hat man, wenn der Film nach einer komischerweise gleichzeitig intellektuell mäandernden und (fast) schnurgerade durcherzählten ersten Filmstunde endlich an seinem offensichtlichen Ziel, eben in der Salzwüste mit Blick auf den Uturuncu, ankommt, das Gefühl, dass man sich nirgendwo anders befinden kann als im Gehirn des Werner Herzog. Tatsächlich ist insbesondere die Wüste mit ihrer symmetrischen Musterung und ihrer alle Dimensionen auslöschenden (oder genauer, wie das erwähnte Foto-Herumalbern zeigt: alle Dimensionen in Spielmaterial verwandelnden) gigantischen und komplett planen Ausdehnung mindestens so sehr ein kognitiver wie ein physischer Ort. Und auch ein Kinoort natürlich: Eine gleißend weiße Leinwand, auf der Bilder erscheinen, die immer schon gleichzeitig materiell und illusionär sind. Nur eben eine Leinwand ohne Cache, ohne Begrenzung...

Aber die Metaebene manifestiert sich nicht nur im Handlungsort. Mindestens ebenso forsch greift sie auf das Personal über. Auch in dieser Hinsicht stellt "Salt and Fire" weniger eine Ausnahme im Werk des Regisseurs dar, als eine Zuspitzung, vielleicht eine neue Eskalationsstufe. Die Hauptfiguren der Herzog-Filme, all die Grenzgänger und Eigenbrödler, Bärenfreunde und Pinguinforscher, die seine Filme portraitieren, waren schließlich stets offensichtliche Wiedergänger des bayrischen Regisseurs. Wie Thomas Groh anlässlich seines letzten Herzog-Spielfilms "Queen of the Desert" schrieb: "Nicole Kidman ist Gertrude Bell ist Werner Herzog". In "Salt and Fire" ist nun nicht nur die (unwahrscheinliche) Hauptdarstellerin Veronica Ferres als Biochemikerin Laura Sommerfeld Werner Herzog. Auch ihre beiden von Gael Garcia Bernal und Volker Michalowski gespielten Mitarbeiter sind Herzog (wobei Bernal eine naiv-schmierige, unbeholfen übergriffige Seite an dem Regisseur sichtbar macht, von deren Existenz man bisher nichts wusste).



Die drei haben vor, in Bolivien eine Naturkatastrofe zu untersuchen, werden aber erst einmal von Michael Shannon entführt. Der spielt Matt Riley, den CEO eines mysteriösen, vermutlich für die Katastrofe verantwortlichen Konsortiums, und verwandelt sich spätestens dann ebenfalls in Herzog, wenn er von den perspektivischen Verzerrungen im Kreuzgang eines römischen Klosters zu schwärmen beginnt. Und ganz unbedingt, vielleicht am allermeisten ist Krauss (Lawrence Krauss) Herzog, Rileys Helfer, der mit Vorliebe in kosmischen Dimensionen denkt, und der zwar im Rollstuhl sitzend in die Handlung eingeführt wird, nach einer Weile aber einfach aufsteht und erklärt, seinen fahrbaren Untersatz benötige er lediglich für seine lebensüberdrüssigen Phasen. Kurzum: Jeder ist Herzog, alles ist Herzog. Aber weil Herzog sich gleichzeitig für jeden und alles interessiert, folgt daraus keine hermetische Selbsteinschließung, sondern eine poetisch freihändige Entgrenzung hin auf die Welt und die sonderbaren Kreaturen, die sie bevölkern.

Das mag sich alles reichtlich durchgeknallt anhören, aber man muss mir einfach glauben: In Wahrheit ist "Salt and Fire" noch weitaus durchgeknallter. Noch gar nicht erwähnt habe ich zum Beispiel die beiden blinden Waisenkinder, die Veronica Ferres inmitten der Salzwüste unter ihre Fittiche nimmt, und mit denen sie eine denkwürdige Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Partie bestreitet. Und dann wäre da noch Ferres selbst, deren bisher vor allem im braven deutschen prime-time-Fernsehprogramm sich entfaltende Filmografie sie nicht unbedingt zur nächstliegenden Verkörperung einer im Herzog'schen Sinne Getriebenen macht; und in deren Spiel in der Tat oftmals eine naive Unbeholfenheit, wenn nicht gar Hausfrauentüddeligkeit durchscheint, die sich an dem datenversessenen Professionalismus ihrer Figur auf rührende Weise bricht.

Am sonderbarsten überhaupt: Das klappt alles trotzdem! Bzw nicht trotzdem, sondern gerade deshalb! Nichts an diesem Film wirkt willkürlich, alles hat seinen Platz, folgt einer inneren Zwangsläufigkeit, die sich dem Plotnacherzählen gründlich entzieht. Dass das so ist, hat viel mit der berückenden Gestaltung des Films zu tun. Zum Beispiel mit Ernst Rejsegers flächig-modernistischer musikalischer Untermalung, die genau das ist: malerisch, jeder Streichereinsatz ein forscher, selbstbewusster Pinselstrich. Und auch mit Peter Zeitlingers Kameraarbeit, mit der souveränen Unruhe eines Blicks, der sich, fast stets in Bewegung, eine neugierige Autonomie gegenüber den wundersamen Ereignissen herausnimmt, die er gleichzeitig erst ins Bild setzt.

Noch mehr zu tun hat die wohlige und beschwingte Geborgenheit, die zumindest Herzog-Sympathisanten in "Salt and Fire" empfinden dürften, freilich mit der fast schlafwandlerischen Sicherheit eines Regisseurs, der nach plus minus 60 Filmen niemand mehr etwas zu beweisen hat und der es sich leisten kann, selbst Weltstars wie Shannon und Bernal als bloße Zerrspiegel seiner eigenen Obsessionen einzusetzen; und der auch kein Problem damit hat, Bernal bereits nach dem ersten Filmdrittel mit der "Mutter aller Durchfälle" auf Nimmerwiedersehen in Richtung Toilette verschwinden zu lassen. Von Altersweisheit möchte man angesichts eines Films, der so eindeutig nicht alle Tassen im Schrank hat, zwar auch nicht unbedingt sprechen. Aber tatsächlich ist "Salt and Fire" etwas noch viel Tolleres: das flirrend-luzide Zeugnis einer grandiosen, souveränen Altersbeknacktheit.

Lukas Foerster

Salt and Fire - USA 2016 - Regie: Werner Herzog - Darsteller: Veronica Ferres, Michael Shannon, Gael Garcia Bernal, Volker Michalowski, Lawrence Krauss - Laufzeit: 98 Minuten.


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"Und jetzt die wichtigste Frage zum Schluss des Podiumsgesprächs, ich stelle eine ganz kurze Frage, bitte geben Sie eine kurz gefasste Antwort, was bedeutet Film für Sie, wie definieren Sie Film, können Sie das mit einem Satz zusammenfassen, in einem Satz bitte." Im Anschluss an ein Screening auf einem Filmfestival in der Provinzstadt Suwon stellt ein Moderator dem Regisseur Ham Chun-su im Q&A eine Grundsatzfrage. In superlativischer Aufgeplusterheit markiert er diese nicht nur als die wichtigste, er selbst ist unvermögend, sich kurz zu fassen, bittet aber wiederholend um Kürze, verbastelt sich dabei in sprachlichen Redundanzen und arabesker Ornamentalität. Die Komik, die hier und anderorts Hong Sang-soos Film bestimmt, entsteht aus einer Kluft zwischen dem, was gesagt, was getan und was gefordert wird. Dem artikulierten Anspruch entspricht der Regisseur nicht: Seine Antwort ist erst suchend, dann wird er laut und sprachkritisch, er glaube nicht, dass es wichtige Worte gäbe, vielmehr kämen einem die Worte in die Quere.

Nahezu enzyklopädisch geht es in "Right Now, Wrong Then" um Kommunikation, deren Irrwege, Modulationen und Verschiebungen, es geht um Projektionen und Täuschungen. Eine Verfehlungsgeschichte in Form eines Diptychons - auch die Narrative kommen einem in die Quere, denn Hong Sang-soo erzählt dieselbe Geschichte zweimal, mit minimal anderen Kameraansichten, mit nahezu identischen Dialogen, mit demselben Setting, mit denselben Darstellern. Hong Sang-soos Filme sind exotisch durch ihre banale Thematiken. Es geht um alltägliche Vorkommnisse. Durch die Ähnlichkeit der dargestellten Probleme, die wiederkehrenden Motive und Figuren, sind sie einander verwirrend ähnlich. Man sollte Hongs Filme en masse sehen, um sich auf sie einzustellen. Endlich hat man nun die Gelegenheit, einen Film außerhalb von Festivals und Filmmuseen zu sehen, denn "Right Now, Wrong Then" ist von Hong Sang-soos 17 Filmen der Erste, der einen regulären Start im deutschen Kino erhält.



Der Film zeigt zwei Möglichkeiten einer Begegnung: Versehentlich reist der Regisseur Ham Chun-su einen Tag zu früh nach Suwon, einer kleinen Stadt im Süden von Seoul. Um sich die die Zeit zu vertreiben, besucht er eine alte Tempelanlage. Im Innenhof spricht er die junge Frau Yoon Hee-jung an. Sie verbringen einen Tag zusammen, trinken Kaffee, besuchen ihr Atelier, essen Sushi, trinken viel Soju und treffen ihre Freunde. Eine Geschichte, die üblicherweise unter der Wahrnehmungsschwelle des Kinos liegt. Boy meets girl und sonst nichts: Davon allein mag kaum mehr einer erzählen, weil die meisten keine Worte haben für das, was da passieren könnte. Die einfachste Geschichte der Welt ist eben doch eine komplizierte Angelegenheit. Hong Sang-soos präziser Beschreibungsrealismus zeigt sich schon im erstem Wortwechsel - einer girlandenartigen Kommunikation über unzählige Umwege: Auf die Frage des Regisseurs, was sie mache, antwortet Hee-jung zunächst, dass sie einen Banana-Shake trinke, dann nach einer Weile, dass sie nichts Besonderes tue, schließlich auf die erneute Frage: "Ich würde mich als jemanden beschreiben, der malt." Hee-jungs Antworten werden moduliert, leicht verschoben, ihre letzte Antwort in Klammer und Konjunktiv gesetzt. In den Variationen bekommen ihre Selbstbeschreibungen neue Nuancen, die durch Hong Sang-soos narrative Zweiteilung des Films noch verstärkt werden.

Schwer zu sagen, wie genau die beiden Filmhälften zusammengehören. Der zweite Teil als Re-make oder als Essenz des ersten? Beide Teile funktionierten autonom. Doch erst durch die Doppelungen, Spiegelungen und Wiederholungen entstehen unzählige Nachklänge einzelner Situationen. Beide Teile sind aus maskuliner Perspektive erzählt, der erste dezidierter, denn Ham Chun-su kommentiert einzelne Szenen durch Voice-over-Einschübe. Nüchtern oder betrunken gibt es in "Right Now, Wrong Then" immer wieder Momente männlicher Avancen und Anmaßungen. Durch übergriffige Zuschreibungen gerät Yoon Hee-jung in unerquickliche Situationen, mal wird ihre Kunstpraxis als Trostmalerei diffamiert, mal entpuppen sich Ham Chun-sus Beschreibungen derselben Bilder als abgekupferte Wiederholungen: Bei dem Treffen mit ihren Freunden kommt zur Sprache, dass das, was der Regisseur gerade noch über ihre Malerei gesagt hat, schon nahezu identisch in einem Interview über seine eigenen Filme geäußert hat. Nicht nur menschliches Handeln unterliegt Wiederholungszwänge und Automatismen - auch Hong Sang-soos Film. Vor allem zeigt die analoge Struktur Möglichkeitsformen filmischen Erzählens. Zwischen den beiden Geschichten, zwischen einzelnen Wörter, Sätzen und Szenen, zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten tun sich Zwischenräume auf, die Hong Sang-soo eindrücklich auslotet.

Friederike Horstmann

Right Now, Wrong Then - Südkorea 2015 - Originaltitel: Ji-geum-eun-mat-go-geu-ddae-neun-teul-li-da - Regie: Hong Sang-soo - Darsteller: Jeong Jae-yeong, Kim Min-hee, Yoon Yeo-jeong, Gi Ju-bong, Choi Hwa-jeong - Laufzeit: 121 Minuten.