Magazinrundschau

Der Leser, den ich liebe

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
29.07.2014. The New Republic jagt einen Sturm namens William T. Vollmann. In der New York Review of Books lernt Jonathan Freedland von Ari Shavit, was linker Zionismus ist. Die London Review of Books porträtiert einen doppelt impotenten Alain Robbe-Grillet. Hairpin porträtiert eine Giftmörderin des 17. Jahrhunderts, die Marquise de Brinvilliers. Pacific Standard fragt: Was ist Ihre DNA wert? Der New Yorker sucht das weibliche Hirn bei Radikalfeministinnen und Trans-Frauen.

New Republic (USA), 04.08.2014

Tom Bissell besuchte William T. Vollmann in Sacramento und kam mit einem riesigen Porträt des Schriftstellers zurück, der für seine dicken Bücher berühmt ist: "In Gesprächen kommt er immer wieder und immer wieder darauf zurück, wie glücklich er über seine Unabhängigkeit vom Literaturbetrieb ist, der wahrlich feindselig gegenüber solcher Unabhängigkeit sein kann. "Der Leser, für den ich schreibe, wird offen sein für wundervolle Sätze und er wird zumindest versuchen zu verstehen, warum ich tue, was ich tue", sagte er mir. "Das ist dann der Leser, den ich liebe, und das ist der Leser, der schlussendlich mich liebt." Ich persönlich habe eine ganze Menge von Vollmanns Romanen gelesen und in viele andere reingelesen, mich in ihnen umgesehen. "Fathers and Crows" ist eines meiner Lieblingsbücher von ihm; aber ich habe wohl kaum mehr als die Hälfte davon wirklich gelesen. Du liest Vollmann nicht auf der Suche nach Struktur und altbackenem Geschichtenerzählen; du liest Vollmann wegen seiner Sätze, wegen der Stimmung, wegen dem Erlebnis. Du gibst dich Vollmann hin, aus dem selben Grund, der andere dazu bewegt, Stürmen nachzujagen."
Archiv: New Republic

New York Review of Books (USA), 14.08.2014

Sehr lesenswert ist Jonathan Freedlands Essay über Ari Shavits offenbar ebenfalls sehr lesenswertes Buch "My Promised Land - The Triumph and Tragedy of Israel" (Auszug). Die Frage ist schlicht, wie linker Zionismus heute noch möglich sei und welche Rolle er spielen kann. Freedland erkennt vor allem an, dass Shavit die Tiefe der Verletzung der Palästinenser schon durch die Gründung Israels nicht verschweigt, und er scheint Shavits Idee, dass sich Israel einseitig auf die Grenzen von 1967 zurückziehen sollte, zuzustimmen - obwohl auch durch einen solchen Rückzug kein Friede eintreten wird. Zum linken Zionismus sagt Freedland: "Was seine Gegner auf der Linken und der Rechten so wütend macht, ist das Beharren darauf, dass zwei Dinge, die als unvereinbar gelten, gleichzeitig richtig sein können. Während die Linke die Siedlungen anprangert und die Rechte das Sicherheitsbedürfnis Israels herausstellt, möchte der linke Zionist beides tun, oft gleichzeitig." Bereits gestern haben wir auf Fredlands Blogbeitrag zur jüngsten Entwicklung in Israel hingewiesen.

Sehr instruktiv auch Hugh Eakins Reisebericht aus dem Emirat Oman, das an der Südostspitze der arabischen Halbinsel liegt und eine Äquidistanz zu Saudi-Arabien und Iran pflegt, die es zu eine Mittlerposition befähigt. Möglich wird das unter anderem dadurch, dass das Emirat weder dem schiitischen, noch dem sunnitischen Islam angehört, sondern der fast unbekannten Ibadi-Konfession. Das einzige Problem: Die Ölreserven sind recht begrenzt.

London Review of Books (UK), 31.07.2014

Mit sieben Jahren Verzögerung erscheint Alain Robbe-Grillets Skandalbuch "Un Roman sentimental" auf Englisch. Durchaus abstoßend findet Adam Shatz die sadistisch-pädophilen Fantasien des Erzählers, liest den Roman jedoch auch als zweifache Liebeserklärung eines im doppelten Sinne impotent gewordenen Autors an die Literatur und an seine Frau: "Die Leidenschaft, die Robbe-Grillet in solch anstößiger Detailliertheit beschreibt, ist vielleicht weniger wichtig als das, was er die "Leidenschaft zu beschreiben" nennt: die einzige Leidenschaft im nouveau roman. Robbe-Grillets andere große Liebe war seine Frau Catherine, sein kleines Mädchen. Ihre Ehe, eine ungebrochene Komplizenschaft über ein halbes Jahrhundert hinweg, trägt viel Ähnlichkeit mit der Beziehung des Paares in "Un roman sentimental". Es ist kein Zufall, dass Gigi auch Djinn genannt wird, was wie der englische Name Jean klingt - Catherines Pseudonym als S/M-Autorin. Gigi/Djinn ähnelt Jean de Berg auch in weiterer Hinsicht: Sie ist die gelehrige Schülerin, die die Weisheit ihres Herren in sich aufnimmt und ihn in der Kunst der sexuellen Grausamkeit sogar noch überflügelt."

Weiteres: Jeremy Harding bespricht wohlwollend, aber em Ende doch recht kritisch David Marquands Essay "Mommon"s Kingdom" über die Zerschlagung der öffentlichen Sphäre in Großbritannien durch Populisten und Renditejäger. Jenny Diski denkt mit Nikil Savals Buch "Cubed" über das Arbeiten im Büro nach.

New Yorker (USA), 04.08.2014

In Amerika tobt ein Streit zwischen Radikalfeministinnen und Transgender, berichtet Michelle Goldberg. Wobei letztere den - mit ziemlich harten Bandagen geführten - Kampf zu gewinnen scheinen. Aber worum geht es überhaupt? "Trans-Frauen sagen, sie seien Frauen, weil sie sich weiblich fühlen - dass, wie einige erklärten, sie ein weibliches Gehirn in einem männlichen Körper haben. Radikale Feministinnen lehnen die Vorstellung eines "weiblichen Gehirns" ab. Sie glauben, dass wenn eine Frau anders denkt und handelt als ein Mann, sie dies tut, weil die Gesellschaft sie dazu zwingt und von ihnen fordert sexuell attraktiv, pflegend und ehrerbietig zu sein. Weiblichkeit ist, mit den Worten von Lierre Keith, einer Sprecherin von Radfems Respond, "ritualisierte Unterwerfung". Aus dieser Sicht ist Geschlecht weniger eine Identität als eine Kaste. Jeder, der als Mann geboren wird, behält das Privileg des Mannseins in der Gesellschaft. Selbst wenn er sich entscheidet, als Frau zu leben und die damit verbundene untergeordnete soziale Position akzeptiert, so hat er doch eine Wahl und kann darum niemals verstehen, was es wirklich bedeutet, eine Frau zu sein. Wenn Trans-Frauen fordern, als Frauen akzeptiert zu werden, dann üben sie einfach nur eine andere Form der männlichen Anspruchshaltung aus."
Archiv: New Yorker

Pacific Standard (USA), 31.08.2014

Vor elf Jahren machte die Spinnerei in Kannapolis, North Carolina zu und ein großer Teil der Einwohner verlor ihren Job - meistens Arbeit für ungelernte oder wenig qualifizierte Arbeiter. Inzwischen hat der Milliardär David H. Murdock auf dem Gelände ein Forschungslabor für Biotechnologie errichtet. Hier gibt es zwar nur Jobs für Hochqualifizierte, aber auch die ehemaligen Spinnereiarbeiter können sich hier etwas verdienen: Indem sie sich und ihre DNA für Forschungszwecke zur Verfügung stellen. Alles bestens also? Amanda Wilson zeigt in einer sehr lesenswerten Reportage die Ambivalenz dieser neuen Ökonomie. Denn die gekaufte DNA wird benutzt, um Tests für genetisch bedingte Krankheiten zu entwickeln. Diese Tests werden ein Vermögen wert sein. Bekommen die Einwohner von Kannapolis wirklich den vollen Gegenwert? "Kannapolis hat wie fast ganz Amerika, eine Ökonomie, in der die guten Jobs an hochqualifizierte Experten gehen und Wohlstand über die Dienstleistungsindustrie an die weniger Qualifizierten durchsickert. Eine Ökonomie, in der die fixen Ideen eines Milliardärs riesige Mengen an Talent und Kapital für eine Spekulaktion auslösen. Und eine, in der Konzerne Werte schaffen, indem sie die persönlichen Daten einfacher Menschen sammeln - ob jetzt aus einer Blutprobe oder aus Details ihrer Facebookseiten - und dann diese Daten in einem Privatisierungsmanöver, das diese Leute kaum verstehen, zu Geld zu machen." Ein Experte schlägt deshalb vor, dass jeder Anspruch auf eine Kopie seiner Daten haben sollte, die er dann selbst verkaufen oder verschenken kann.

Hairpin (USA), 16.07.2014

In ihrer Reihe über weibliche Mörder widmet sich Tori Telfer nach Erzsébet Báthory jetzt der französischen Marquise de Brinvilliers, die zur Zeit Ludwigs XIV. Dutzende von Menschen - vor allem Verwandte - vergiftete. Doch zuerst musste sie die Wirkung ihrer Pulver ausprobieren: "Und so setzte Marie ihr liebenswürdigstes Gesicht auf und ging zum Hôtel Dieu, dem berühmten Krankenhaus bei Notre Dame. Dort besuchte sie die Kranken, verteilte vergiftete Marmelade und Süßigkeiten unter ihren Lieblingspatienten und weinte untröstlich, wenn sie schließlich starben. "Wer hätte auch nur geträumt, dass diese Frau aus respektabler Familie ... sich ein Vergnügen daraus machen würde, ins Krankenhaus zu gehen und Patienten zu vergiften, nur um die unterschiedlichen Wirkungen des Gifts zu studieren", schrieb Nicolas de la Reynie, damals der Polizeichef von Paris. Marie experimentierte außerdem an mindestens einem ihrer Dienstmädchen mit einem Doppelschlag aus vergifteter Stachelbeermarmelade und vergiftetem Schinken. Das arme Mädchen hatte furchtbar brennende Bauchschmerzen und litt drei Jahre lang an den Folgen."
Archiv: Hairpin

Nepszabadsag (Ungarn), 25.07.2014

Das ungarische Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung wurde vor einer Woche still und heimlich aufgestellt. Auf eine offizielle Einweihung wurde verzichtet. Lediglich eine Presseerklärung des Ministerpräsidenten verkündete, dass mit der Aufstellung des Denkmals eine Pflicht gegenüber der Nation erfüllt sei. Das Denkmal wurde kritisiert, weil es den ungarischen Opfermythos verklärt. Ákos Tóth resümiert in der Wochenendausgabe von Népszabadság: "Das Denkmal wurde nicht einmal eingeweiht. (...) Nicht einmal zufällig erschien ein Würdenträger. Auch der Auftraggeber, also der Ministerpräsident, war nirgends zu sehen, er hat sich das große Werk am Freiheitsplatz noch nicht angesehen, es sei denn, hat sich in der Nacht herangeschlichen. (...) Für die Zeit nach den Absperrungen wurde die Umgebung mit Kameras ausgestattet. So beschützen sie das Denkmal der Opfer vor den Opfern und ihren Nachfahren. Doch die Kameras werden nicht nur die Proteste festgehalten, sondern auch die Opfer selbst, wie sie sich ihrem Denkmal annähern, um es anzuschauen. Nicht ein Zucken ihres Gesichts wird ein Geheimnis bleiben." Auch die Presse berichtete.
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Ungarn

New York Times (USA), 27.07.2014

Jeder möchte frische Lebensmittel. Aber um sie frisch zu halten, braucht man einen Kühlschrank. In China ist die Anzahl der Kühlschrankbesitzer in den Städten zwischen 1995 und 2007 von sieben Prozent auf 95 Prozent gestiegen. Das hat nicht nur Vorteile, erklärt Nicola Twilley in ihrer Reportage für das NYT Magazine. "Dies beschreibt nicht einfach nur einen Wandel, wie Chinesen Nahrungsmittel anbauen, verteilen und essen. Es beschreibt auch einen gewaltigen neuen Faktor im Klimawandel. Kühlung ist schon jetzt verantwortlich für 15 Prozent des weltweiten Stromverbrauchs. Lecks, durch die Kühlmittel ausfließen, sind mitverantwortlich für die Treibhausgase. Von allen Veränderungen im Lebensstil, die den Planeten derzeit bedrohen, ist keine so wichtig, wie das veränderte Essverhalten der Chinesen."
Archiv: New York Times
Stichwörter: China, Klimawandel, Kühlschränke