Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2004. Die NZZ bestaunt junge Ehepaaare in Königsberg, die nicht nur einander, sondern auch der reinen Vernunft huldigen. Die SZ stellt eine Sehnsucht nach Politik in der jüngsten Literatur fest und unterhält sich darüber mit Norbert Gstrein. Die FAZ sieht den jüngsten Baselitz gefährlich fliederfarben aufblühen. Die FR hat Gott Snooker spielen sehen. In der Welt verteidigt die lettsische EU-Kommissarin Sandra Kalniete ihre Äußerungen bei der Leipziger Buchmesse.

NZZ, 28.04.2004

Uwe Justus Wenzel ist nach Kaliningrad gereist, um dort eine von der Universität ausgerichtete Geburtstagsfeier zu Ehren Immanuel Kants zu besuchen. Vorher streift er ein wenig durch die Stadt und bemerkt einen sonderbaren Brauch, "den frisch getraute Paare an Kants Grab pflegen: Sie legen Blumen nieder. - Bedanken sie sich für die Erkenntnis, die ihnen Paragraph 24 von Kants Rechtslehre eröffnet hat? Dort heißt es: '... wenn Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen, so müssen sie sich notwendig verehlichen, und dieses ist nach Rechtsgesetzen der reinen Vernunft notwendig.'"

Weitere Artikel: Alfred Zimmerlin freut sich über schweizerische Werke bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik. Thomas Leuchtenmüller schreibt zum Tod des amerikanischen Schriftstellers Hubert Selby Jr.. Besprochen werden eine Ausstellung über Corot und die frühe Freilichtmalerei 1780-1850 im Museum Langmatt in Baden und Bücher, darunter Steffen Bruendels Studie "Volksgemeinschaft oder Volksstaat" und eine Biografie Walter Kempowskis (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 28.04.2004

Der brasilianische Musiker Caetano Veloso spricht im Interview über sein erstes englischsprachiges Album "A Foreign Sound" und seine Faszination für die westlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Einer These des Filmregisseurs Peter Greenaway, wonach die Revolutionen, die in der Literatur, der Musik und in der Malerei stattgefunden haben, am Kino abgeperlt sind, kann er nur zustimmen: "Er hat mit seiner Kritik an der Traumfabrik völlig Recht. Sehen Sie sich doch nur einmal die elektronische Tanzmusik an, die sich Karlheinz Stockhausen in atemberaubender Geschwindigkeit und Konsequenz genähert hat. Ich beobachte das alles sehr genau. Ich weiß, wo Köln liegt. Manchmal frage ich mich, was wohl passieren würde, wenn wir Webern, Cage und all die anderen eines Tages ganz selbstverständlich im Autoradio hören könnten. Stellen Sie sich doch einmal vor, Sie würden auf der Fahrt von Rio nach Sao Paulo oder von Berlin nach München das Radio anschalten und könnten der Auflösung der Zwölftonmusik lauschen. Ich glaube, dass viel mehr Menschen die Reize dieser Musik für sich entdecken würden, wenn sie nur mit der Musik in ihrer Reinform konfrontiert würden."

Weitere Artikel: Spannend, aber dennoch missraten findet Andrea Roedig Kevin MacDonalds Dokudrama "Sturz ins Leere - Touching the Void" über eine Bergbesteigung in den Anden, die mit dem dramatischen Tod eines der beiden Teilnehmer endet. Im Nachruf auf Hubert Selby Jr. (mehr hier) würdigt Sebastian Domsch den Schriftsteller als "moralischen Satiriker in der schwärzesten Tradition von Jonathan Swift".

Und hier TOM.

FR, 28.04.2004

Stefan Tolksdorf hat eine Ausstellung Santiago Serras besucht - "ein Spiel mit dem Risiko und der Labilität, die das Leben selber ist". Der spanische Aktionskünstler hat nämlich das Kunsthaus Bregenz in eine "statische Gefahrenzone" verwandelt hat, indem er 292 Tonnen in Gestalt von 14 Betonziegeltürmen ins obere Stockwerk verfrachtet hat. Nur 100 Leute dürfen gleichzeitig rein - die Belastungsgrenze von Peter Zumthors Bau liegt bei 300 Tonnen.

Weitere Artikel: Robert Kaltenbrunner beschwört die "Notwendigkeit urbanistischer Leitbilder". Thomas Medicus untersucht, inwiefern die EU-Osterweiterung in Berlin längst Realität ist: etwa im "Club der polnischen Versager", einem Treffpunkt für Intellektuelle und Künstler. Daniel Kothenschulte wirft einen Blick auf die 50-jährige Geschichte der Kurzfilmtage Oberhausen. Die "Ekel- und Selbstaufgabe-Ästhetik eines Charles Bukowski, jedoch ohne die hedonistischen Anteile" attestiert Ina Hartwig dem verstorbenen Schriftsteller Hubert Selby Jr.. Guido Fischer resümiert die 36. Wittener Kammermusiktage. In Times mager erinnert Jürgen Roth an die Wiederkehr des 130. Geburtstagstags von Karl Kraus.

Und auf der Medienseite schwärmt Erik Eggers von der Snooker-WM, die bis zum Finale am 3. Mai täglich auf Eurosport übertragen wird. Den Favoriten muss man sich dabei offenbar gottgleich vorstellen, allerdings trägt "Gott zurzeit langes schwarzes Haar und außerdem, damit dies nicht ins Gesicht fällt, eine affig aussehende Spange."

Welt, 28.04.2004

Die Welt interviewt die lettische EU-Kommissarin Sandra Kalniete, die bei einer Rede bei der Leipziger Buchmesse die Verbrechen des Kommunismus und der Nazis "gleichermaßen verbrecherisch" nannte und damit eine Debatte auslöste.(Unsere Resümees zum Vorfall finden Sie hier.) Sie verteidigt ihre Äußerung, beteuert, dass sich die Letten auch mit ihren eigenen Verbrechen auseinandersetzen und sagt zum EU-Beitritt: "Wir kommen als boomende Volkswirtschaften, dynamische Gesellschaften. Ich glaube nicht, dass jetzt eine Zunahme des Antisemitismus droht. Wir tun viel, um das historische Bewusstsein und die Wachsamkeit zu fördern. Gefahrenzeichen gibt es in vielen Ländern. Entscheidend ist, dass die Behörden, unsere Präsidentin, die Regierung darauf reagieren und das verurteilen. Es ist überhaupt nicht meine Absicht, einen Teil der im 20. Jahrhundert begangenen Verbrechen herunterzuspielen."

Tagesspiegel, 28.04.2004

Warum bekommen die Deutschen immer weniger Kinder? Weil sie immer alles richtig machen wollen. "Wir investieren in Kinder wie in Projekte und pflegen eine unvergleichliche Kultur der Fürsorge", meint Christiane Peitz und hält ein leidenschaftliches Plädoyer gegen das deutsche Sicherheitsdenken: "Wer Kinder bekommt, kann gar nicht alles richtig machen. Kinder sind der Einbruch des Unberechenbaren in eine nicht mal halbwegs geordnete Welt. Kinder bedeuten Chaos, sind eine Zumutung, eine Überforderung, der Inbegriff der Unvernunft, das Ende jeglicher Perfektion. Wer Kinder bekommt, bekommt sie wider besseres Wissen und garantiert ohne Garantie. Vielleicht brauchen wir Deutschen also nicht mehr Kinderfreundlichkeit und eine 'neue Kultur der Fürsorglichkeit', wie Hans Bertram es nennt, sondern vor allem mehr Gelassenheit: den Mut, Fehler zu machen und fünf gerade sein zu lassen."
Stichwörter: Gelassenheit

SZ, 28.04.2004

Auf der Literaturseite bemerkt Ijoma Mangold ein "Unbehagen am Unpolitischen" in der jüngeren Gegenwartsliteratur. Nachdem in den neunziger Jahren "das Kinderzimmer der zentrale Erfahrungsraum" gewesen sei, hege die jüngere Schriftstellergeneration nun wieder eine "Sehnsucht nach Politik". Die möge, wünscht sich Mangold, nur nicht auf die "Wiederbelebung der Grußadresse und des Offenen Briefes" hinauslaufen. Daneben steht ein fast ganzseitiges Gespräch mit dem österreichischen Schriftsteller Norbert Gstrein ("Das Handwerk des Tötens", mehr hier) über Jugoslawien, Peter Handke und den Schreibtisch als gefährlichen Ort. Über Handkes Serbienreise sagt Gstrein: "Ist für mich wie Pulp Fiction, also völlig surreal: Wie spricht man in einer Limousine mit einem serbischen Chauffeur, der einen in einer Mission durch zerstörte Dörfer fährt?"

Im Aufmacher denkt Ulrich Raulff über das Verhältnis von Terror, Sicherheit und Imaginärem nach ("Man sieht, wie der Terrorismus immer neue Wege sucht und findet, um die Imagination des Westens für seine Zwecke einzuspannen"). In der Reihe "15+10. Das Neue Europa" erklärt der maltekische Schriftsteller Oliver Friggieri, was sich der Inselstaat Malta vom EU-Beitritt erhofft. Und Alexander Kissler würdigt die Bedeutung des "kollektiven Gedächtnisses einer 2000-jährigen Geschichte" und fordert Europa dazu auf, sich seiner Ursprünge zu besinnen, "auch wenn die Zukunft des Kontinents nicht christlich formuliert" werden könne.

Tim B. Müller beschreibt das "Haus des Terrors" in Budapest und die Erinnerungskultur in Ungarn. Lothar Müller kommentiert die Neuregelung der Mittelvergabe aus dem Hauptstadtkulturfonds, bei der ausgerechnet dessen Kuratorin Adrienne Göhler nicht mitreden darf. "midt" informiert über die Eröffnung des ersten "Sado-Maso-Restaurants" in Israel - essen, was auf den Tisch kommt, sonst Peitsche. Zu lesen ist schließlich ein knapper Nachruf auf Hubert Selby, der dafür mit einem hübschen Zitat des Autors aufwartet: "Ich werde nicht sterben. Ich bin ein New Yorker, und mir erzählt niemand, was ich zu tun habe."

Ansonsten gibt es noch etliche Festivalberichte, darunter von den Wittener Kammermusiktagen, dem Stuttgarter Festival "Zwischen den Kriegen" mit "globalstrategischem Theater" von Beirut bis Baku und dem Theaterfestival "Neue Stücke aus Europa", der Fortsetzung der Bonner Biennale in Wiesbaden.

Besprochen werden ein vom Ensemble Modern erarbeitetes Projekt, "Rasalila", das im Berliner Haus der Kulturen der Welt "zum ersten Mal der wirklichen Austausch zwischen indischer und westlicher Musik zustandebringt", der Film "Runaway Jury" von Gary Fleder und das bisher nur in den USA erschienene neue Buch von Kevin Roberts "Lovemarks - the future beyond brands".

FAZ, 28.04.2004

Aufmacher ist, ungewöhnlich genug, eine Besprechung. Thomas Wagner würdigt ausführlich die große Georg-Baselitz-Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle und geht besonders auf die jüngsten Entwicklungen im Oeuvre des Künstlers ein: "Seit einigen Jahren beginnen die Bilder gefährlich fliederfarben aufzublühen." Wagner beschreibt auch "das Loch", das leere Zentrum, um das Baselitz seine neuesten Bilder kreisen lässt, und konstatiert, dass die Gestalten der Bilder auch hier "unerlöste Seelen, Randfiguren und Grenzgänger (sind). Doch erscheinen sie nicht länger niedergedrückt von der Geschichte, sondern schwerelos. Baselitz ist also in andere, höhere Umlaufbahnen aufgestiegen, hat erst jetzt das Raumbild ganz eingetauscht gegen das Flächenbild."

Auf der letzten Seite präsentiert Andreas Kilb einige abschließende Meditationen über Mel Gibsons Jesus-Film: "Dass auch Christus einmal unter die Actionhelden fallen würde, hätten sich Adorno und Horkheimer nicht träumen lassen, als sie vor sechzig Jahren schrieben, die Kulturindustrie schlage alles mit Ähnlichkeit. Aber so ist es: Was sich auf den Markt begibt, wird Produkt. So wie vor einem halben Menschenalter Norman Jewisons 'Jesus Christ Superstar' die Mauer zwischen dem Gekreuzigten und der Hippie-Generation niederriss, gemeindet 'Die Passion Christi' ihren Protagonisten in die Heldengalerie des Blockbusterkinos ein."

Weitere Artikel: Versteckt auf der fünften Seite des Feuilletons singt die polnische Autorin Olga Tokarczuk ein Loblied auf das Genre der Erzählung, die sie keineswegs "als Lückenfüller zwischen einem Roman und dem nächsten, als harmloses Vergnügen" verstanden wissen will und in der sie im Gegenteil die Zukunft der Literatur erblickt. Heinrich Wefing, der endgültig von San Francisco ins traurig graue Berlin heimgekehrt zu sein scheint, meldet, dass die Initiative "Dokumentation Zwangsarbeit" eine Gegenausstellung zur Präsentation der Flick Collection plant, die die Zwangsarbeit bei den Flicks zum Gegenstand hat. Felicitas von Lovenberg weist in der Leitglosse auf einen Artikel des amerikanischen Literaturforschers James Kaufman in der Zeitschrift Death Studies hin, der nachweist, dass Lyriker mit 62,2 Jahren sterben, während es Romanciers im Schnitt immerhin auf 66 Jahre bringen. Joachim Kalka schreibt zum Tod des amerikanischen Romanciers Hubert Selby. Angelika Heinick berichtet über Pläne zur Neugestaltung des in den siebziger Jahren gründlich verunglückten Areals der ehemaligen Pariser Markthallen. Jürgen Kaube versucht dem eigentlichen Sinn der im Berliner Hebbel-Theater veranstalteten "Belagerung Bartleby", die sich selbst als "theatrale Installation" präsentierte, auf die Spur zu kommen.

Auf der Medienseite setzt Gudrun Sailer die Reihe über Stimmen mit einer Meditation über Italiener am Telefonino, zu gut deutsch also: dem Handy fort. Paul Ingendaay fragt, wie das spanische Fernsehen reformiert werden soll. Michael Hanfeld blickt auf "ein gutes Jahr für Burda" zurück.

Auf der letzten Seite erklärt Jordan Mejias die Flut der politischen Bestseller in den USA mit der Politik der "Geheimhaltung und Informationskontrolle" der Bush-Regierung. Als nächste Bestseller sind Bill Clintons Memoiren (für Juni) und ein Buch der Klatschjournalistin Kitty Kelley über die Bush-Dynastie (für September) angesagt. Michael Gassmann porträtiert zuguterletzt den Kölner Organisten Peter Bares, der es sagenhafter Weise fertig bringt, über Zeitungsartikel zu improvisieren, "darunter auch ein Feuilleton aus dieser Zeitung, das die jüngste Liturgie-Instruktion der katholischen Kirche zum Gegenstand hat (F.A.Z. vom 24. April)".

Besprochen werden Kevin Macdonalds Dokumentarspielfilm "Sturz ins Leere" über das harte Leben der Bergsteiger, ein Auftritt der Band Phoenix in Köln, Neues von Kagel und Altes von Nono bei der Kölner Musik Triennale und Händels "Rodelinda" in Darmstadt.