Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2005. Wegen eines Server-Problems sind wir heute zu spät gekommen - pardon! In der Zeit beschreibt Juli Zeh die Nachteiligkeit unseres treuherzigen Blicks nach oben. In der taz rät Alfred Grosser zu einer großen Koalition ohne Schröder und Merkel. In der SZ sucht Heinz Bude nach einem geistigen Gesicht für die SPD. Die Welt wirft schon einen Blick auf die große Immendorff-Ausstellung in Berlin. Die FAZ erkundet den zweitwichtigsten Wirtschaftszweig Spaniens: die Prostitution.

Zeit, 22.09.2005

Die Schriftstellerin Juli Zeh beschleicht der Verdacht, dass die Fixierung der Parteien auf die Wirtschaftspolitik nicht Teil der Lösung, sondern des Problems sein könnte. "Schließlich steigert die rhetorische Konzentration auf Arbeitsplätze-Schaffen und Wachstum-Fördern die ohnehin vergleichsweise hohe Staats- und Obrigkeitshörigkeit in diesem Land. Die Nachteiligkeit unseres treuherzigen Blicks nach oben für das gesellschaftliche und ökonomische Fortkommen ist gerade in letzter Zeit verstärkt ins Bewusstsein gelangt. Solange aber durch wirtschaftliche Versprechungen der Politiker und die einfordernde Haltung der Medien der Eindruck erzeugt wird, 'die da oben' könnten und müssten die ökonomische Sache für uns in den Griff kriegen, wird die gebetsmühlenartige Aufforderung zu mehr Eigenverantwortung keine Früchte tragen."

Der Nobelpreisträger und Espede-Wahlhelfer Günter Grass gibt Christof Siemes gutgelaunt zu Protokoll: "Für mich ist klar, dass niemand auf einen so starken Bundeskanzler wie Gerhard Schröder verzichten kann."

Weiteres: Zum fünfzigsten Todestag von James Dean erzählt Georg Diez noch einmal eine "der großen Geschichten, die sich die westliche Welt von sich selbst erzählt, die "vom verlorenen Sohn, von Trotz, Auflehnung und Vergebung". Michael Skasa beäugt Matthias Hartmanns Einstand als Intendant am Zürcher Schauspielhaus mit einer kühlen Ibsen-Inszenierung von Barbara Frey und einer gutgelaunten Botho-Strauß-Aufführung. Peter Kümmel betrauert den Tod des Karikaturisten und "Universalkünstlers F.K. Waechter. Louise Brown überlegt, ob Marc Quinn mit seiner Trafalgar-Square-Skulptur der körperbehinderten Künstlerin Alison Lapper ebendiese zur "Spielmasse der Medien" gemacht habe. Claudia Herstatt berichtet vom Kunstmarkt über den Saisonauftakt bei den Wiener Auktionshäusern.

Besprochen werden die große Jörg-Immendorff-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin (die laut Hanno Rauterberg von herrlich leichtfertigen Bildern bis hin zum großen Drama alles auffährt, was Immendorff zu bieten hat), Sibylle Tiedemanns "poetischer" Dokumentarfilm "Estland, Mon Amour", das neue Album der Magic Numbers, "Klavierimpressionen" von Marco Stroppa und Eric Rohmers Klassiker "Pauline am Strand".

Im Aufmacher des Literaturteils preist Fritz J. Raddatz die Erinnerungen des Literaturwissenschaftlers Peter Wapnewski "Mit dem anderen Auge". Für das Dossier besucht Kerstin Kohlenberg den pakistanischen Briten Moazzam Begg, dessen fundamentalistischer Sohn in Guantanamo inhaftiert war.

Im Leben riskiert der Schriftsteller Tom Wolfe nach dem Untergang von New Orleans eine "chauvinistische" Vermutung hinsichtlich des vermeintlichen Rassismus in den USA: "Der Bürgermeister von New Orleans ist ein Schwarzer, der Polizeichef ist ein Schwarzer, die meisten Polizisten und Feuerwehrleute sind Schwarze - ganz einfach, weil der größte Teil der Bevölkerung schwarz ist. Dasselbe passierte in Miami mit den Kubanern. Innerhalb einer halben Generation übernahmen sie viele Ämter und Positionen. Das geht nur in diesem Land und nirgendwo sonst auf der Welt. Wenn eine Gruppe groß genug ist, hat sie früher oder später politischen Einfluss. Eine Frage: Wie viele Türken sitzen im Deutschen Bundestag? Wie viele Algerier sitzen im Pariser Stadtparlament?"

FR, 22.09.2005

Das unentschiedene Ergebnis der Bundestagswahl zwingt nach Ansicht von Dieter Rulff die Sozialdemokraten nun mit Macht in genau die innere Auseinandersetzung, "der sie auf dem Wege der Neuwahl eigentlich zu entgehen hoffte. Es kämpfen nicht länger mehr zwei Seelen in der Brust des SPD-Abgeordneten. Nun kann er sich entscheiden, wem sie sich an die Brust wirft. Er gibt keine neue Mitte mehr sondern zwei Pole dirigieren die sozialdemokratische Bewegung. Merkel oder Lafontaine, Macht oder Moral, Angebots- oder Nachfragepolitik, kalt oder warm, rechts oder links. Bereits Schröders Kampf um die Wiederwahl war nicht der eines Regenten sondern der eines Opponenten gegen Lafontaine und Merkel. Das lässt die Sozialdemokraten im Moment ihres Sieges als Getriebene dastehen."

Weitere Artikel: In der Kolumne Times Mager befasst sich Peter Michalzik mit möglichen Koalitionen zwischen unmöglichen Partnern. In der Beilage FR Plus Kultur (nur als epaper im Netz lesbar) schreibt Silke Hohmann über Andre Hellers neues Zirkusprojekt "Afrika! Afrika!". Ursula März porträtiert an gleicher Stelle den Räuber und Schriftsteller Ludwig Lugmeier, und Franz Dobler erklärt uns, warum der jüdische Country-Veteran und Krimiautor Kinky Friedman Gouverneur von Texas werden will.

Besprochen werden die Ausstellung "Spinnwebzeit" im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, zwei Konzerte in Luzern und Frankfurt zu Ehren des 70. Geburtstags des Komponisten Helmut Lachenmann, der Dokumentarfilm "Horst Buchholz - Mein Papa" (mehr), Walter Salles' Film "Dark Water" (mehr) und Jacques Audiards neuer Film "Der wilde Schlag meines Herzens" (mehr).

TAZ, 22.09.2005

Brauchen wir eine große Koalition, damit Reformen angepackt werden können? "Ich hasse das Wort Reform in diesem Zusammenhang", erklärt der Politologe Alfred Grosser in einem Interview auf der Meinungsseite. "Reformen sind strukturelle Veränderungen, hier geht es aber um Einschränkungen, die nur auf Kosten von unten gehen. An oben wird nicht gerührt. In Frankreich wie in Deutschland sieht man oben nach Amerika und will dasselbe verdienen wie die amerikanischen Kollegen, und die Belegschaft soll verdienen wie in Südkorea oder in Ungarn. Da gibt es kaum Unterschiede zwischen Rot und Schwarz." Trotzdem wäre eine große Koalition das Vernünftigste - aber ohne Merkel und ohne Schröder, meint Grosser.

Christian Semler reflektiert den Weg der Grünen zur Macht. Die taz-zwei dokumentiert hämische, fröhliche und weniger fröhliche Stimmen zum Abgang Joschka Fischers. "Man muss sich ja aber nicht jede Fantasie an die Macht wünschen", kommentiert Dirk Knipphals im Kulturteil Jamaika-Spekulationen über Grüne und FDP.

Christoph Huber freut sich über eine umfassende Retrospektive des Filmregisseurs Uchida Tomu im Japanischen Kulturinstitut in Köln und erklärt, warum der Mann im Westen so unbekannt ist: "Er ist schwer einzuordnen, politisch wie ästhetisch. Er ist offensichtlich ein virtuoser Stilist, doch ohne einen einheitlichen Stil. Ideologisch ist es noch komplizierter: Geboren in eine wohlhabende Familie, wuchs Uchida Tomu augenscheinlich mit idealistisch-progressiven Tendenzen auf. Seine prononcierte Liebe zu allem Westlichen äußerte sich nicht zuletzt in der Wahl des Künstlernamens Tomu, einer Übertragung seines West-Spitznamens Tom, die in etwa 'Der Traumwürger' heißt. Aber schon sein Vorkriegsschaffen, das ohnehin nur so bruchstückhaft erhalten ist, dass sich schwer ein Gesamturteil fällen lässt, ist voller Kompromisse und Ambivalenzen, demonstriert Uchida Tomus lebenslange Neigung zu Erzählungen von den Ausgegrenzten der Gesellschaft ebenso wie seine Faszination für Japans Totalitarismus.

Weitere Artikel: Silvia Fehrmann erinnert sich an ihr Kino der Kindheit in Buenos Aires. Besprochen werden eine Antonin-Artaud-Schau im Düsseldorfer Museum Kunst Palast, Jacques Audiards "Fingers"-Remake "Der wilde Schlag meines Herzens" ("Diese Kamera hat nur ein Ziel. Bring mir den Kopf von Romain Duris", eröffnet Diedrich Diederichsen seine Kritik) und Walter Salles' Film "Dark Water" (mehr).

Schließlich Tom.

NZZ, 22.09.2005

Marc Zitzmann berichtet aus der Pariser Musikszene, wie der Staat Geld sparen will: Die Opera-Comique setzt wegen anhaltender Finanzprobleme einen neuen Direktor ein, der "endlich eine stimulierende künstlerische Vision für das Haus" bringt, und die Salle Pleyel wird ab jetzt privat betrieben.

Weitere Artikel: Roman Hollenstein besucht das Gesamtwerk des Luxemburger Architekten Rob Krier im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt, Joachim Güntner überlegt, inwieweit Ampeln wirklich mit Koalitionen zusammen hängen und Nick Liebmann spricht mit dem Drummer Manu Katche (mehr hier) über dessen Debütalbum 'Neighbourhood'.

Besprochen werden die drei neuen Aufnahmen des "Jazzmusikers als der rebellische Ritter der Ekstase" Joachim Kühn und die Aufsätze "Antike Dispositionen" und das Poem auf den Untergang Dresdens "Porzellan" von Durs Grünbein (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 22.09.2005

Nach Ansicht des Hamburger Soziologen Heinz Bude (mehr hier) hat es die SPD unter Gerhard Schröder versäumt, der Sozialdemokratie ein "neues geistiges Gesicht" zu geben. "Eine Bedingung der Meisterung dieses schwierigen ideologischen Manövers ist die Einführung einer dezidierten Differenz zwischen einer 'alten' und der 'neuen' Sozialdemokratie. Das hat in erster Linie Tony Blair betrieben. 'New Labour' ist heute das klassische Modell einer beherzten Weiterführung der sozialdemokratischen Erzählung. Auf eine ähnliche innerparteiliche Aufräumaktion hat Gerhard Schröder in der SPD verzichtet. Deshalb gibt es im Augenblick auch niemanden, der die Rolle eines scharfen Unterscheiders spielen könnte."

Thomas Thiemeyer stellt die Thesen der französischen Historikerin und Anthropologin Sophie Wahnich vor, die in der Zeitschrift Etudes eine Entheroisierung und Mitleidsversessenheit der zeitgenössischen Geschichtsvermittlung diagnostiziert hat: "Eine 'entheroisierende Ästhetik', die den Helden vergisst und statt dessen der Opfer gedenkt, erscheint Wahnich als Ausdruck einer veränderten französischen Darstellungsweise der Kriegsgräuel des 20. Jahrhunderts in den neueren Ausstellungen. Das dahinter stehende Geschichtsverständnis lehne den Kampf für eine gerechte Sache, wie ihn der Held verkörpert, als legitimes Mittel der Politik ab und verdamme statt dessen jede Form der Gewalt."

Weiteres: Petra Steinberger denkt darüber nach, nach welchen Vorgaben New Orleans wieder aufgebaut werden soll. Helmut Mauro informiert über die eklatante Finanznot der Dresdener Semperoper: Trotz einer Auslastung von 95 Prozent hat die Oper in den letzten Jahren über sieben Millionen Euro Schulden angehäuft. Hamburgs neue Opern-Chefin Simone Young stellt im Interview ihr Programm vor. Holger Liebs empfiehlt fünf Ausstellungen zum 100. Geburtstag des Malers Fritz Winter. Norbert Blüm bewirbt prominent Band drei der SZ-Klassikerreihe, Willi Fährmanns "Der lange Weg des Lukas B." Ijoma Mangold beschreibt einen Leseauftritt von Jonathan Safran Foer im Hamburger Literaturhaus: "ein blitzgescheiter Schriftsteller mit einem stupenden Erzähltalent als Rampensau und Alleinunterhalter, das ist - zumindest in Deutschland - ein rares Genre." Auf der Medienseite erinnert Michael Jürgs an den Verleger Axel Springer, der vor zwanzig Jahren starb.

Besprochen werden Jacques Audiards "Fingers"-Remake "Der wilde Schlag meines Herzens", (dazu gibt es ein Interview mit Audiard), Sandra Hackers und Christopher Buchholz' Dokumentarfilm "Horst Buchholz - Mein Papa" ("das eigenwilligste, persönlichste Vater- und Künstler-Porträt, das es gibt", freut sich Rainer Gansera), Wayne Wangs Kinderfilm "Because of Winn-Dixie", Ruedi Häusermanns Theaterstück "Schutzraum" und Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Bühnenadaption von Harun Farockis "Die Schöpfer der Einkaufswelten" am Theater Basel, Hans Werner Henzes Oper "Die Bassariden" in Köln, und der von Gert Theile herausgegebene Band zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß "Anthropometrie" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 22.09.2005

Gabriela Walde hat schon einen Blick auf die große, in quietschroten Kuben präsentierte Immendorff-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin geworfen. Sie wird heute eröffnet. "Die Schau verschiebt das gängige Immendorff-Bild. Sie zeigt den 'alten' Polit-Kommentator und Geschichtenerzähler neben dem 'neuen', privaten, filigranen Immendorff. Seine gesellschaftspolitischen Ambitionen sind einer eskapistischen, beinahe elitären Privatmythologie der Gegenwart gewichen."

Weiter Artikel: Matthias Heine gibt seine Ideen zu den drei berühmten Metzgerssöhnen Uli Hoeneß, Stefan Raab und Joschka Fischer bekannt.

Besprochen werden Jürgen Goschs Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" in Hannover, eine Ausstellung über deutsch-österreichische Beziehungen in Bonn und Filme, darunter Jacques Audiards Drama "Wilder Schlag meines Herzens" und die Verfilmung von Günter Grass' späten Danzig-Roman "Unkenrufe".

FAZ, 22.09.2005

Den Aufmacher bestreitet Paul Ingendaay mit einem Feature über Prostitution in Spanien, die immer sichtbarer und brutaler wird und ein hässliches Zerrbild der spanischen Gesellschaft abgibt: "Sex in allen Formen und Maskierungen ist in Spanien der wichtigste Geschäftszweig neben dem Tourismus. Zu wessen Lasten das geht, sagt schon das Wörterbuch der spanischen Sprache. Ein hombre publico ist ein Mann, der in der Politik oder im Geschäftsleben öffentlich agiert. Die Entsprechung dagegen, mujer publica, bedeutet 'Prostituierte'."

Weitere Artikel: Patrick Bahners staunt in der Leitglosse über die Frechheit, mit der Gerhard Schröder seinen Kanzlerbonus ausspielt. Dokumentiert wird eine Dankrede Walter Moers' für den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar, die er einer seiner Figuren in den Mund gelegt hat. Heinrich Wefing stößt bei der Lektüre eines älteren New-Yorker-Artikels von Adam Gopnik über Frankreich auf unheimliche Parallelen zwischen der französischen und der deutschen Politik. Joseph Croitoru stellt uns das Amt des "Staatskontrolleurs" in Israel vor, der jährlich auf Missstände in der israelischen Politik hinweist. Oliver Jungen resümiert eine Erlanger Tagung über den Begriff der Frühen Neuzeit. Hans-Peter Riese besucht die Judd-Foundation und die Chinati-Foundation in Marfa, Texas, die sich beide um Donald Judds Nachlass und die Minimal Art verdient machen. Timo John stellt ein Dokumentationszentrum jüdischen Lebens in Breisach Südbaden vor, das über die besondere Kultur des Landjudentums in der Region informiert.

Auf der Kinoseite resümiert Verena Lueken das Filmfestival von San Sebastian. Michael Althen und Peter Körte interviewen den französischen Regisseur Jacques Audiard zu seinem neuen Film "Der wilde Schlag meines Herzens". Und Michael Althen stellt den Detroiter Englisch-Professor Nicholas Rombes vor, der David Lynchs Film "Blue Velvet" Bild für Bild analysieren will, wofür er 473 Jahre brauchen wird.

Auf der Medienseite erklärt uns Michael Hanfeld in einem ausführlichen Porträt, "warum es ein Glück ist, dass Anne Will nicht beim Radio blieb". Und Gerd Gregor Feth stellt das Moderatorenpaar Kirsten Girschik und Richard Gutjahr vor, mit dem das Bayerische Fernsehen punkten will. Gemeldet wird, dass die New York Times 500 Stellen streicht.

Für die letzte Seite streift Hannes Hintermeier über die Internationale Automobilausstellung in Frankfurt. Und Regina Mönch porträtiert den Prinzen Michael von Sachsen-Weimar, der den Maecenas-Preis erhielt, weil er sich für die Abtretung seiner Kunstsammlungen an den Staat mit einer Entschädigung von 15 Millionen Euro begnügte.

Besprochen werden Konzerte des Chicago Symphony Orchestras unter Daniel Barenboim in Luzern, David Edgars Theatersatire "Playing with Fire" in London, Ferzan Ozpeteks Film "Das Fenster gegenüber" und eine Ausstellung über Seuchen der Frühen Neuzeit in Wolfenbüttel.