Heute in den Feuilletons

Absatz, Absurdität, Kinnhaken, Absatz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2008. Alle sind hoch zufrieden mit dem neuen Booker-Preisträger Aravind Adiga. In der taz versichert die Kunsthistorikerin Sarah Thornton: Kunsttrophäen sind gute Investitionsobjekte. Die SZ wünscht sich mehr Autoritäten. Die Zeit porträtiert den sizilianischen Mafiajäger Giuseppe Linares. Die FAZ prophezeit: künftig gibt's Sozialprogramme statt Kultur.

Welt, 16.10.2008

Aravind Adiga hat für seinen Roman "Der weiße Tiger" den Booker-Preis bekommen. Für Wieland Freund geht das in Ordnung: "Absatz, Absurdität, Kinnhaken, Absatz - so in etwa ließe sich das Bauprinzip dieses rasanten Gegenwartsromans beschreiben, der sich bald zur Schelmenbeichte eines im Wortsinn mörderischen Aufsteigers auswächst. Geld, Gold, Gier und ein schier unüberwindlicher Graben zwischen Stadt und Land und Arm und Reich: Aravind Adigas erster Roman dürfte so ziemlich das Gegenteil jener weltvergessenen, kitschversessenen exotistischen Künststückchen des Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clezio sein, den man in Stockholm vor knapp einer Woche für literaturnobelpreiswürdig befand. Schön, dass nicht alle Jurys dieser Welt derart erratische Entscheidungen treffen." (Hier eine Leseprobe aus dem Roman.)

Weiteres: Im Aufmacher würdigt Michael Pilz die Band AC/DC, die gerade ein neues Album vorgelegt hat. Peter Dittmar betrachtet die ArtReview-Liste der 100 wichtigsten Strippenzieher in der Kunst. Elmer Krekeler war dabei, als in Frankfurt der Sony Reader PRS 505 vorgestellt wurde, mit dem wir künftig auch E-Bücher lesen können, die nicht bei Amazon gekauft wurden. Wolf Lepenies liest noch einmal Erich Auerbachs Buch "Mimesis", das im türkischen Exil entstand. Der neue Aufbau-Verleger Matthias Koch ist sich im Interview ganz sicher, dass Aufbau in zwei Jahren wieder einen Überschuss erwirtschaftet. Gernot Facius überlegt, was von Papst Johannes Paul II. bleiben wird.

Besprochen werden Joseph Vilsmaiers Film "Die Geschichte vom Brandner Kaspar", Guillermo del Toros Film "Hellboy - Die goldene Armee", Emily Atefs Film über den Babyblues "Das Fremde in mir", Pierre-Paul Renders Film "Mr. Average", Christophe van Rompaeys Film "Neulich in Belgien" und Klaus Harpprechts Dönhoff-Biografie.

NZZ, 16.10.2008

Auf der Buchmesse hat sich Joachim Güntner nicht anfreunden können mit den E-Book-Readern und setzt ganz auf Schriftsteller vom Schlage Uwe Tellkamps: "Sind doch Autoren, die dicke Bücher schreiben, die personifizierte Obstruktion gegen den Trend zum E-Book." Georges Waser berichtet über den Booker Prize für den indischen Autor Aravind Adiga (hier eine Leseprobe aus seinem Roman "Der Weiße Tiger"). Aus Paris meldet Marc Zitzmann, dass jetzt auch die Comedie francaise Widerstand gegen den Plan angekündigt hat, auf Kosten des Theaters MC93 in die Banlieue zu ziehen.

Besprochen werden die große Bacon-Retrospektive in der Tate Britain, der Abschluss von Dietrich Sattlers Hölderlin-Edition sowie auf der Filmseite die Agenten-Farce der Coen-Brüder "Burn After Reading" und das Melodram "Nights in Rodanthe".

FR, 16.10.2008

Absolut vorbildlich findet Ina Hartwig den Booker Prize für Aravind Adiga und seinen "schockierend amüsanten" Roman "Der Weiße Tiger": "Adiga ist bereits der vierte Inder, der - nach Salman Rushdie, Arundhati Roy und Kiran Desai - die höchste Auszeichnung des Empire für einen Roman erhält. Empire: that's it."

Im Interview spricht Ilija Trojanow über seine Buchreihe "weltlese - Lesereisen ins Unbekannte": "Die ersten paar Bände, die erscheinen werden, sind absolute Lieblingsbücher von mir. Angefangen haben wir im September mit Jamal Mahjoubs 'Die Stunde der Zeichen' (hier eine Lesebprobe), ein wirklich starker Roman aus dem Sudan. Der zweite Band, der im Frühjahr erscheinen wird, ist ein iranisches Buch von Esfandiari aus dem Jahr 1960 und für mich eine der großartigsten Beschreibungen von kultureller Entfremdung und bürokratischem Wahn, die ich überhaupt kenne."

Weiteres: Jürgen Otten schreibt zum Achtzigsten des finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara. Besprochen werden Guillermo del Toros Comic-Verfilmung "Hellboy - Die goldene Armee", Christophe van Rompaeys Komödie "Neulich in Belgien", Jobst Oetzmanns Literaturverfilmung "Zweier Ohne", John Dews "Meistersinger"-Inszenierung in Darmstadt und Bücher, darunter Elif Shafaks Roman "Der Bonbonpalast" (Leseprobe), Christopher Clarks Biografie des "Medienkaisers" Wilhelm II. und Niklas Luhmanns Traktat über die "Liebe".

TAZ, 16.10.2008

In tazzwei unterhält sich Julia Grosse anlässlich der heute beginnenden Londoner Kunstmesse Frieze Art Fair mit der Kunsthistorikerin, Soziologin und Autorin Sarah Thornton über Kunstwerke als Investitionsobjekte. Als Beleg für die Wichtigkeit einer solch "soliden, krisensicheren Luxusinvestition" nennt Thornton ein aktuelles Beispiel: "Im Juli haben der Lehman-Brothers-Chef Richard S. Fuld Jr. und seine Frau Kathy sechzehn Arbeiten auf Papier an das Auktionshaus Christie's übergeben und angeblich eine Garantiesumme von rund zwanzig Millionen Dollar bekommen. Selbst wenn das Toplos der Versteigerung, eine De-Kooning-Zeichnung von 1951, nicht seinen untersten Schätzwert von drei Millionen Dollar erreicht, wird es doch immer etwas wert sein. Und das wird man von Lehman-Aktien nicht behaupten können."

Auf den Tagesthemenseiten berichtet Michael Braun, dass Roberto Saviano, Autor des Bestsellers "Gomorrha" über die neapolitanische Camorra und seither unter strengem Personenschutz, vom abgeschirmten Leben die Nase voll hat: Er sagte der Zeitung Repubblica, er wolle ins Ausland gehen.

Im Kulturteil resümiert Dirk Knipphals die Rede von Orhan Pamuk (hier als pdf) zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse - deren vorletzter Absatz "auf Augenhöhe mit der Macht" gewesen sei". Anke Leweke besuchte das Filmfestival im südkoreanischen Pusan und stellt fest, dass das asiatische Kino derzeit eher beobachtet als inszeniert. Dorothea Marcus porträtiert den Autor und Regisseur Kristo Sagor, der im Bochumer Theater unter Tage im Abstand von einer Woche gleich zwei Premieren zur Uraufführung bringt. Timm Ebner erinnert an den französischen Marxisten und Vordenker des Poststrukturalismus Louis Althusser, der heute 90 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Derek Jarmans erster Langfilm "Sebastiane", der nach 32 Jahren nun auch in deutsche Kinos kommt, und Emily Atefs Film über eine postnatale Depression "Das Fremde in mir".

Und Tom.

FAZ, 16.10.2008

Karl-Peter Schwarz, dessen Artikel über die Kundera-Affäre im politischen Teil der FAZ am Montag vollkommen untergangen war, informiert heute auch die Feuilletonleser. Kann das Dokument, wonach Milan Kundera 1950 einen Prager Widerständler bei der Polizei angezeigt haben soll, gefälscht sein? "Theoretisch könnte jemand Kunderas Namen missbraucht haben. Der frühere Dissident Jiri Pehe vermutet, ein StB-Informant im Studentenheim habe sich seines Namens bedient, um seine Anonymität zu wahren. Der StB hätte es allerdings kaum nötig gehabt, sich in solchen Fällen an eine Bezirkspolizeiwache zu wenden. Jaroslav Sabata vermutet, sein Freund Kundera habe sich mit der Anzeige gegen eine StB-Provokation verteidigen wollen. Möglich wäre auch das. Aber wie wahrscheinlich ist es? Wenn es so gewesen wäre, hätte Kundera erst recht einen Grund, ausführlich zu schildern, was am 14. März 1950 geschah."

Lisa Zeitz sieht angesichts der Finanzkrise schwere Zeiten auf den amerikanischen Museumsbetrieb zukommen und zitiert Kenner der Szene wie Walter Robinson: "'Corporate Sponsorship', sagt der New Yorker Sammler, könnte für viele Museen fast ganz verschwinden, 'denn die Priorität liegt nicht mehr bei der Kultur, sondern bei Sozialprogrammen.' Kunst ist ein Luxus, auf den verzichtet werden kann.'"

Weitere Artikel: In Buchmesse-Notizen geht es unter anderem um das Aufwachsen im ländlichen Raum, um Wiedergänger und das Warten auf den Einlass. Jürg Altwegg informiert über einen Protest französischer Historiker gegen die längst über das Verbot der Auschwitz-Lüge hinausgehende Verrechtlichung des Erinnerns. Hubert Spiegel weiß, was der neue "Aufbau"-Eigner Matthias Koch mit dem Verlag vorhat: Eingliederung ins Kreativkaufhaus. Dirk Schümer erklärt, wie es Spike Lee geschafft hat, mit seinem Film "Wunder von Sant'Anna" über schwarze US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg in Italien großen Ärger zu kriegen. (Vorlage für den Film war übrigens James McBrides gleichnamiger Roman.)

In der Glosse erzählt Karen Krüger vom "Süper-Freunde"-Buch, das Kai Diekmann (Chef von Bild) und Ertugrul Özkök (Chef von Hürriyet) herausgegeben und das Cem Özdemir nun gemeinsam mit beiden auf der Buchmesse präsentiert hat. In Leipzig steht Arnold Baretzky vor dem schon ein Jahr vor dem 200. Geburtstag des Komponisten wiedererrichteten Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Denkmal. Den diesjährigen Booker-Preisträger Aravind Adiga (mehr) porträtiert Gina Thomas. Vorabgedruckt wird ein Text, in dem Gustave Flaubert sein Alter Ego, den Pater Cruchard, vorstellt. Andreas Rossmann schreibt knapp zum Tod des Musikkritikers Detlef Gojowy. Auf der Filmseite berichtet Hans-Jörg Rother vom Filmfestival "African Screens" im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Hier noch der Link zur täglichen Buchmesse-Zeitung.

Besprochen werden die filmbegleitete Aufführung der rekonstruierten Partitur von Sergej Projofjews "Romeo und Julia", Guillermo del Toros Blockbuster-Fortsetzung "Hellboy - Die goldene Armee" und Bücher, darunter Ulrich Wickerts neuer, den Nachtschlaf des Rezensenten fördernder Krimi "Der nützliche Freund" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 16.10.2008

Christopher Schmidt nimmt Marcel Reich-Ranickis Fernsehschelte zum Anlass für ein paar Nachtgedanken zur Lage der Nation: "In einer immer stärker segmentierten Gesellschaft wächst das Bedürfnis nach integrierenden Kräften, Autoritäten, die nicht mit ihrer Karriere identisch sind und Substantielleres zu bieten haben als nur eine perfekte Performance."

Weitere Artikel: Der Totalitarismusforscher Steffen Kailitz rät zur Lektüre des NPD-Programms - dem nämlich sehr genau zu entnehmen sei, wes Geistes Kind diese Partei ist. Thomas Steinfeld berichtet vom Buchmessen-Beginn. Jens Bisky gratuliert dem Verleger und Schriftsteller Gerhard Wolf zum Achtzigsten. Auf der Literaturseite sichtet Tobias Lehmkuhl Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag des Rowohlt-Verlags. Alexander Menden stellt den diesjährigen Booker-Preisträger Aravind Adiga (mehr) vor.

Die Filmseite widmet sich ganz dem Thema "Film und Schule". Der Regisseur Edgar Reitz meint dazu aus eigener Erfahrung mit einer italienischen Schulklasse von "Heimat"-Fans: "Ich bin überzeugt davon, wenn eine Schulklasse heute anfängt, egal wo auf der Welt, sich ernsthaft mit Filmen zu beschäftigen, und Regisseure einlädt - sie werden kommen." Fritz Göttler stellt Alain Bergalas (mehr) Initiativen zum Film-Unterricht in Frankreich vor. Wie wenig weit deutsche Bemühungen um Filmbildung an der Schule bisher gekommen sind, ist von Susan Vahabzadeh zu erfahren.

Besprochen werden eine Inszenierung von Glucks "Orfeo" mit dem brillanten Countertenor Bejun Mehta (hier als Mitridate auf YouTube) in Wien, ein Schülertheater-Abend mit Anne Tismer als prima inter pares in Mülheim, Dominique Gonzalez-Foersters Installation "TH.2058" in der Tate Britain (ein Interview mit der Künstlerin gibt es auch dazu) und Hans Pleschinskis neuer Roman "Ludwigshöhe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 16.10.2008

Petra Reski porträtiert in einer langen Reportage den sizilianischen Mafiajäger Giuseppe Linares: "Linares ist so erfolgreich, dass er rund um die Uhr mit einer Leibwache lebt und auf der Straße nicht mehr gegrüßt wird. Er ist so erfolgreich, dass die Mafia ihm einen mit Scheiße gefüllten Schweinekopf zukommen lassen möchte."

Zur Frage, ob das deutsche Fernsehen Blödsinn ist, gibt es Pro und Contra. Christoph Amend vermisst schmerzlich die "Spontaneität und Haltung", die Marcel Reich-Ranicki in nur acht Minuten bewiesen habe. Christof Siemens kann auf solcherart "bildungsautoritären" Gestus verzichten: "Er missversteht das Fernsehen als Bildungsanstalt der Nation, in der er der Unterschicht die Leviten liest."

In einem Schwerpunkt zum absehbaren Ende der Ära George W. Bush schreibt der Autor Nick McDonell, der immerhin ein Drittel seines Lebens unter dieser Präsidentschaft stand, wie schrecklich das war. Der Politikwissenschaftler Chalmers Johnson fürchtet in einem aus Tom Dispatch übernommenen Beitrag, dass ein Sieg Barack Obamas nicht ausreichen wird, "um die amerikanische Republik wieder auf Kurs zu bringen". Und Gavin Smith, Chefredakteur der Zeitschrift FilmComment, kann seine Enttäuschung über Oliver Stones Filmbiografie "W" nicht verhehlen: "Wer die amerikanische Politik der jüngsten Zeit verfolgt hat, dem hat er nichts Neues zu sagen."

Weitere Artikel: Als absolut verdient feiert Ulrich Greiner den Buchpreis für Uwe Tellkamps Roman "Der Turm". In einem Interview spricht Regisseur Werner Schroeter über seinen neuen Film "Diese Nacht", über die Liebe, den Tod und korrumpierte Gefühle: "Frustrierte Obsessionen führen zu Verhältnissen, in denen alle mitschaufeln am kollektiven Massengrab." Sibylle Berg trauert um das verlorene isländische Paradies. Wolfram Goertz schreibt über die Heilung des Pianisten Leon Fleisher, der Jahrzehnte seine rechte Hand nicht benutzen konnte. Besprochen werden Katharina Wagners "Rienzi"-Inszenierung in Bremen und eine Ausstellung Marc Pätzolds in der Bremer Galerie KraskaEckstein.

Das Dossier übernimmt aus Le Monde die große Reportage Jonathan Littells aus Georgien. Der Literaturteil ist ganz türkischen Neuerscheinungen verschrieben. Im Wirtschaftsteil blicken Marcus Rohwedder, Elisabeth von Thadden und Jens Uehlecke in die Zukunft des digitalen Buchs: "Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Amazon einen ähnlich epochalen Wandel einleitet wie einst Johannes Gutenberg mit seiner Druckerpresse."