Heute in den Feuilletons

Kritik ist erlaubt, aber...

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2009. Die Lettre International bringt die Berliner Stadtpolitik in Wallung: Thilo Sarrazin äußert sich hier unzufrieden mit den Berliner Türken, Arabern und Zigarettendrehern. Die FAZ hat Angst um Suhrkamp Die NZZ zeichnet rumänische Debatten um die Korruption im Land nach. In der Zeit fragt Ai Weiwei alle, die sich Sorgen um die Gesichtswahrung chinesischer Machthaber machen, warum er eigentlich auf Demokratie warten soll. Und Hans Ulrich Gumbrecht hat viel Spaß mit Axel Honneth und Peter Sloterdijk.

Berliner Zeitung, 01.10.2009

Bernhard Bartsch unterhält sich mit dem Schauspieler Tang Guoqiang, "der seit 1996 Chinas führender Mao-Darsteller ist": "Kritik ist erlaubt, aber man muss anerkennen, dass er ein großartiger Mann war, der auf dem Weg der Revolution nie eine Pause eingelegt hat."
Stichwörter: Mao Tse-Tung

Welt, 01.10.2009

Es passiert nicht sehr häufig, dass es ein Interview aus der Lettre International zum Aufmacher Berliner Lokalseiten bringt. Diesmal hat's geklappt, mit einem Interview des Lettre-Herausgebers Frank Berberich mit dem ehemaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin, der sich jetzt bei der Bundesbank langweilt. Da haben sich zwei Quengelmeier gefunden und schütten so richtig ihr Herz über Berliner Scheußlichkeiten aus. Und Sarrazin schont keine Bevölkerungsgruppe, wie Stefan Schulz in der Welt notiert - Beispiel: "Eine große Anzahl der Türken und Araber 'hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln.' Das gelte auch 'für einen Teil der deutschen Unterschicht, die einmal in den subventionierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient hat'."

Im Feuilleton schreibt der in Taiwan lebende (und für den Buchpreis nominierte) Autor Stephan Thome ("Grenzgang") einen instruktiven Aufsatz über das Neue Taiwan, das wie die Volksrepublik sechzigsten Geburtstag feiert, aber als Demokratie, auch wenn die Gegensätze zwischen den Taiwanern und den unter Chiang Kaishek eingewanderten Festlandschinesen nach wie vor virulent sind. Thomas Lindemann beobachtet die Wiederkehr des schon in den Achtzigern populären Umhängekeyboards in der Popmusik. Manuel Brug begleitet das Lucerne Festival Orchester nach China

Besprochen werden eine neue Biografie über Adenauers einst so berüchtigten Adlatus Hans Globke und Filme, darunter Susanne Schneiders Drama "Es kommt der Tag", in dem Iris Berben eine ehemalige RAFlerin spielt.

NZZ, 01.10.2009

Markus Bauer rekapituliert den Streit in Rumänien um die Privatuniversität "Spiru Haret", die massenhaft akademische Abschlüsse gegen Bezahlung ausstellte und deren Anerkennung die Justizministerin nun verweigert. In Rumänien wird der Fall dabei nicht als Einzelproblem gesehen, wie Bauer berichtet: "Eine schockierte Öffentlichkeit wertet das Problem der 'fabrica de diplome' als weiteres Anzeichen eines als korrupt erkannten Gesellschaftssystems, in dem nur die schamlosesten Gauner den größten materiellen Vorteil erringen. Vom Lyzeum bis zum Universitätsabschluss begleitet die Absolventen die Möglichkeit der Korruption: Auch in diesem Sommer haben bei den Bakkalaureats-Examen Lehrer unverhohlen deutlich gemacht, dass sie gegen entsprechende Summen zu guten Noten verhelfen." Auch in Berlin gibt es seit Mai eine Fernstudium-Dependance der Universität, erfahren wir.

Weitere Artikel: Andrea Köhler resümiert die gespaltenen amerikanischen Stimmen zu Roman Polanskis Verhaftung. Hubertus Adam berichtet über die vierte Internationale Architekturbiennale in Rotterdam vor.

Auf der Filmseite unterhält sich Brigitte Kramer mit der Regisseurin Claudia Llosa, die mit "La teta asustada" dieses Jahr auf der Berlinale den goldenen Bären gewann. Bettina Spoerri lobt Sophie Barthes "witzigen" und poetischen" Film "Cold Souls".

Besprochen werden Liao Yiwus Reportagenband "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" sowie Urs Jaeggis neuer Roman "wie wir", seine erste literarische Veröffentlichung seit gut zwanzig Jahren (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 01.10.2009

Carsten Göhrig resümiert die Tagung "Mörderische Spiele?" in Erfurt, die sich mit Gewalt in Videospielen befasste und zeigte, dass es im Spiel hauptsächlich darum geht, geschickt zu sein und es zu beherrschen, weniger darum, sich an blutigen Bildern zu berauschen. Und dass Verbote nicht helfen; Klaus Peter Jantke, Leiter der Forschungsgruppe Kindermedien beim Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie in Erfurt, jedenfalls meint zum Zusammenhang von Amokläufern und Spielen: "Spiele können der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Über diesen Tropfen können wir gerne reden, doch zuerst sollten wir über das Fass sprechen."

Brigitte Werneburg besichtigt die 11. Istanbul Biennale, die mit ihrem Motto "What Keeps Mankind Alive?" in einer Art Frontalunterricht als Bildungsoffensive daherkommt.

Besprochen werden Filme, so Ulrike Ottingers Dokumentation "Die koreanische Hochzeitstruhe" über Liebe und Ehe in Südkorea, Susanne Schneiders Filmdebüt "Es kommt der Tag" über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, Nick Stringers Tierdokumentation "Tortuga - Die unglaubliche Reise der Meeresschildkröte", die ohne Musik und ohne die Stimme Hannelore Elsners wunderbar wäre, das Regiedebüt "Gigante" des Argentiniers Adrian Biniez, das bei der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären gewann, und eine DVD-Box mit einer repräsentativen Auswahl der animierten Scherenschnittfilme von Lotte Reiniger. In tazzwei stellt Jutta Lietsch den Jubelfilm "Gründung der Republik" vor, den China zum 60. Geburtstag der Volksrepublik seinen Untertanen geschenkt hat und der derzeit in fast allen Kinos Chinas läuft.

Ebenfalls in tazzwei kommentiert Christian Jakob das Berliner Urteil, das es einem muslimischen Schüler erlaubt, in der Schule zu beten, und überlegt, ob es den Kritikern, die nun die Fahne des Laizismus hochhalten, wirklich um das Neutralitätsgebot oder doch eher um den Islam geht. "Der Islam ist hier keine Religion wie alle anderen. Er ist für viele der Inbegriff von Überfremdung."

Und Tom.

FR, 01.10.2009

Christian Schlüter überlegt, wie die Sozialdemokratie zu retten ist. In Times mager wartet Natalie Soondrum auf ein Visum für Rajasthan. Roland Mischke hofft, dass der Architekt David Chipperfield mit dem Umbau des Kudamm-Karrees dem traurige Berliner Westen wieder eine Zukunft gibt. Und Jeanne Moreau plaudert im Interview (nicht online) über Alter, Schönheit und Gesundheit. Auf der Medienseite spricht der Computerspiele-Manager Gerhard Florin im Interview über Chancen und Risiken der Spielebranche.

Besprochen werden Adrian Biniez' Spielfilmdebüt "Gigante", Christian Alvarts Film "Pandorum", Robert Rodriguez' Kinderfilm "Das Geheimnis des Regenbogensteins" und Stephan Komandarevs Film "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall".

SZ, 01.10.2009

Völlig richtig findet Johan Schloemann das Berliner Gerichtsurteil, das einem muslimischen Schüler das Gebet auch in den unterrichtsfreien Minuten am Morgen erlaubt - gegen den Widerstand der Berliner Stadtregierung. Schloemann verkennt den Grundsatzcharakter des Urteils aber nicht: "Gleichwohl muss man sich klarmachen, dass es sich um eine exzeptionelle Entscheidung handelt, wie sie in den meisten anderen westlichen Demokratien nicht denkbar wäre. Schon deshalb ist es wünschenswert, dass der Fall in die nächste Instanz geht, damit sich höhere Gerichte grundsätzlicher damit beschäftigen."

Weitere Artikel: Alex Rühle berichtet über den wachsenden Einfluss der rechtspopulistischen dänischen Folkeparti, die gegen moderne Kunst wettert und es stattdessen gerne völkischer hätte. Andrian Kreye meldet, dass der Tango von der Unesco nunmehr als immaterielles Weltkulturerbe geschützt wird. Auf der Kinoseite freut sich Fritz Göttler auf das Münchner Underdox-Festival (Website). Der Regisseur Michael Winterbottom erlaubt einen "Ersten Blick" auf seine Jim-Thompson-Verfilmung "The Killer Inside Me".

Besprochen werden Karin Beiers nur mit Frauen besetzte Kölner "König Lear"-Inszenierung, die Ausstellung "Die Frankfurter Schule und Frankfurt" im Jüdischen Museum in Frankfurt, neue Filme, darunter Adrian Binez' Berlinale-Erfolg "Gigante" und Susanne Schneiders RAF-Film "Es kommt der Tag", die Ausstellung "Göttlich gemalt - Andrea del Sarto" in der Alten Pinakothek München (klein, aber nobel, schwärmt Willibald Sauerländer), das Saison-Eröffnungskonzert des Bayerischen Staatsorchesters unter Kent Nagano und Bücher, darunter Jürgen Beckers Prosaband "Im Radio das Meer" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 01.10.2009

Felicitas von Lovenberg plädiert in der Angelegenheit des Verkaufs der Suhrkamp-Archive eindeutig für Marbach und gegen die Universität Frankfurt. Insgesamt hat sie den Eindruck, dass sich der Verlag in eine bedrohliche Lage manövriert hat: "Um rechtzeitig und aus eigener Kraft aus dieser verfahrenen Lage herauszufinden, bräuchte Suhrkamp wohl gleich mehrere Bestseller."

Weitere Artikel: Dokumentiert wird eine Rede von Salomon Korn zum Verhältnis von jüdischer, deutsch-jüdischer und deutscher Kultur - und zur Zukunft jüdischer Kultur in Deutschland. Gehalten hat er sie zur Eröffnung des Neubaus der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien. In einem Kommentar kritisiert Frank Schirrmacher, dass bei dem Festakt die Politprominenz komplett fehlte - mit zwei Ausnahmen: Petra Pau von der Linken und Helmut Kohl, der trotz angegriffener Gesundheit anwesend war. Gina Thomas hat Sorgen, dass das britische Rechtssystem mit der Eröffnung des neuen Supreme Court - der aus dem Parlament in ein eigenes Gebäude zieht - eine Annäherung an amerikanische Verhältnisse erlebt. Vom sechsten "Kongress der Polnischen Kultur" in Krakau berichtet Marta Kijowska. Auf der Kinoseite berichtet Rüdiger Suchsland von einer Comer Tagung zum Werk des Regisseurs Werner Schroeter. Andreas Kilb stellt eine Berliner Ausstellung und ein neues Buch zu Pier Paolo Pasolini vor. Auf der Medienseite begeistert sich Jochen Hieber für Laurent Jaouis Film "Hetzjagd" über Beate und Serge Klarsfelds Jagd auf Klaus Barbie - morgen auf Arte zu sehen.

Besprochen werden ein Malcolm-Middleton-Konzert in Köln, eine vom Regieduo Moshe Leiser und Patrice Caurier in Zürich auf die Bühne gebrachte Inszenierung von Gioachino Rossinos "Mose in Egitto", Lola Arias' Inszenierung "Familienbande" in den Münchner Kammerspielen, Niels Arden Oplevs Stieg-Larsson-Verfilmung "Verblendung", Nick Stringers Schildkröten-Film "Tortuga" und Bücher, darunter Ulrike Kolbs Roman "Yoram" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 01.10.2009

Der chinesische Künstler Ai Weiwei lebt zur Zeit in einem Keller unter dem Münchner Haus der Kunst und bereitet seine Ausstellung vor. Hanno Rauterberg hat ihn besucht. "'Ich liebe Duchamp', sagt Ai Weiwei, 'ich liebe seinen Humor, seine Grenzenlosigkeit. Bei ihm habe ich gelernt, dass nicht nur ein antiker Stuhl ein Readymade sein kann, auch die chinesische Konstitution kann ein Readymade sein.' Ai folgt derselben Methode, im Politischen wie im Poetischen. Er zieht die Dinge heraus aus dem Selbstverständlichen, er will, dass die Chinesen sie neu sehen, sie wieder ernst nehmen, ihr kulturelles Erbe, Stück für Stück, ihre Menschenrechte, Wort für Wort. Und macht sich damit auch im Westen nicht unbedingt beliebt. Er verbittet sich alle Kompromisse und erst recht die These, China sei noch nicht so weit, die Demokratie brauche nun mal Jahrzehnte, Jahrhunderte, um sich zu entwickeln. 'Wir können nicht drei oder dreißig Leben lang warten',sagt er erbost. 'Wir haben nur ein Leben. Warum sollen wir uns gedulden?'"

Die Sozialdemokratie ist auch deshalb so schwach, weil sowieso alle Sozis sind. Auch in der eigentlich "belanglosen" Debatte zwischen Axel Honneth und Peter Sloterdijk (hier, hier und hier) bekennen sich ja alle Seiten zur allseits akzeptierten Art der Gesellschaftsverwaltung, bemerkt Hans Ulrich Gumbrecht, der trotz mangelnder Relevanz noch Honig aus dem Streit saugt. Für ihn liegt seine Substanz jenseits des Politischen im ewig deutschen Duett des zopfigen Akademikers mit dem windigen Feuilletonisten: Es geht um "zwei Stilarten und ihre jeweiligen Anteile an den Märkten politischer Beratung und intellektuelle Unterhaltung. Honneth will ein Wissenschaftler sein, Sloterdijk ein Autor; Philosophen vom Stil Honneths werden vom Bundeskanzleramt in den Ethikrat berufen, während man Philosophen vom Schlag Sloterdijks die Moderation von Fernsehprogrammen anbietet."

Weitere Artikel: Im Aufmacher überprüft Thomas Assheuer die These des englischen Politologen Colin Crouch von der "Postdemokratie" anhand deutscher Verhältnisse auf ihre Stimmigkeit. Nur mäßig amüsiert zeigt sich Michael Naumann in der Leitglosse über das Einreiseverbot für den Verleger K. D. Wolff in die USA. Die Schweiz hat Roman Polanski wohl nur aus wirtschaftlichen Interessen verhaftet, meint Peer Teuwsen. Thomas Groß stellt das Label und den Schallplattenladen Honest Jon's vor. Claus Spahn porträtiert den Dirigenten Gustavo Dudamel, neuer Chefdirigent der Philharmoniker von Los Angeles.

Besprochen werden Andrea Breths Inszenierung von Kleists "Zerbrochnem Krug" bei der Ruhrtriennale in Essen, der uruguayische Film "Gigante" und Bücher, darunter Jutta Voigts Gesellschaftschronik "Westbesuch" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Politikteil spricht Vaclav Havel im Interview über die Hoffnungen 1989 und was davon übrig geblieben ist. Timothy Garton Ash hofft nicht auf eine Demokratie, aber auf eine Stärkung der Demokratiebewegung im Iran. Im Dossier erzählt Sebastian Deisler, warum er mit 27 Jahren seine Fußballkarriere beendet hat.