Heute in den Feuilletons

Orientalistische Angstbilder

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2010. Das Bachmann-Wettbewerb hinterließ einigermaßen ermattete Kritiker. Aber der Preis für Peter Wawerzinek scheint so weit in Ordnung zu gehen. Die Berliner Zeitung meldet Vollzug: Der Umbau des Berliner Viertels Prenzlauer Berg zum neobourgeoisen Familienparadies ist abgeschlossen. Die Clubs ziehen nach Kreuzberg. Die FAZ zeigt, dass schon im wilhelminischen Berlin der Fundamentalismus der Aufklärung wütete. In der Welt kritisiert der Herausgeber des Rolling Stone die Berichterstattung der großen amerikanischen Medien aus Afghanistan.

NZZ, 28.06.2010

Viel Trost- und Humorloses hat Georg Renöckl beim 34. Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt gehört, darunter vor allem verschlafene Jury-Urteile. Auch der diesjährige Preisträger Peter Wawerzinek ließ sich von diesen nicht beeindrucken: "Der Autor beeindruckte durch die teils krude, teils poetische autobiografische Schilderung der Ankunft eines von den Eltern verlassenen, sprachlosen Kindes im Waisenhaus. Er mischte sich auch ins Jurygespräch und wischte Einwände mit den Worten 'So machen wir das kalte Buffet nun mal, und es ist egal, ob Tante Liesl wieder kommt und sagt, Knoblauch mag sie nicht' vom Tisch. Der sympathische Affront gegen die gelehrte Kritik wird beim Publikumspreis, den Wawerzinek auch noch einheimste, eine Rolle gespielt haben. Er ließ diesmal die Jury recht papieren aussehen."

Nach wie vor herrscht in Indien der Konflikt zwischen traditionellem Kastendenken und Demokratie vor, berichtet der indische Schriftsteller Chandrahas Choudhury besorgt. Dies zeigt auch der Ehrenmord der 19-jährigen Asha Saini: "Allein durch ihre emotionale (und vielleicht auch körperliche) Beziehung zu einem Mann aus einer niedrigeren Kaste war auch sie in den Augen ihrer Familie eine 'Andere' geworden - nicht mehr das Mädchen, das man im Haus erzogen und behütet hatte. Es reichte nicht, ihren Geliebten aus der Welt zu schaffen; auch sie musste sterben. Und zweitens: Die Täter verspürten keinerlei Gewissensregung. 'Ich bereue nichts', gab Om Prakash zu Protokoll."

Außerdem: Corinne Holtz erinnert an die legendären "Freischütz"-Inszenierungen der ostdeutschen Regisseurin Ruth Berghaus. Besprochen wird Inga Levants Inszenierung von Gaetano Donizettis "Il diluvio universale" bei den St. Galler Festspielen.

TAZ, 28.06.2010

Dass Peter Wawerzinek mit seinem "im besten Sinne romantischen" Text den diesjährigen Bachmann-Wettbewerb gewonnen hat, gönnt ihm Wiebke Porombka von Herzen. "Man kann es in Zeiten von Jugend- und Hegemann-Wahn zudem als ein schönes Zeichen dafür nehmen, dass Literatur nicht nur gut gemacht sein muss, sondern auch auf ein wenig Lebenserfahrung fußen sollte."

Weiteres: Moritz Schulze-Beckinghausen verfolgte auf der Kölner C/O Pop Diskussionen zur Zukunft der Musikindustrie. Besprochen wird Erich Kubys neu aufgelegte Schrift "Mein ärgerliches Vaterland".

In der tazzwei berichtet Saba Farzan von Auseinandersetzungen unter Exiliranern über ihr Verhältnis zu Israel und der Gaza-Flotille. Auf Flimmern und Rauschen meldet Rudolf Balmer, dass sich die Mitarbeiter von Le Monde zu neunzig Prozent für eine Übernahme der Zeitung durch das Trio Pierre Berge, Xavier Niel und Matthieu Pigasse ausgesprochen haben.

Und der Tom.

Berliner Zeitung, 28.06.2010

Der Umbau des einstigen Berliner Szeneviertels Prenzlauer Berg zum neobourgeoisen Familienparadies ist abgeschlossen, berichtet Carmen Böker: "Im April ist der Magnet ans Schlesische Tor umgezogen. Der Knaack wird ihm vermutlich vor Jahresende folgen. Mittlerweile kämpft hier nahezu jeder Club, dessen Sound den Geräuschpegel einer Eisdiele überschreitet, mit Klagen der Nachbarn, auch solche Institutionen der Gegend wie Duncker, Wohnzimmer, Kulturbrauerei oder Zum Schmutzigen Hobby."
Stichwörter: Tor, Prenzlauer Berg

Aus den Blogs, 28.06.2010

(Via glanzundelend) Auf der Website von Peter Wawerzinek kann man sehen (aber nicht hören) wie Wawerzinek liest.

Die Zeitungen sind ja erstaunlich schüchtern in der Berichterstattung über das von den Zeitungsverlegern eingeforderte Leistungsschutzrecht. Heute findet im Bundesjustizministerium eine Anhörung zum Thema an. Das Blog Carta kündigt an, wenn möglich, live von der Anhörung zu bloggen.

FR, 28.06.2010

Nach der Kommunismus-Konferenz in Berlin mit Slavoj Zizek und Alain Badiou winkt Christian Schlüter ab: "Was mittlerweile selbst die 'bürgerlichen Medien' rauf und runter berichten, wurde in der Volksbühne im Vokabular der marxistisch-leninistischen Orthodoxie noch einmal wiederholt - eine Art Gottesdienst linker Allgemeinplätze fand da statt."

Weiteres: Viele ordentliche und einige starke Texte hat Judith von Sternburg beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gehört: "Den intensivsten, am tiefsten greifenden, wichtigsten Text dieser drei Tage brachte der neue Ingeborg-Bachmann-Preisträger Peter Wawerzinek mit. Jahrzehnte hat er dafür gebraucht, so über sich schreiben zu können." Grete Götze resümiert das Wiesbadener Festival "Neue Stücke aus Europa". Besprochen werden das Album "40" des Projekts Embryo, Christian Meiers Essay "Das Gebot zu vergessen" und John Harts Thriller "Das letzte Kind" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 28.06.2010

Vor einer Woche veröffentlichte der freie Journalist Michael Hastings im Rolling Stone seine Reportage über den amerikanischen General Stanley McChrystal, den Oberkommandierenden der amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan. Noch bevor das Heft am Kiosk war, musste der General gehen - und zwar nicht nur wegen seiner Flüche, erklärt Rolling-Stone-Gründer Jann Wenner im Interview. Warum die lieben Kollegen in den "Qualitätsmedien" (zum Beispiel David Brooks in der NYT) jetzt über den Artikel murren, versteht Wenner auch nicht. Warum haben die nicht selbst die Story geschrieben? "Ich weiß nicht, ob die anderen zu faul waren, um McChrystal mal auf den Zahn zu fühlen, ob ihnen die Vorstellungskraft fehlte dafür, was er so dachte - oder ob sie es lieber nicht so genau wissen wollten. Vermutlich ist es eine Mischung aus allem. Im Ergebnis jedenfalls wiederholt die Berichterstattung aus Afghanistan größtenteils lediglich die Positionen der Regierung. Die Aufgabe des Journalismus kann es jedoch nicht sein, die PR-Mitteilungen von Administration und Militär kritiklos an die Leser oder Zuschauer weiterzureichen."

Außerdem: Katharina Teutsch berichtet über den Kommunismus-Kongress in Berlin ("jede agitatorische Glut wurde mit einem Theorieschwall abgelöscht"). Ein uninteressantes Klagenfurter Wettlesen erlebte Elmar Krekeler, mit zwei Ausnahmen: Verena Rossbacher (ihr Text hier) und Aleks Scholz (sein Text hier). Hannes Stein schickt einen Brief aus Manhattan. Gerhard Gnauck berichtet über eine polnische Fernsehserie zum Zweiten Weltkrieg, in der sich Polen als Judenretter auszeichnen - man will so sein antisemitisches Image loswerden.

FAZ, 28.06.2010

Unter dem Titel "Fundamentalismus der Aufklärung" macht Patrick Bahners auf einen vergessenen, in Manuel Boruttas Buch "Antikatholizismus - Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe" nacherzählten Skandal aufmerksam: In Berlin Moabit wurde eine Niederlassung von Dominikanern im 19. Jahrhundert von liberalen Kräften angegriffen. Und natürlich erkennt Bahners Paralleln zum heutigen "Kulturkampf gegen den Islam": "Die Dominikaner in Moabit wurden mit dem Hinweis schikaniert, sie hätten für ihre Kapelle keine Baugenehmigung. Der öffentlich zur Schau gestellte Nonnenhabit beleidigte das liberale Auge; keine Frau, wussten die Männer, trug ihn freiwillig. Schlagend belegt Borutta, dass der Anblick römischer Rituale orientalistische Angstbilder hervorrief."

Weitere Artikel: Von einer offenbar etwas merkwürdigen Veranstaltung, bei der sich im Berliner Radialsystem Joachim Gauck von seinen Unterstützern huldigen ließ, berichtet Edo Reents. Richard Kämmerlings freut sich, dass in einem "schwachen Gesamtfeld" mit Peter Wawerzineks Romanauszug (Download als .doc) der beste Text mit dem Bachmann-Preis honoriert wurde. Hubert Spiegel resümiert die Theaterbiennale in Wiesbaden und Mainz. In der WM-Kolumne denkt Dirk Schümer über die "Fiktion" namens Nationalmannschaft nach. In der Glosse hält Dieter Bartetzko gar nichts von der Architekten-Forderung, den deutschen Pavillon, Verkörperung der NS-Architektur, auf dem Gelände der Venedig-Biennale abzureißen. Vor allem um die französische Zeitschrift Le debat (Website), die ihren dreißigsten Geburtstag feiert, geht es bei Jürg Altweggs Blick in französische Zeitschriften. Marta Kijowska schreibt einen knappen Nachruf auf den polnischen Autor Adam Zielinski.

Besprochen werden die Eröffnung von Christoph Schlingensiefs Münchner Operndorf mit ""Via Intolleranza II", Robert Wilsons Prager Inszenierung von Leos Janaceks Oper "Katja Kabanova", die Ausstellung "Landschaft ohne Horizont" im Museum Schloss Moyland und Bücher, darunter Susan Sontags Tagebücher "Wiedergeboren" aus den Jahren 1947 bis 1953 (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 28.06.2010

Nicht gerade enthusiasmiert klingt Christopher Schmidts Resümee des Klagenfurter Wettlesens: "Der 34. Jahrgang in Klagenfurt war nicht zum Erwürgen, aber sehr heterogen. Fünf Ausfälle, fünf diskutable Texte und vier, die kein klares Bild ergaben, bildeten ein steiles Gefälle." Hier der Siegertext von Peter Wawerzinek.

Jens-Christian Rabe unterhält sich mit dem Musikverleger Jürgen Söder über das (nicht mehr ganz) neue große Ding im Netz: Musik wird nicht mehr heruntergeladen, sondern per Streamingdienst wie Spotify oder Last.fm gehört. Bisher ist es aber noch so: "Mehr Geld als beim iTunes Store gibt es für Künstler und Labels bei keinem anderen Online-Musikladen. Genaue Zahlen darf ich aber leider nicht verraten." (Hat Steve Jobs das verboten?)

Weitere Artikel: Jens Bisky verfolgte ein Symposion über "Kulturen des Wirtschaftens" in Berlin. Für die "Nachrichten aus dem Netz" las Niklas Hofmann das einzige Blog aus Nordkorea über die Fußball-WM (geschrieben von einem westlichen Ausländer fürs westliche Ausland). Ira Mazzoni meldet, dass Bundesbauminister Peter Ramsauer die Gelder für Städtebau kürzen will. Die Literaturseite bringt eine Rede des Übersetzers Joachim Kalka, gehalten während eines Symposions zum Thema im Münchner Literaturhaus. Auf der Medienseite wundert sich Hans Leyendecker reichlich unhistorisch darüber, dass "besonders die konservative Welt wie eine Sambatruppe für Gauck trommelt".

Besprochen werden neue DVDs mit klassischer Musik und die Retrospektive des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl beim Münchner Filmfest.