Heute in den Feuilletons

Die Verführung der Witwe Anne

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2011. In der NZZ bewundert  Abdelwahab Meddeb, die tunesischen Revolutionäre. Und Jürgen Habermas erinnert sich dankbar der jüdischen Heimkehrer, die Deutschland aus der drückenden Stimmung der Nachkriegszeit befreiten. In der Berliner Zeitung ärgert sich Petros Markaris über seine Landsleute und  ihre Sympathie zu den Deutschen. Die FR zweifelt an den Perspektiven des Islams. Die FAZ berichtet über eine neue Protestform in Weißrussland: Man geht schweigend durch die Städte und applaudiert. In der Welt erklärt die Lyrikerin Nora Gomringer den Unterschied zwischen "luschtig" und"interessant". 

NZZ, 02.07.2011

Beat Stauffer unterhält sich in Literatur und Kunst mit Abdelwahab Meddeb, der sich durch die tunesische Revolution mit seiner Heimat versöhnt fühlt: "Die tunesische Revolution hat ganz eindeutig einen säkularen Charakter. Diejenigen, welche diese Revolution vorangetrieben haben, haben nie - ich betone: nie! - einen religiösen Bezug hergestellt. Ihr Bezugspunkt war vielmehr das, was die Philosophen das Naturrecht nennen. Sie hatten keine Ideologie, keinen Anführer, keine 'Identität'; sie forderten ganz einfach den Respekt vor der menschlichen Würde." Übrigens übt Meddeb auch Selbstkritik: "Nachdem diese Diktatur so unerwartet rasch gefallen ist, stelle ich mir ernsthaft Fragen über unser Schweigen - auch wenn es kein Schweigen war, das letztlich Kollaboration bedeutet hat."

Auf Schloss Elmau fand gerade eine Tagung über die 68er-Gneration und die jüdischen Remigranten an den Unis statt. Möglicherweise in diesem Zusammenhang entstand Jürgen Habermas' Tour d'horizon zum Thema. Er schildert die Bedeutung der jüdischen Denker für seine Generation: "Wir waren durch den Zivilisationsbruch gegenüber dem spezifisch Deutschen in der Tiefe der deutschen Traditionen argwöhnisch geworden. Mindestens intuitiv war uns klar: Wer, wenn nicht sie, die 'rassisch aussortiert' worden waren, während ihre Kollegen munter weitermachten, wer sonst könnte eine schärfere Sensibilität für die dunklen Elemente in den besten unserer moralisch korrumpierten Überlieferungen ausgebildet haben?"

Außerdem erzählt in dieser großartigen Ausgabe von Literatur und Kunst Barbara Strasser die Geschichte des Vaters von Ai Weiwei, Ai Qing.

Im Feuilleton feiert Christoph Gampp eine Gegenüberstellung Richard Serras und Constantin Brancusis in der Fondation Beyeler. Andrea Köhler erzählt die Erfolgsgeschichte de Bilderbuchs "Go the Fuck to Sleep", das die verzweifelten Kämpfe von Eltern um den Schlaf ihrer Kinder schildert und zum Bestseller wurde.

Bitte sehr: Samuel Jackson ist wirklich der ideale Vorleser für dieses Buch:



Besprochen werden außerdem die Neufassung von Hemingways "Paris - Ein Fest fürs Leben" und die Ausstellung "Architektur in Brandenburg" in Potsdam.

FR, 02.07.2011

Von einer Tagung in Essen zu Chancen eines Reform-Islam berichtet Michael Hesse. Recht skeptisch äußerte sich dazu etwa der Gelehrte Sadik al-Azm aus Damaskus: "Wie im 9. Jahrhundert über den Koran diskutiert wurde, ob er eine göttliche Eigenschaft darstelle oder nicht, sei in der gegenwärtigen arabischen Welt unmöglich. Und die fundamentalistischen und konservativen Deutungen unter den theologischen Gelehrten nehmen überdies zu. Eine neue Sicht auf den Islam bei den Intellektuellen werde nur dann Kontur gewinnen, wenn eine Autorität auftritt und es ihnen vorgibt. Al-Azms Hoffnung: der sogenannte Euro-Islam unter den in Europa lebenden muslimischen Intellektuellen könne die Debatte in den arabischen Ländern beleben."

Im Gespräch mit Sabine Vogel und Harry Nutt zum 60. Geburtstag des Goethe-Instituts kommt dessen Präsident Klaus-Dieter Lehmann auch auf die Situation in China und die politische Komplexität des Landes zu sprechen: "Manchmal kommt es mir so vor, als sei die Arbeit in China ein Experimentierfeld für das Ausprobieren, wie weit man in solchen Situationen gehen kann." Es ist "eine Frage der Courage und Geschicklichkeit, aber auch der Sensibilität und des Kenntnisstandes herauszufinden, wo die rote Linie verläuft."

Weitere Artikel: Georg Imdahl hat Carolyn Cristov-Bakargiev, die Leiterin der kommenden documenta, getroffen, und erfahren, dass sie Kasseler Kinos und andere Bauten des Architekten und documenta-Gründers Arnold Bode und seines Bruders bespielen will. Anke Westphal spricht mit Wolfgang Braun, Geschäftsführer der demnächst in Studiocanal umfirmierten Filmfirma Kinowelt. Den Supreme-Court-Beschluss, dass auch Gewalt-Videospiele an Kinder verkauft werden dürfen, kommentiert Sebastian Moll. In einer Times Mager erklärt Sylvia Staude, warum die Hubble-Konstante mit mehr Recht Lemaitre-Konstante heißen sollte.

Berliner Zeitung, 02.07.2011

Auf Petra Pluwatschs Frage, warum die Griechen gerade durch die Kritik der Deutschen so irritiert sind antwortet Petros Markaris: "Weil sie sich ihnen sehr verbunden fühlen und nicht verstehen, dass sie von ihnen fast mit Verachtung behandelt werden. Ehrlich gesagt habe ich mich immer gewundert, dass den Griechen ihre ehemaligen Besatzer sympathischer sind als ihre ehemaligen Befreier, die Amerikaner. Irgendwie ist das typisch griechisch: immer das Verkehrte machen."
Stichwörter: Markaris, Petros

Welt, 02.07.2011

Die Lyrikerin Nora Gomringer erklärt Ulrich Wickert im Interview den Unterschied zwischen Slam Poetry und Poetry Slam und erzählt, was Vater Eugen zu ihren Gedichten sagt: "Mein Vater kritisiert eigentlich nicht viel. Das hat wohl auch damit zu tun, dass er selbst noch viel veröffentlicht und viel schreibt. Er sagt immer nur - und das ist, glaube ich, sehr schweizerisch, mein Vater ist ja Schweizer: 'Sehr interessant' oder 'luschtig'. Also, 'luschtig' heißt immer sehr gut. Und 'interessant', da muss man dann nachprüfen, ob man nicht vielleicht noch konkreter hätte werden können."

Außerdem: Übersetzt ist die Rede, in der Jonathan Franzen kürzlich Absolventen des Kenyon College in Ohio erklärte, warum Liebe genau das Gegenteil von "like" ist. Klaus Harpprecht schreibt zum 50. Todestag von Ernest Hemingway. Schwiegertochter Valerie Hemingway erinnert sich im Interview an die Zeit, in der sie als Sekretärin mit Hemingway durch Spanien, Frankreich und Kuba reiste: "Wissen Sie, ich hatte gedacht, ein Schriftsteller hinge die meiste Zeit bloß rum. Von Hemingway habe ich gelernt, dass das Schreiben etwas Ernstes ist. Er hat es sein Gewerbe genannt, und sich darum zu kümmern, hatte absolute Priorität."

Besprochen werden u.a. der erste Band der von Dan Diner herausgegebenen Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Michail Schischkins Roman "Venushaar", Veronique Olmis Roman "Die erste Liebe" und Karl Schlögels Buch "Moskau lesen".

Im Feuilleton behauptet der Pädagoge Wassilios Fthenakis im Interview, die meisten Griechen seien durchaus bereit zu sparen, nur eine Perspektive hätten sie dabei gern. Werner Bloch ist einigermaßen erschlagen von Imi Knoebels Fenstern für die Kathedrale von Reims. In der Leitglosse nimmt sich Ekkehard Kern die Ränkespiele der ARD um ihr Generalsekretariat vor. Hollywood bekommt jetzt auch staatliche Filmförderung, meldet ein entsetzter Hanns-Georg Rodek. Das amerikanische daran: Sie wird verlost! Alan Posener bittet Gunter Gabriel zu Tisch. Besprochen wird Michelangelo Frammartinos Film "Vier Leben".

TAZ, 02.07.2011

Wie sich das Selbstbild und das Verhalten des Goethe-Instituts, das jetzt seinen 60. feiert, in einer komplexer und multipolarer gewordenen Welt verändern muss, darüber macht sich Dirk Knipphals Gedanken: "Es kann ja in der aktuellen Lage nicht mehr rein darum gehen, fremde Kulturen zu verstehen, Interesse für sie zu wecken und sie gegenüber einer westlichen Hegemonie zu verteidigen. Vielmehr gilt es, in den angeblich fest gefügten Kulturen Lücken zu finden, Öffnungen und Spielräume auszuloten - und damit die Möglichkeiten eines konkreten Austauschs zu schaffen, der über diplomatische Floskeln und temporäre Kulturevents hinausgeht."

Weitere Artikel: Wie "oppositionelles Regieren" aussehen kann, das erklärt Peter Unfried am Beispiel Winfried Kretschmann. Dirk Knipphals empfiehlt im Vorfeld der Bachmann-Tage einen Blick auf die neue Ausgabe der Literaturzeitschrift Volltext (Website). Hugo Chavez' verspätete und ungewohnt knapp verkündete Krebs-Erklärung kommentiert Gerhard Dilger. In China hielt, informiert Jutta Lietsch, Parteichef Hu Jintao zum 90. Geburtstag der KP eine Rede, die er zu 97 Prozent aus schon gehaltenen Ansprachen recycelt hat. Nina Apin liest in der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne ein Buch von Beppo Severgnini, in dem dieser den Erfolg von Silvio Berlusconi damit erklärt, dass jener den Traum der Italiener von sich selbst zu verkörpern versteht. In einem Beitrag auf der Meinungsseite verteidigt Rudolf Walther die jüngste Pro-Europa-Intervention von Jürgen Habermas und hält dagegen gar nichts von Hans-Magnus Enzensbergers anti-europäischen "Harlekinaden".

Besprochen werden ein Berliner Konzert des Saxofonisten Seun Kuti, das neue Casper-Album "XOXO" und Bücher, darunter Albert Ostermaiers Roman "Schwarze Sonne scheine" und Isabell Loreys widerstandsphilosophische Überlegungen "Figuren des Immunen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 02.07.2011

Alexander Menden erlebt am Londoner Old Vic einen glänzend aufgelegten Intendanten Kevin Spacey als Richard III. in Sam Mendes' Inszenierung des Shakespeare-Stücks: "Er liefert eine Meisterklasse in Heuchelei, als er geschockt auf die (ihm durchaus angenehme) Botschaft reagiert, der König sei krank. Und auch die Bewährungsprobe jeder Richard-Interpretation, die Verführung der Witwe Anne an der Bahre ihres von Richard ermordeten Gatten Edward, gelingt Spacey spielend... All die kleinen Tricks, mit denen Kevin Spacey auf der Bühne arbeitet, das schiefe Lächeln, die ostentative Überlegenheitshaltung, die wissenden, selbstgefälligen Blicke in den Zuschauerraum, passen perfekt zur Figur."

Weitere Artikel: Catrin Lorch unterhält sich mit dem Künstler Bruce Nauman, der gerade zwei neue Werke in Berlin vorstellt und außerdem in einer größeren Schau in Mannheim gefeiert wird. Martina Knoben sieht auf dem Münchner Filmfest neue Filme aus dem Iran und dem arabischen Raum. In seiner Kairo-Kolumne trifft Khalid al-Khamissi auf einen Taxifahrer, der mit seiner Familie durch die Revolution seine Wohnung verlor und nun am Sinn der ganzen Sache sehr zweifelt. Charles Dickens' Sommerresidenz steht, wie Hannah Lühmann vermeldet, für zwei Millionen Pfund zum Verkauf.

Im Interview mit der SZ am Wochenende gibt der Schriftsteller Petros Markaris ein kleines Beispiel für die Korruption in Griechenland: "Man sollte als Erstes die lokalen Steuerämter abschaffen. Jetzt läuft das so: Der Finanzbeamte besucht Sie und sagt: 'Sie müssten eigentlich 100.000 Euro Steuern bezahlen. Wenn ich aber 20.000 bekomme, dann bezahlen Sie bloß noch 40.000 an den Staat - und haben 40.000 gespart.' Das muss man ausschalten." Und Joachim Käppner denkt über den Antisemitismus der deutschen Linken nach: "Die Linke mag alles von sich weisen und ist doch Erbin einer hässlichen Vergangenheit, nämlich des zutiefst gestörten Verhältnisses des Sozialismus und seiner diversen Strömungen zum Judentum und später zum Staat Israel."

Besprochen werden ein Abend mit den br-Symphonikern unter Yannick Nezet-Seguin und mit dem Pianisten Frank-Peter Zimmermann, das Album "Tradi-Mods vs. Rockers", auf dem kongolesische Likembe-Musiker mit Indie-Rockern musizieren, Bon Ivers zweites, selbstbetiteltes Album und Bücher, nämlich Katja Kullmanns Generationen-Erfahrungsbericht "Echtleben" und die Urfassung von Ernest Hemingways "Paris, ein Fest fürs Leben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 02.07.2011

Es brodelt in Weißrussland, berichtet Ingo Petz. Das Volk organisiert sich zu "Flashmobs" und entwickelt Protestformen, die dem Regime unheimlich sind: "Seit dem 22. Juni gehen Tausende in der Hauptstadt auf die Straße - zu den sogenannten 'Volksspaziergängen', Protestmärschen, die ohne Losungen, Plakate und Flaggen auskommen. Die Demonstranten spazieren schweigend durch die Straßen und klatschen in die Hände." Lukaschenka hat sich allen Applaus inzwischen verbeten.

Weitere Artikel: Nun ist es gerade aktuell, in bezug auf Griechenland das Erbe der Antike zu beschwören, aber, so fragt Dieter Bartetzko im Aufmacher, "was wissen wir, die Zeugen und Mitbetroffenen der 'Schulden-Tragödie', wirklich von dieser Antike, die momentan jeder im Munde führt?" Timo John begutachtet vom Büro Kiefer Architektur aus Rohrdorf bei Nagold verantwortete Neubauten der Friedrich Boysen GmbH im Schwarzwald und hebt besonders das neue Prüfstandsgebäude am Ende des Firmengeländes hervor. In der Leitglosse spottet Andreas Rossmann über die Schwierigkeiten des Deutschen Fußballbunds, einen Sieger im Architektenwettbewerb für das Fußballmuseum in Dortmund zu küren. Jürgen Dollase wendet sich in seiner Gastrokolume nach kalorienreichem Restaurantbesuch in der Metzgerstuwa in Soultz gegen positive Vorurteile über die französische Kochkunst. Josef Oehrlein würdigt noch einmal die neue Dimension des Populismus, die der venezolanische Caudillo Hugo Chavez, der nun ernstlich krank zu sein scheint und in Kuba darniederliegt, im Umgang mit den Medien erreichte. Auf der Medienseite schildert Jürg Altwegg französische Reaktionen auf die "unfassbaren" Nachrichten zu Dominique Strauss-Kahn. Und Jörg Wittkewitz berichtet, dass einige medizinische Wikipedia-Artikel mit Hilfe der dubiosen Initiative Wiki Watch von der Pharmaindustrie manipuliert wurden.

Besprochen werden Kevin Spaceys Abschiedsvorstellung als Leiter des Old Vic Theatre mit Shakespeares "Richard III.", Nanouk Leopolds Film "Brownian Movement" (mehr hier), CDs von neuen deutschen Liedermachern, ein Soloalbum des Multiinstrumentalisten Nik Freitas (Musik) und eine Henze-Edition unter Marek Janowski.

In Bilder und Zeiten bekennt sich Iris Hanika als Heavy-Metal-Hörerin. Tilman Spreckelsen gratuliert dem Grafiker und Übersetzer des "Kleinen Nick" Hans Georg Lenzen zum Neunzigsten. Die Literaturseite ist ganz Ernest Hemingway und zumal der Neuübersetzung von "Paris - ein Fest fürs Leben" gewidmet. Auf der letzten Seite unterhält sch Irene Bazinger mit Eva Mattes.

Für die Frankfurter Anthologie liest Silke Scheuermann ein Gedicht von Christian Wagner

"Erinnerungen hinter der Erinnerung
Strahlt nicht auf mitunter, so zu Zeiten
Kunde her von unsern Ewigkeiten?
So urplötzlich und so blitzesschnelle
Wie die blanke Spieglung einer Welle? (...)"