Heute in den Feuilletons

Gefühl für den Raum

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2013. In der NZZ erklärt der lettische Regisseur Alvis Hermanis, warum man im globalen Theater viel weniger versteht als gemeinhin geglaubt wird. Im Tagesspiegel formuliert Thomas Arslan sein filmisches Credo. In der Welt lobt der polnische Schriftsteller Zbigniew Mentzel die therapeutische Wirkung von Börsenspekulationen. In der taz philosophiert Schorsch Kamerun über die einkaufbare Sichtbarkeit von Künstlern. In der SZ erklärt Jürgen Vogel den Geschlechterkampf für beendet.

NZZ, 09.02.2013

Alvis Hermanis glaubt nicht mehr an die Universalität des Theaters, erfährt Barbara Villiger Heilig, die den lettischen Regisseur für Literatur und Kunst bei seiner vorerst letzten Inszenierung an einem deutschsprachigen Theater besuchte: "Nach all den Erfahrungen im Ausland merke er, erklärt Hermanis, dass man einfach immer an eine Grenze stoße - der Verständigungsmöglichkeiten bzw. des Verständnisses im weiteren, nicht einfach linguistischen Sinn. Es geht um den kulturellen Kontext. Er spielt, davon konnte sich Hermanis im Lauf der zehn vergangenen Jahre zur Genüge überzeugen, eine viel größere Rolle als gemeinhin angenommen. Während die globalisierte Theaterszene ihre Botschaft der universalen Verständlichkeit von unablässig um den Planeten tourenden Bühnendarbietungen wie ein Mantra wiederholt, sagt Hermanis wörtlich: Im Ausland zu arbeiten, sei 'immer eine Art blind date'."

Weitere Artikel: Peter Michalzik würdigt die Theaterausbildung in Gießen. Achim Engelberg schreibt mit Hilfe unveröffentlichter Interviewteile ein sehr schönes Porträt des 2003 verstorbenen serbischen Autors Aleksandar Tišma, dessen noch ungelesene Bücher man anschließend sofort aus dem Regal zieht.

Nachdem eine Gruppe von Tugendwächtern in Russland das Nabokov-Museum attackiert hat, überlegt Ulrich M. Schmid im Feuilleton noch einmal, ob "Lolita" ein pornografisches Buch ist und kommt zu dem Schluss: nein, auch wenn Nabokov gehofft habe, mit dem Tabubruch einen Sensationserfolg zu erringen. Martin Kubaczek treibt schlaflos durchs Niemandsland. Hoo Nam Seelmann beschreibt das Leben mit zwei Kalendern in Korea, China und Taiwan.

Besprochen werden eine Aufführung von Massenets Oper "Manon" am Theater Basel und Bücher, darunter Wolfgang Welschs postmoderne Evolutionsphilosophie "Homo mundanus", Aleš Štegers Gedichtband "Buch der Körper" und Georgi Markovs Novelle "Die Frauen von Warschau" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Perlentaucher, 09.02.2013

Farmland oder Ölgeld? Vor dieser Entscheidung stehen die Farmer in Gus van Sants Wettbewerbsfilm "Promised Land", erzählt Thomas Groh. "Was vorderhand als Politdrama daherkommt, ist im Grunde eine tief in americana getauchte Meditation über die amerikanische Identität und den ewigen Widerstreit zwischen kleinen Gewerben und den großen Konzernen. Im gewissen Sinne hat Steve Butler (Matt Damon) selbst die Seiten gewechselt: Im ländlichen Iowa aufgewachsen, gilt er unter den Zahlenschiebern der Konzerne als aufstrebender Karrierist. In einem Schlagabtausch - herrlich amerikanisch in einer öffentlichen Debatte - nimmt eine amerikanische Flagge den gesamten Hintergrund ein: Haben die USA sich selbst an den Großkapitalismus verloren?"

Außerdem neu in unserer Berlinale-Kolumne "Außer Atem": Raoul Pecks Dokumentarfilm "Assistance Mortelle" über die Katastrophenhilfe in Haiti und Reha Erdems Film "Jin" über eine junge Kurdin, die allein durch die Berge zieht.

Tagesspiegel, 09.02.2013

Auf den Berlinale-Seiten (alle Artikel hier) erklärt Regisseur Thomas Arslan im Interview, warum er in seinen Filmen - und auch im Wettbewerbsbeitrag "Gold" - so oft Menschen auf der Suche zeigt: "Am Anfang ist da ein großes Versprechen und irgendwann nur noch eine große Verlorenheit in der Weite der Landschaft, die sie zermürbt oder in den Wahnsinn treibt. Menschen in Bewegung, das Haptische, Physische beim Versuch, eine Strecke zu bewältigen, das ist für mich Kino: dafür einen Rhythmus und eine Form zu finden."

Aus den letzten Tagen sei noch hingewiesen auf Christiane Peitz' Artikel über Krisenfilme in Forum und Panorama. Patrick Wildermann stellte die Filme in der Reihe Perspektive Deutsches Kino vor, die "einen Trend zur Vereinzelung" zeigen.

Und David Assmann empfiehlt die neue Reihe "Native", die indigene Filme zeigt: "Darin besteht auch der wichtigste Aspekt des indigenen Kinos: im Wechsel der Perspektive, der Ermächtigung vom Objekt zum Subjekt. In ihren Arbeiten wollen sich die indigenen Filmemacher nicht länger dem bestenfalls ethnografischen, schlimmstenfalls kolonialisierenden Blick von außen unterwerfen, sondern ihr Recht auf 'audiovisuelle Selbstbestimmung' geltend machen, wie es der Wiener Videoaktivist Thomas Waibel formuliert, der in Mittelamerika mit indigenen Gruppen Filmprojekte betreibt."

Welt, 09.02.2013

Gerhard Gnauck trifft in Warschau den Schriftsteller Zbigniew Mentzel, der jetzt nur noch an der Börse spekuliert: "'Ich habe eine manisch-depressive Neigung. Die Börse ist für mich eine Art Therapie. Sie hält mich im Zaum. Wer in der Kunst seine Disziplin verliert, endet in der Grafomanie. Wer es an der Börse tut, endet im Bankrott.' Und die Zahlen, Pan Mentzel? 'Seit Anfang Januar hat der Warschauer Index sechs Prozent verloren, aber ich bin mit 9,4 Prozent im Plus.'"

Weiteres: Cosima Lutz vermisst im letzten Teil von Ulrich Seidls Paradies-Trilogie "Hoffnung" die Schärfe. Ulrich Claus begrüßt ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, das der stetigen Ausweitung des Urheberrechts zu Lasten der Meinungsfreiheit einen Riegel vorschiebt. Besprochen werden auch Matt Damons Wettbewerbsbeitrag "Promised Land" und die dritte Staffel der Krimiserie "Kommissarin Lund".

Die Literarische Welt lässt Ulrich Wickert die Autorin Eva Menasse interviewen, die gerade ihren Roman "Quasikristalle" veröffentlicht hat (hier unser Vorgeblättert). Zu den Antisemitismus-Vorwürfen, die in den vergangenen Monaten die Republik bewegten, sagt sie: "Ich habe schon mal im Scherz vorgeschlagen, wir sollten uns in Deutschland alle mal einen Tag lang ein T-Shirt anziehen, auf dem steht 'Ich bin Antisemit'. Dann kann man vielleicht zu vernünftigeren Diskussionen übergehen."

Besprochen werden unter anderem David Grossmans Klagelied "Aus der Zeit fallen", Birk Meinhardts DDR-Roman "Brüder und Schwestern" und Robert Edsels Buch "Monuments Men" über alliierte Raubkunst-Jäger.

TAZ, 09.02.2013

Vor dem für Mittwoch anstehenden Urteil in Sachen Suhrkamp gegen Hans Barlach klärt Arno Frank noch einmal die Lage: "'Kein vernünftiger Mensch möchte, dass Barlach sein Chef ist', lässt sich ein großer deutscher Verleger zitieren: 'Aber was Barlach sagt, stimmt', zumindest in ökonomischer Hinsicht."

Im Interview mit Dirk Schneider spricht Schorsch Kamerun über sein Musiktheater, Pathos und Politik und die Gefahr, die Marke "linker Musiker mit Punk-Sozialisation" zu werden: "Das ist ja ein Teil der Problematik unseres heutigen Lebens, diese schnellen Höhen und Tiefen, das Selbstvermarktungsmuss. Ähnlich stark schwanken meine Aufführungen, und ich denke, ich werde nur aus dem einen Grund an den Theatern gebucht: weil ich das wirklich thematisieren will. Sonst wäre es nur Befindlichkeitsschrott. Dabei weigere ich mich, einschätzbar zu sein in meinen Formen, und versuche auch damit einem festen Labeling aus dem Weg zu gehen. Nenn es kokett oder Strategie. Anders geht es eben nicht. Eine künstlerische Position hat immer auch mit einkaufbarer Sichtbarkeit zu tun."

Weiteres: Fatma Aydemir zieht durch das schizoide Berlin. Sonja Vogel war dabei, als die Linguistin Monika Schwarz-Friesel und der Historiker Jehuda Reinharz ihre Studie zur antisemitischen Sprache in Berlin vorstellten. Jannis Hagmann berichtet von Tuvia Tenenboms Lesung aus seinem Buch "Allein unter Deutschen". Besprochen werden unter anderem das Tanzstück "Les petites morts" Angela Schubot und Jared Gradinger in den Berliner Sophiensälen, David Grossmans Trauerbuch "Aus der Zeit fallen" und Serhij Zhadans ukrainischer Slacker-Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass".

Auf den Berlinale-Seiten der taz geht's u.a. um Ulrich Seidls Wettbewerbsbeitrag "Paradies: Hoffnung" und Gus van Sants "Promised Land".

Und Tom.

FAZ, 09.02.2013

Der Kunsthistoriker Klaus Herding möchte die Untersuchung abwarten, bevor er glaubt, dass das in Paris entdeckte Porträt wirklich zu Courbets "Ursprung der Welt" gehört. Magdalena Ebertz begutachtet Versuche von Bundesregierung und zivilgesellschaftlichen Gruppen, den radikalen Islam bei Jugendlichen zurückzudrängen. Andreas Kilb sah im Wettbewerb der Berlinale neue Filme von Gus Van Sant, Ulrich Seidl und Malgoska Szumowska. Die Regisseure Pia Marais und Thomas Arslan, deren Filme ebenfalls im Berlinale-Wettbewerb laufen, sprechen im Interview über die Finanzierung ihrer Filme und ihr Studium an der dffb. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Komponisten Friedrich Schenker.

Besprochen werden eine Ausstellung "atemberaubender" griechisch klassischer Bronzen und Vasen im Frankfurter Liebieghaus, die Ausstellung "Peter Handke und das Theater" im Wiener Theatermuseum und Bücher, darunter Eva Menasses neuen Roman "Quasikristalle" (hier eine Leseprobe).

In der Frankfurter Anthologie stellt Joachim Sartorius ein Gedicht von Alfred Lichtenstein aus dem Jahr 1913 vor, ein Jahr, bevor der 25-Jährige im Ersten Weltkrieg fiel:

"Prophezeiung

Einmal kommt - ich habe Zeichen -
Sterbesturm aus fernem Norden.
Überall stinkt es nach Leichen.
Es beginnt das große Morden.
..."

SZ, 09.02.2013

Nach dem Besuch dreier neuer Berliner Buchhandlungen, die ihrem Verständnis nach eher Literaturkuratoren als Buchhändler sind, weiß Felix Stephan die drei Faktoren zu benennen, die "über den Erfolg und Misserfolg von Buchhandlungen [entscheiden]: "Erlebnis, Identifikation, Community." Johan Schloemann verfolgt fachinterne Diskussionen bei einer Tübinger Jubiläumstagung zu Ehren des Seminars für Zeitgeschichte. Ulrich Seidls im Berlinalewettbewerb gezeigter Film "Paradies Hoffnung" bereitet seiner Paradies-Trilogie "ein Ende, das dem Titel 'Hoffnung' nicht einmal Hohn spricht", meint Tobias Kniebe. Fritz Göttler und Susan Vahabzadeh begegnen in der Berlinale-Retro "The Weimar Touch" dem "Kino (...), das Deutschland entgangen ist". Tim Neshitov trifft sich in einem Hotel in Amsterdam mit dem ehemaligen Kunstschmuggler Michel van Rijn, der mittlerweile als Kunstdiebjäger auf der Seite von Recht und Ordnung steht. Die Sixtinische Kapelle leidet unter dem Touristenanstrom, berichtet Henning Klüver. Andrian Kreye schreibt den Nachruf auf Donald Byrd.

Besprochen werden Mariusz Trelinskis Inszenierung von Puccinis "Manon Lescaut" in Brüssel und Bücher, darunte Anne Brontes Roman "Agnes Grey" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Für die SZ am Wochenende blättert Tanjev Schultz bei den antiken Griechen die Wurzeln aller Plagiatdiskussionen nach. Alex Rühle besucht in Mumbai junge Schauspieler vor den Toren Bollywoods. Rebecca Casati trifft Brigitte Lacombe, deren Fotos derzeit in der dffb in Berlin ausgestellt werden. Helmut Martin-Jung durchleuchtet das Netz nach Datenkraken abseits von Facebook. Außerdem erklärt Jürgen Vogel im Gespräch mit Kristin Rübesamen den Geschlechterkampf ein für allemal beendet: "Frauen wollen einen guten Typen, Männer wollen eine gute Alte. Keiner will mit einer Idiotin zusammen sein, die nur geil aussieht und sonst hohl ist wie eine Brosche."