Im Kino

Wie ein schlafendes Monstrum

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
23.11.2016. In "ALIPATO: The Very Brief Life of an Ember" erforscht der philippinische Workaholic Khavn ein weiteres Mal das Prinzip der permanenten Eruption. Clemens Klopfensteins "Geschichte der Nacht" verweigert sich dem inszenatorischen Kontrollwahn.


"Take care of the quantity. God will take care of the quality - that is, assuming you do believe in God." - Das rät der philippinische Regisseur Khavn (de la Cruz) in seinem 2003 verfassten Manifest "Digital Dekalogo" jungen Kollegen. Wieviele Filme der nebenbei auch als Musiker, Buchautor und mit Sicherheit in einer ganzen Reihe anderer Kunstbereiche höchst produktive Workaholic seither gedreht hat, weiß wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Seine Website listet insgesamt 159 Titel, aber zumindest "ALIPATO: The Very Brief Life of an Ember", sein neuster Streich, der diese Woche in Deutschland anläuft, ist da noch nicht mit eingerechnet.

Wie die allermeisten dieser Filme spielt "ALIPATO" in den Slums von Manila, und wie in ziemlich vielen von ihnen gehört die Mehrzahl der handelnden Figuren einer Straßengang an. Die erste Hälfte widmet sich deren jugendlichen Anfängen. Eine nicht enden wollende Sequenz stellt die Mitglieder der Gang der Reihe nach vor und ordnet ihnen, dem Zufalls-, beziehungsweise einem freudig pervertierten Lustprinzip folgend, deviante Eigenschaften zu. Manche der Jungs essen Scheiße, andere haben Sex mit ihren Geschwistern, wieder andere ihre Eltern umgebracht. Es gibt Ansätze einer Geschichte: einer ist der Boss, es gibt ein Mädchen, an dem der Boss Interesse hat, irgendwann wird ein Banküberfall geplant. Wichtig ist das nicht; die Erzählung löst sich fast vollständig auf in eine Serie distinkter, in agilen, oft mehrminütigen Einstellungen etablierten Tableaus, die Kindern beim Unfug machen zuschaut.



Dass Khavn seinen Film in dieser ersten Hälfte tatsächlich fast ausschließlich mit echten Kindern besetzt, mit sehr jungen Kindern sogar, die teilweise erst zwei, drei Jahre alt sind, entpuppt sich als veritabler Coup. Teils halb- bis ganz nackt, teils grotesk aufgetakelt, springen die Protagonisten (und wenigen Protagonistinnen) in bunten Trashkulissen oder auch in einem bemitleidenswerten Supermarkt herum, verprügeln sich gegenseitig, pissen auf den Boden, schreien kaum artikulierte Obszönitäten in die Kamera. Die Realität dieses tatsächlichen Kinderspiels, die Evidenz der offensichtlichen kindlichen Freude am Kaputt- und puren, anarchischen Blödsinnmachen, steht auf interessant verquere Weise gleichzeitig in enger Verbindung mit und in Kontrast zu der Realität, auf die der Film sich bezieht: Denn selbstverständlich gibt es in den Armenvierteln der philippinischen Großstädte tatsächlich sehr, sehr viele Kinder, deren Lebensumstände von den in "ALIPATO" dargestellten nicht allzu verschieden sind. Nur, dass man in den realen Slums für gewöhnlich ohne Trash-Glamour und B-Movie-Ästhetik entlehnten Überhöhungen auskommen muss. Die triste, skandalöse Realität und ihre lustvolle Überschreitung sind schlichtweg nicht zu trennen in diesen Bildern.

Khavns ästhetisches Grundprinzip ist die permanente Eruption. Dem Sprudeln der Filme in der unüberschaubaren Filmografie entspricht das Sprudeln der Bilder in jedem einzelnen Film. Nur folgerichtig, dass der Regisseur die minimalistische Low-Tech-Ästhetik, die die Frühphase seines Werks noch prägte, hinter sich gelassen hat, sobald sich ihm die Möglichkeit dazu bot. Spätestens seit "Mondomanila" (2010) hat sich der inzwischen im Festival- und Filmförderbetrieb gut vernetzte self made man der audiovisuellen Opulenz verschrieben. Bei "Ruined Heart" (2015) arbeitete er sogar mit Christopher Doyle zusammen, dem Starkameramann der überkandidelten Flanke des panasiatischen Kunstkinos. Den neuen Film hat zum Glück wieder sein Stammkollaborateur Albert Banzon fotografiert, dessen Bilder selbst in den wildesten Momenten des Khavn-Hyperdrives eine rohe, dokumentarische Grundierung behalten. Überhaupt entwirft Khavn seine ganz eigene, ausgesprochen punkige anything-goes-Version von Opulenz. Opulenz heißt hier nicht feinsinnig ausgetüftelte Massenchoreografie und schwülstige Flattertuch-mise-en-scene; sondern, dass um einen ohnehin schon ziemlich infernalischen Stripclub herum auch noch ein riesiger Schweinestall aufgebaut wird.



So wie die traurigen Striperinnen Bretterzaun an Bretterzaun mit Nutztieren leben, steht auch in "ALIPATO" alles unbehauen nebeneinander: cinema-verite-tracking-shots durch das reale Chaos Manilas wechseln sich mit klaustrophobischen Studiototalen und fast schon installativ anmutenden Straßenkampfzeitlupen ab. Das einzige synthetisierende Element ist die pure Negtion, der Tod: Jedesmal, wenn jemand ins Jenseits befördert wird, ertönt ein Gong und ein Grabstein wird eingeblendet. Mitten im Film schickt Khavn den Obergangster per lakonischer Texteinblendung für 28 Jahre in den Knast. Der Zeitsprung wird mit einer ausgedehnten, ziemlich wahnwitzigen Animationsfilmsequenz überbrückt, die eine Gefängniskarriere als plastisches Schattenspiel inszeniert. Die zweite Filmhälfte spielt nach der Entlassung, ist ein klein wenig drehbuchlastiger und setzt auf etwas konventionellere Motive des Schock- und Ekelkinos. Macht aber nichts, die manisch-düstere Grundstimmung bleibt erhalten, der Soundtrack ist sowieso durchweg erstklassig. Ein Film, der knallt, von der ersten bis zur letzten Minute.

Lukas Foerster

ALIPATO: The Very Brief Life of an Ember - Philippinen 2016 - Regie: Khavn - Darsteller: Khavn, Dido de la Paz, Marti San Juan, Robin Palmes, Bing Austria - Laufzeit: 87 Minuten.


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Ein Sprichwort besagt, dass in der Nacht alle Katzen grau sind. Gemeint ist damit, dass die Dunkelheit alles gleicht macht, dass sich Unterschiede durch die Einschränkung des Sehsinns auflösen. Dieser Gedanke drängt sich auch in Clemens Klopfensteins "Geschichte der Nacht" auf. Der Schweizer Regisseur hat sich dafür mit hochempfindlichem schwarzweißem 16mm-Material in die Finsternis geworfen. Im Pressetext kann man nachlesen, dass der Film in 150 Nächten und 15 überwiegend europäischen Ländern entstanden ist. Weil Klopfenstein die Wahrnehmung von Raum und Zeit immer wieder irritiert, bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Information zu glauben. Oft sehen wir nur leere Straßen, bedrohliche Schatten von Gebäuden, diffuse Lichtquellen und ihre Reflexionen auf dem Beton. Und obwohl in solchen Aufnahmen kaum etwas passiert, ist viel los in den Einstellungen - vor allem, weil es in den groben Körnern des meist unterbelichteten Materials so heftig pulsiert, weil ausgerechnet die Dunkelheit, die ein filmisches Bild sonst unmöglich macht, es hier erst belebt.

Es besteht kein Zweifel daran, dass wir uns an unterschiedlichen Schauplätzen befinden. Wir hören dies wegen der italienischen Sprachfetzen und singenden Muezzine oder sehen es an der Architektur englischer Arbeiterwohnungen, an finnischen Straßenschildern, russischer Leuchtreklame und sogar an einigen Sehenswürdigkeiten. Aber selbst das Brandenburger Tor wirkt nicht wie ein Wahrzeichen, sondern eher wie ein schlafendes Monstrum, das nicht nur wegen der dramatischen Beleuchtung eindrucksvoll zur Geltung kommt, sondern auch weil es keine Menschen gibt, die von ihm ablenken. Das Verwirrende an "Geschichte der Nacht" ist zunächst, dass die Ortswechsel und Bilder keinem erkennbaren Ordnungsprinzip folgen. Wenn man nicht ohnehin nach einer Weile aufgegeben hat - auch weil es kaum eine Rolle spielt - muss man sich immer wieder neu orientieren. Klopfenstein spielt zusätzlich mit den verschwommenen nationalen Abgrenzungen, etwa, wenn er neben dem Originalton auch Musik der Third Ear Band verwendet - einer britischen Rockband, die ihre Identität mit fernöstlichen Einflüssen verschleiert.



Obwohl der Film weder an Geschichten noch an Individuen interessiert ist, rückt er den Menschen immer wieder ins Bild. Nicht unbedingt als Protagonisten, sondern eher als rätselhaftes Geschöpf, das man aus der Ferne in seiner natürlichen Umgebung beobachtet. Versammelt werden all die Existenzen, die nachts noch auf den Beinen sind; die arbeiten müssen, einen draufmachen, vielleicht nur nicht nach Hause gehen wollen oder auch einfach kein Zuhause haben. Dabei entstehen viele schöne Miniaturen, die das Mythische und Bedrohliche der Nacht aufleben lassen, nur um es im nächsten Moment wieder mit ein wenig Tristesse zu erden. Einmal führt uns Klopfenstein in einen Reggae-Club kurz vor der Sperrstunde. Während zwei verstrahlte Gäste noch auf der Tanzfläche herumhüpfen, sind die restlichen Besucher schon auf ihren Stühlen zusammengesunken; längst in Aufbruchsstimmung, aber zu schwach, um zu gehen. Solche Szenen wirken befreit von der dokumentarischen Absicht, etwas Substantielles über ein bestimmtes Milieu zu erzählen. Dafür sind sie zu distanziert und zerstreut. Statt zu erklären, beschränkt sich der Film darauf, zu zeigen. Und das Gezeigte ändert ständig seine Natur, führt uns vom Schwulenstrich über eine gehobene Gartenparty bis zu einer surrealen Karnevalsprozession.

Der Film selbst legt schon nahe, dass Klopfenstein nicht dem herkömmlichen Bild eines Experimentalfilm-Regisseurs entspricht. Zur Bestätigung muss man sich nur seinen bisher letzten Film aus dem Jahr 2005 ansehen: "Die Vogelpredigt oder Das Schreien der Mönche". Statt Handlungsverweigerung hat man es hier mit einer anarchischen No-Budget-Meta-Komödie zu tun, in der Ursula Andress als helige Maria auftritt. Doch ganz so groß ist der Graben zwischen beiden Regiearbeiten nicht, denn bereits in "Geschichte der Nacht" steckt eine anti-autoritäre und freiheitsliebende Haltung, die man dem Film nicht sofort anmerkt. So aussichtslos es etwa erscheint, wenn Polizisten eine Gruppe von Alkoholikern und Herumtreibern aus einem Bahnhof vertreibt, so spürbar bleibt Klopfensteins Skepsis gegenüber einem inszenatorischem Kontrollwahn. Sein Film hat zwar ein Konzept, aber keine vorgefertigte Struktur, die nur umgesetzt werden muss, keine schon beschlossene Meinung, die nur noch bestätigt wird. Vielmehr entspricht sein Ansatz einem neugierigen Flanieren, bei dem man eben schaut, was man findet. Wer das beliebig nennt, verkennt, dass in dieser Herangehensweise immer auch die Chance steckt, etwas Neues und Überraschendes zu entdecken. Klopfensteins Film ist letztlich wie die Nacht selbst: geheimnisvoll, unvorhersehbar, voller ungeahnter Möglichkeiten und damit durch und durch unberechenbar.  

Michael Kienzl

Geschichte der Nacht - Schweiz 1979 - Regie: Clemens Klopfenstein - Laufzeit: 61 Minuten.

Das Berliner Kino Arsenal zeigt vom 24. bis zum 27. eine Auswahl der Filme Klopfensteins. "Geschichte der Nacht" ist am 24.11. um 20 Uhr zu sehen, "Die Vogelpredigt oder Das Schreien der Mönche" am 26. um 21 Uhr.