Im Kino

Überraschende Wendungen

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
23.05.2019. Im Hype um Quentin Tarantinos neuen Film "Once Upon a Time in Hollywood", der sich dann nicht mal als nichts erweist, erweist sich das Festival von Cannes als schöne Lüge. Eine Option aber ist er nicht mehr. Die wahren guten Filme dieses Festivals hatten mit dieser Art der Produktion von Schein nichts mehr zu tun.
Das sind die Bilder, die sie sehen wollen in Cannes: Die Schlangen, die endlos in alle Richtungen gehen, obwohl sie für Normalsterbliche ja gar nicht zugänglich sind. Die Glücklichen, die die Treppen zum Kino heraufrennen und sich abklatschen, weil sie es geschafft haben. Die Menschen, die ihre selbstgemalten Schilder recken, auf denen "Suche Einladung" steht. Einer hat draufgeschrieben: "Schenke mir eine Einladung für Tarantino, dann verrate ich nicht das Ende von 'Game Of Thrones'". Und dann die Bilder des Starkults, von denen an jedem Tag des Festivals unendlich viele gleiche erzeugt und in die Welt geschickt werden. Die Szenen, die nachgespielt werden, mit den Selfies, den Kleidern, den Männern im Smoking mit Pokerface. An keinem Tag kann man es so sehr spüren, wie an dem Dienstag in Cannes, an dem hier der neue Quentin Tarantino Premiere feiert, "Once Upon A Time ... In Hollywood". Er ist das wichtigste Ereignis der diesjährigen Filmfestspiele, die größten Stars (Brad Pitt, Leonardo DiCaprio et al), spinnt die meist erzählte Festivalgeschichte (wie vor 25 Jahren hier "Pulp Fiction" gewann) weiter. Tarantino hat immer all das mitgebracht, das sie hier wollen. So dass die Bedeutung eines Tarantino-Films, bevor er auf die Leinwand kommt vollkommen losgelöst ist von dem Gehalt dieser Filme. Es gilt inzwischen generell für diese Art der Filmfestivals: Das Drumherum hat sich entkoppelt vom Drin. Das zweite sind die Filme, das erste ist die Erwartung.

Den Verantwortlichen und Gästen in Cannes gefällt es natürlich trotzdem, von der Kraft des Kinos zu sprechen. Die Menschenmengen, das Raunen, das Social-Media-Brisseln zeigen nach dieser Lesart, wie lebendig das Medium, wie wirkmächtig die Kunst ist. Das ist eine der schönen Lügen, die sie nicht zuletzt brauchen, weil hier auch viel öffentliches Geld fließt. Die Wahrheit ist, dass das Ganze hier genauso gut den Horizont weiten wie ihn verengen kann.

Und nachdem dann der zum Ereignis gewordene Film vorbei ist, stellt sich die Frage: Wie rettet man sich aus der Erwartung, wenn jener - wie nun der Tarantino-Film - denn so dünn und plätschernd und harmlos auf Nichts hinausläuft, das irgendeine Bedeutung hat, nicht mal die, dass er keine hat? (Zum Film selbst später mehr) Ist Schönreden die richtige Strategie? Ein lauwarmer Einerseits-Andererseits-Empfang? Ist das Geplänkel eine Vernichtung wert, nur weil man dafür stundenlang in Schlangen gestanden hat und sich ganz kirremachen hat lassen von dem Drumrum? Das ist ja irgendwie auch eigene Schuld.

Leonardo DiCarprio in Quentin Tarantinos "Once Upon a Time..."


Eigentlich ist doch das Umgekehrte der Vorteil an solch einem Filmfest, dass die Bilder und Geschichten jungfräulich zu uns Zuschauern kommen und noch nicht eingeordnet und hierarchisiert sind. Insofern ist es lustig, dass Tarantino selbst die Festivalzuschauer und Kritiker vor dem Film in einer eindringlichen Botschaft warnt, irgendetwas zu spoilern, damit sie später den Film genau so unverdorben erleben können, wie die privilegierten Zuschauer von Cannes. Unschuld ist ein Märchen, auch hier.

Überraschung ist das Schönste und Beglückendste, was hier passieren kann und gleichzeitig ist Überraschung auch im Filmgeschäft die kommerziell riskanteste Strategie. So kommen denn auch Filme zustande wie Ira Sachs' Cannes-Wettbewerbsfilm "Frankie" mit Isabelle Huppert. Der Streifen wäre nicht weiter der Rede wert, wenn nicht inzwischen jedes Festival in jedem Programm einen solchen Film aufböte, in dem die Figuren irgendwelche Intellektuellen und Künstler sind, gern in New York oder Paris lebend, die irgendwelche delikaten Familien- und Beziehungsverbindungen haben und an irgendeinem fotografisch und touristisch ergiebigen Ort zu wechselseitigen Dialogen aufeinander losgelassen werden. Die sind wiederum alle nicht völlig unintelligent, aber vor allem: Erwartbar. Man besetzt hierfür gern Huppert oder alternativ auch Juliette Binoche, es ist die Art Geschichten, die auch Woody Allen niemand mehr übel nimmt. Immerhin ist "Frankie" weithin durchgefallen bei seinen unschuldigen Zuschauern in Cannes, das macht Hoffnung.

Isabelle Huppert in Ira Sachs' "Frankie"



Es liegt auch daran, dass es so vieles Neues in Cannes zu sehen gab. Es waren nicht nur die an dieser Stelle schon besprochenen und absolut palmenwürdigen Filme von Céline Sciamma, Pedro Almodóvar, Ladj Ly oder Mati Diop. Im Wettbewerb gab es überdies auch bemerkenswerte Zugänge und Drehungen zu besichtigen. Die so kühne wie selbstsichere Komödie "Parasite" des koreanischen Regisseurs Bong Joon Ho. Der zeigt mit grotesken und verwirrenden Wendungen, wie den ungerechten Verhältnissen in einem Land nahekommen kann, ohne die bekannten Pfade des Sozialdramas zu begehen, wie es hier zum ungezählten Mal Ken Loach und die Dardenne-Brüder (in "The Young Ahmed") getan haben. Bei Bong Joon Ho sieht das so aus, dass eine Familie von Arbeitslosen - nicht besonders sympathische Leute - einsickert in das Haus eines Tech-Millionärs, dessen Sippschaft nicht mehr aber auch nicht weniger angenehm scheint, als die titelgebenden Parasiten. Man schreckt vor Knebelungen und anderen Grausamkeiten nicht zurück. Und so bemüht sich der Film statt um die Sympathie oder die mitleidigen Gefühle lieber um das Überraschen, Erschrecken, Erstaunen seines Publikums.

Zu nennen wäre auch der Korruptions-Thriller "La Gomera" des Rumänen Corneliu Porumboiu, der in der Vergangenheit schon mit so aufklärerischen wie witzigen Fußball-Dokumentationen von sich reden gemacht hat. Jetzt serviert er aber einen Film, in dem einfach alle verdorben sind. Und wenn das vielleicht auch noch ein bisschen zu ausufernd für einen wirklichen Palmenkandidaten ist: In puncto erstaunliche und überraschende Wendungen macht auch das viel Spaß. Außerdem lässt sich der Fortgang der Karriere des rumänischen Ausnahmeschauspielers Vlad Ivanov besichtigen, der einfach in fast jedem bemerkenswerten Film aus seiner Heimat mitspielt. Aber bei weitem nicht nur von dort: Für den eben noch thematisierten Koreaner Bong Joon Ho hat er schon gespielt, in Maren Ades berühmten "Toni Erdmann", für den schaffensreichen Ukrainer Sergej Losnitza, in Filmen, die Goldene Palme, Goldenen Bär und anderes gewonnen haben. Als einer, der den Widrigkeiten vom Balkan und anderswo lange mit fast mimikfreier Mine begegnet, um dann mit einer reduzierten Gesichtsregung mehr auszusagen als andere mit minutenlangem Gezappel - als so einer ist Ivanov einerseits längst eine Marke. Andererseits ist diese Leistung noch viel zu wenig gewürdigt.

Vlad Ivanov in "La Gomera" von Corneliu Porumboiu


Viele der starken Filme dieses Jahres liefen nicht einmal im Wettbewerb, sondern in der Nebenreihe "Un Certain Régard". Die erzählsatten Frauengeschichten aus dem Maghreb ("Papicha" von Mounia Meddour und "Adam" von Maryam Touzani) wurden hier schon genannt. Eine andere, dieses Mal sehr irritierende, Geschichte zweier Frauen fügte der Russe Kantemir Balagov hinzu, ein stilisiertes Stück aus dem Leningrad der unmittelbaren Nachkriegszeit, eine Reflexion über den Minderwert von Menschenleben und die Abwesenheit von Werten, die sich nicht zwingend, aber durchaus plausibel auch auf das Russland der Jetztzeit beziehen lässt. Oder, auch bei den Männern gibt es Neues, die so unbekümmerte wie kluge US-Indie-Komödie "The Climb" von Michael Angelo Covino, ein etwas aus der Zeit gefallener Buddy-Geschichte, ein Bubenstück. Es wäre gelacht, wenn dieser Film seinen Weg zum Publikum nicht fände.

Und damit zurück zu den Erwartungen, die die großen Autorenkino-Männer doch überwiegend enttäuscht haben. Jim Jarmuschs Eröffnungsfilm "The Dead Don't Die" wurde lau aufgenommen. Ken Loach lieferte ordentlich, aber erwartbar. Der oben bereits erwähnte Beitrag der Dardenne-Brüder über die Radikalisierung eines 13-Jährigen zum Möchtegern-Djihadisten litt darunter, dass der Film seine verschlossene Hauptfigur selbst nicht zu verstehen schien. Dann war da der schon so viel besprochene wie erwartete Terrence-Malick-Beitrag "A Hidden Life", dem man einerseits zugutehalten muss, dass er die Geschichte des oberösterreichischen Wehrmachts-Verweigerers Franz Jägerstätter jener Erzähl-Ausbeutung entzieht, die ihr eine Hollywood-Verarbeitung oder ein deutscher Fernsehfilm hätten angedeihen lassen. Introspektive und Subjektivität sind da im Prinzip nämlich gar nicht so unpassend. Aber die penetrante Umdeutung zu einer christlichen Märtyrergeschichte mit immer denselben hohlen Erzählmitteln scheint dann doch sehr fragwürdig.

Es liegt natürlich vor allem an der Fallhöhe, dass Tarantino die größte Enttäuschung lieferte. "Once Upon A Time ... In Hollywood" ist auch ein Buddy-Film. Aber einer, dem der Bezug abhanden gekommen ist, wo man doch gerade das an Tarantino immer gelobt hat: Dass er die Wirklichkeit nimmt und freihändig verändert und sie dadurch sichtbarer macht. "Once Upon A Time" aber nimmt die Wirklichkeit der Hollywood-Mythen nur um darin zu schwelgen. Nicht nur in seiner Vorab-Botschaft ans Publikum, auch in seiner Geschichte, so kurzweilig sie sich anschaut, auch drei knappe Stunden lang, schützt Tarantino eine Unschuld vor, von der er wissen muss, dass er sie nicht einmal mehr behaupten kann. Wir alle wissen, dass es sein erster Film nach seinem langjährigen Produzenten Harvey Weinstein ist, den Tarantino zunächst verteidigt hatte. Und Tarantino macht einfach weiter wie bisher und auch noch langweiliger? Cannes 2019 hat gezeigt, dass das keine Option mehr ist.

Lutz Meier