Im Kino

Eine moderne Frau

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
11.01.2023. Ali Abassis Film "Holy Spider" über einen Frauenmörder in der iranischen Stadt Mashhad zeigt eine Gesellschaft zwischen Frömmelei und Elendsprostitution. Eine Journalistin verkörpert die Wut der iranischen Frauen, die sich zur Zeit auf den Straßen Irans Luft macht. Aber ob die Bilder immer alles zeigen müssen?


Von August 2000 bis Juli 2001 ermordete der iranische Bauarbeiter und Kriegsveteran Saeed Hanaei 16 Frauen in Mashhad. Die im Nordosten des Landes gelegene Stadt ist die zweitgrößte im Iran und zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass hier der Schrein zu Ehren des Imams Reza liegt, dem einzigen auf iranischem Boden begrabenen schiitische Imam. Entsprechend ausgeprägt ist der Tourismus in der als heilig geltenden Stadt. Die ermordeten Frauen waren Prostituierte, die Hanaei unweit des Schreins auflas, um sie zu sich nach Hause zu locken, wo er sie meist erwürgte.

Den iranischen, im dänischen Exil lebenden Regisseur Ali Abbasi beschäftigt diese Geschichte - vor allem auch: diese Disparität zwischen Frömmelei auf der einen und dem Abgrund der Elendsprostitution auf der anderen Seite - seit geraumer Zeit. Eine gewisse Faszination vor allem für die morbiden Untiefen ist seiner Verfilmung des Falls stellenweise anzumerken: "Holy Spider" (die iranische Presse bezeichnete Hanaeis Taten als "Spinnenmorde") beginnt zunächst wie ein miserablistischer Donnerschlag, wenn der Film sich in beobachtender Distanz an die Fersen einer drogenabhängigen Prostituierten heftet. Sie kleidet sich vor dem Spiegel an (wie beiläufig rücken die Hämatome auf ihrem Körper in den Blick, Spuren der Misshandlungen, auf die ihre Kunden ein Anrecht zu haben meinen), macht sich fertig für den Strich (eine unter dem Kopftuch hervortretende Locke scheint das Signal zu sein), wir erleben den ersten Freier, den nächsten, einen Besuch bei einer alten Frau, um Drogen zu kassieren, bis sie schließlich an ihren Mörder gerät, der sie brutal ums Leben bringt. Abassi spart wenig aus: nicht den Schmutz, das Elend, nicht die körperliche Misshandlung, nicht den steifen Schwanz beim Auto-Blowjob. Auch nicht den langen Close-Up auf das Gesicht der Ermordeten im Moment ihres Sterbens. Wenn die Frau tot ist, blickt man ins Antlitz bitterster Armut: Das Gesicht verzerrt vor Schreck, geschlagen und misshandelt, die Zähne vom Drogenkonsum ruinös. Mehr als einmal fragt man sich in dieser Sequenz nach dem Ethos des Films, der Perspektive, des Verhältnisses des Films zum Gezeigten. Eine abschließende Antwort auf die Frage habe ich offen gestanden nicht.



Nur soviel: In miserabilistischen Torture Porn, der in der Eröffnungssequenz in Sichtweite aufscheint, mündet der Film nicht. Gewaltspitzen gibt es weiterhin, nur wechselt der Film für den weiteren Verlauf in die analytische Perspektive. Über weite Strecken beobachtet er die (allerdings für den Film frei erfundene) Journalistin Arezoo Rahimi (Zar Amir Ebrahimi), die aus Teheran in die Stadt kommt, um über die Mordserie zu berichten. Parallel dazu verfolgt der Film den Alltag des Mörders (Mehdi Bajestani), der zu Hause den Familienvater gibt, sich mit anderen Veteranen austauscht (ihn wurmt, dass er im Krieg kein Märtyrer geworden ist) und in der Zeitung viel zu wenig über seine Taten liest, weshalb er regelmäßig in der Redaktion anruft, um die Berichterstattung zu diktieren: Er will sich als "Jihadist wider die Dekadenz" dargestellt wissen.

Abbasi erzählt seinen Thriller bedächtig, minutiös, mitunter kühl. Zwar dringt er oft ins Düstere der Nacht vor, doch pathetisch aufgeladene Spannungsinseln, die dem Geschehen einen Spektakelwert abpressen, sind seine Sache nicht. Schritt für Schritt erzählt er eher von Gesellschaft als einen Plot - nämlich von den Zumutungen, die Frauen im Iran ausgesetzt sind. Es beginnt mit der Ankleidung zu Beginn des Films: das mühsame Wahren des Scheins. Es geht weiter mit dem grotesken Moment, in dem Rahimi im Hotel in Mashhad einchecken will, was den Portier hilflos Rat beim Kollegen suchen lässt - eine unverheiratete Frau, die alleine ein Zimmer für sich haben will, das gehe doch wirklich nicht. Rahimi insistiert mit dem Nachdruck einer Frau, die von all dem längst genug hat. Erst ihr angefressen hingeknallter Presseausweis löst den Konflikt zu ihren Gunsten auf. Im Hotelzimmer angekommen, entledigt sie sich als allererstes jener Kleidung, die sie in der Öffentlichkeit zu tragen gezwungen ist. Darunter: eine moderne Frau, klar von Verstand, willensstark, unnachgiebig. In dieser Figur manifestiert sich viel von der kochenden, aber immer wieder in sich vergrabenen Wut, die die bewunderungswürdigen Iranerinnen in den letzten Monaten auf die Straßen ihrer Heimatstädte getragen haben.



Aber bei solchen Episoden bleibt es nicht. Abbasis Film erzählt, wenn schon nicht von einer aktiven Verschwörung der Männer, so doch von deren patriarchaler Einschwörung. Ein Polizeichef vertröstet die Journalistin herablassend, später wird er versuchen, sie zu vergewaltigen. Ein Richter (in Iran natürlich auch ein Religionsführer) fordert sie dazu auf, den Leuten mit ihren Berichten keine Angst einzujagen. Als Hanaei schließlich geschnappt wird, steigt er in den Rang eines Volkshelden auf: Die oft beschworene islamische Barmherzigkeit, die zu Almosen aufruft, erfährt in "Holy Spider" ihre Pervertierung dahingehend, dass man ins Elend von Drogensucht und Prostitution abgeglittenen Menschen die Hilfe verweigert, während man sich beeilt, der Familie des Mörders unter die Arme zu greifen. Der Sohn des Mörders hat gar endlich Anlass, voller Stolz zu seinem Vater aufzublicken. Im Hintergrund der Verurteilung werden alte Veteranen-Netzwerke aktiv. Kurz: Es gibt zig gute Gründe dafür, dass Rahimi der Polizei und den Religionsführern bis zum Ende nicht traut: Ideologisch stecken sie mit Hanaei allesamt unter einer Decke.

Die Wut über diese Verhältnisse ist Abbasis Film bei aller Kühle und beobachtenden Distanz zumindest unterschwellig anzumerken. Es wundert nicht, dass er (eine deutsch-dänisch-französisch-schwedische Ko-Produktion) nicht in Iran entstehen konnte. Nach viel Hin und Her fand der ursprünglich in der Türkei geplante Dreh schließlich in Jordanien statt. Von Irans Seite gab es freilich das erwartbare außenpolitische Gezeter zur Premiere bei den Filmfestspielen in Cannes 2022. Umso mehr Respekt ringt einem der iranische Schauspieler Mehdi Bajestani ab, der für diesen Film als Mörder vor die Kamera getreten ist.

Mit dem Casting der Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi gewinnt der Film eine zusätzliche Ebene - die der direkten Betroffenheit durch die dargestellten Verhältnisse. Ebrahimi, in Cannes (meiner Meinung nach: sehr zu Recht) als beste Darstellerin ausgezeichnet, war in Iran eine populäre Seifenoper-Schauspielerin, bis 2006 ein Video auftauchte, das angeblich sie beim Sex mit ihrem damaligen Freund zeigte. In einer bizarren Entwicklung der Dinge wird ihr dafür der Prozess gemacht. Dem Urteil - zehn Jahre Berufsverbot, eine Haftstrafe und 99 Peitschenschläge - entzog sie sich durch Flucht nach Frankreich.

Die Hartnäckigkeit und Entschlossenheit, die Zar Amir Ebrahimi ihrer Rolle verleiht, wirkt wie eine späte Rache an den Machthabern in ihrem Land, an all den schrecklichen Polizisten, Mullahs und den ganzen anderen Männern, die ein solches Gesellschaftsgefüge aufrecht erhalten. Sie hat entschieden Anteil daran, dass "Holy Spider" einer der gegenwärtigsten Filme zur Zeit ist. Mögen die Frauen in Iran die Mullahs und ihre willfährigen Lakaien zum Teufel jagen.

Thomas Groh

Holy Spider - Dänemark, Deutschland, Frankreich, Schweden u.a. 2022 - Regie: Ali Abbasi - Darsteller: Zar Amir-Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashtiani, Farouzan Jamshidnejad, Sina Parvaneh, Nima Akbarpour - Laufzeit: 116 Minuten.