Im Kino

Im Kino gewesen. Das Licht gesehen.

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt
08.03.2023. Erst nach dem Tod seiner Eltern konnte er diesen Film drehen, sagt Steven Spielberg. "The Fabelmans" ist Spielbergs intimstes Werk, ein aufrichtiger Selbsttherapiefilm in atemberaubenden Bildern. Meisterlich verschränkt Spielberg biografisches Material mit den erprobten Ideen seines Kinos, um daraus virtuos rekontextualisierte Erinnerungsfantasien zu schmieden.

Sammy Fabelman traut seinen Augen nicht. Langsam beugt der Junge sich während des dramatischen Zugunglücks in Cecil B. DeMilles 1952 veröffentlichtem Zirkusfilm "The Greatest Show on Earth" aus dem Kinosessel hervor, als zögen die atemberaubenden Eindrücke der Leinwand ihn immer näher ans Geschehen: Was hat es mit diesen bewegten Bildern auf sich, wie konnten sie entstehen? Auf der Heimfahrt scheint der sechsjährige Sammy kaum mehr ansprechbar. Er ist im Kino gewesen. Er hat das Licht gesehen.

Mit der wunderschönen Anfangsszene von "The Fabelmans" greift Steven Spielberg auf eine Formel seines Kinos zurück, die der Videoessayist Kevin B. Lee einmal The Spielberg Face nannte: Gesichter erwartungs- und sorgenvoll dreinschauender Menschen, die mit weit aufgerissenen Augen und offenstehenden Mündern fantastischen Wunderlichkeiten erliegen. Zum großen Staunen, das Spielbergs Figuren und darüber sein Kinopublikum in den Bann schlägt, gehört außerdem der zweifelnde Blick: ein Hauch von Ungläubigkeit, als könne die Überwältigung sich selbst nicht ganz fassen. So erlauben Spielbergs Filme häufig etwas, das in der Geschlossenheit ihrer Erzählungen und ihren emotionalisierenden Bildstrategien eigentlich nicht vorgesehen sein dürfte. Sie wecken Sehnsucht nach Wunscherfüllung und Hingabe an den orchestrierten Affekt, fordern aber zugleich die misstrauische Überprüfung einer solchen Erfahrung heraus.

Auch beim kleinen Sammy Fabelman hinterlässt der kinematographische Erweckungsmoment ambivalente Gefühle. In einer weiteren wunderschönen Szene (der Film läuft noch keine 10 Minuten!) hüpft der Junge mitten in der Nacht auf seinem Bett herum, nachdem eine zündende Geschenkidee ihn nicht schlafen lassen kann. Zum Chanukka-Fest wünscht er sich eine Modelleisenbahn, um das Zugunglück aus "The Greatest Show on Earth" im Miniaturformat (und damit ähnlich spielerisch wie der Film selbst) nachstellen und wiederholen zu können. Den entscheidenden Impuls liefert Mitzi Fabelman, als sie ihrem Sohn eine 8mm-Kamera in die Hand drückt: Sammy entdeckt die Lust an inszeniertem Spektakel und kreativer Zerstörungsfreude - und findet darüber hinaus einen Weg, die Ängste des Kinotraumas beherrschen und produktiv machen zu können.


Sammy Fabelman, das ist natürlich Steven Spielberg selbst, der in "The Fabelmans" die eigene Kindheit und Jugend rekapituliert. Nach über 50 Jahren produktiven Hollywood-Schaffens hat Spielberg sich an den dezidiert autobiografischen Kern jener Motive und Sujets gewagt, die seine Erfolgsformel begründen. Er wirft dazu nicht nur einen Blick zurück aufs eigene Erwachsenwerden, indem er kindlicher Begeisterungsfähigkeit, ersten handwerklichen Gehversuchen oder jugendlichen Anpassungsproblemen seines Alter Egos Sam in den USA der 1950er und -60er Jahre nachspürt, sondern reflektiert insbesondere das Verhältnis zu Mutter und Vater. Schon vor über 20 Jahren habe er den Film drehen wollen, sagt Spielberg. Nur die Angst, seine 2017 und 2020 verstorbenen Eltern könnten sich verletzt fühlen, sei ihm dazwischengekommen.

Erstaunlich mutet die von Idealisierung und Scham befreit wirkende Aufrichtigkeit seines Selbsttherapiefilms an, mit der Spielbergsche Erfahrungswirklichkeiten sowohl humorvoll als auch angemessen sentimental auf links gedreht scheinen. Wo die bekannten Kinoklassiker Spielbergs wie selbstverständlich von männlichen Alltagshelden erzählen, die neben außerordentlichen auch gewöhnliche Herausforderungen zu meistern verstehen, muss sich der angehende Filmemacher in "The Fabelmans" von seinen Schwestern kritisch fragen lassen, warum in seinen Handlungen nicht auch einmal Frauen zur Rettung eilen dürfen.

Vor allem in seinen Science-Fiction-Filmen entfalteten Steven Spielbergs Heldenstorys immer wieder fantastische Szenarien hinter vorstädtischen Rückzugslinien, um Katastrophen aller Art privat statt global perspektivieren und schließlich bezwingen zu können. In "The Fabelmans" hingegen erweist sich das scheinbar unumstößliche Bild suburbaner Idylle, eines der Erkennungsmerkmale schlechthin in Spielbergs Kinokosmos, als Ausdruck innerer Sehnsucht. Dem Verlust seiner Heimat wird der von ständigen Umzügen und elterlicher Trennung geplagte Sam filmische Welten entgegensetzen, die von gefräßigen Haien, außerirdischen Besuchern oder zum Leben erweckten Dinosauriern heimgesucht und jedes Mal aufs Neue ins Lot gebracht werden.

Als besonderer Ort innerhalb dieses heimeligen Spielberg-Ambientes erwies sich wiederholt der begehbare Wandschrank im Kinderzimmer. In "E.T." und "Poltergeist" barg er abwechselnd Wunder und Schrecken, fungierte sowohl als magischer Rückzugsraum wie auch als gefahrvolles Einfallstor. In "The Fabelmans" spielen sich dort gleich mehrere Schlüsselszenen ab: Der kleine Sam führt der begeisterten Mitzi darin seine ersten 8mm-Aufnahmen vor (der Wandschrank als buchstäblicher Projektionsraum) und nutzt das Zimmer im Zimmer später auch zur Offenbarung einer dem selbstgedrehten Material eingeschriebenen Wahrheit. Sams Entdeckung dieser Wahrheit wird zu einem Stück filmischer Verdichtungskunst, wie sie selbst in Spielbergs an formaler Beherrschung wahrlich nicht armem Werk nahezu ohnegleichen ist.

Meisterlich verschränkt Spielberg biografisches Material mit den erprobten Ideen seines Kinos, um daraus virtuos rekontextualisierte Erinnerungsfantasien zu schmieden. Die Mischung aus persönlicher Note und ästhetischem Echo lässt den Film insbesondere fürs kenntnisreiche Publikum zur Entdeckungsreise werden: Mit einem Hauch von "Krieg der Welten", wenn Mutter Mitzi das Familienauto durch den Tornado manövriert, oder einer Spur "E.T.", wenn Sam und seine Pfadfinder-Freunde sich auf Fahrrädern ins Abenteuer stürzen. Die Selbstbezüge scheinen verdeutlichen zu wollen, wie sehr das Erleben dysfunktionaler Familienverhältnisse die Arbeiten des jungen Filmemachers geprägt hat. Vom entfremdeten Vater in "Unheimliche Begegnung der dritten Art" bis zum ewig ungebundenen Archäologen Indiana Jones lassen Spielbergs Helden ein Unbehagen gegenüber Verantwortung erkennbar werden, das augenscheinlich von den Erfahrungen mit der zerrütteten Ehe der Eltern des Regisseurs herrührt.


Mitzi Fabelman, die heimliche Hauptfigur des Films, soll Spielbergs tatsächlicher Mutter Leah Adler bis ins Detail nachempfunden sein. Aus dem gelegentlich apotheotischen, zur Überhöhung neigenden Mutterbild seiner Familienfilme und ihren mal engelsgleich im Hintergrund agierenden, mal überfordert erscheinenden Frauenfiguren fällt Mitzi weitgehend heraus. Spielberg zeichnet sie als eigensinnige und widersprüchliche Persönlichkeit: Als verhinderte Künstlerin, die Piano im Fernsehen statt - wie ihr Onkel, verkörpert von Judd Hirsch, beklagt - auf den Konzertbühnen der Welt spielt; als mütterlichen Bezugspunkt, der sich innerfamiliäre Freiräume auf notfalls skurrile Art schaffen muss (z.B. mit einem persönlichen Hausäffchen!); und als eine die Ambitionen ihres Sohns bedingungslos unterstützende kreative Kraft, deren eigene Bedürfnisse in hitzigen Momenten als Egoismus missverstanden werden.

Dass Steven Spielberg diese wunderbar schillernde Figur mit Michelle Williams besetzte, ist gleich doppelt brillant. Zum einen verleiht sie der sonderbaren Mitzi eine geheimnisvolle Energie, die ihr Spiel nie recht durchdringen und auflösen kann (von jedwedem psychologischen Realismus sind glücklicherweise gerade die der Wirklichkeit entlehnten Spielberg-Figuren weit entfernt). Zum anderen setzt ihre Verpflichtung einen Metalink zur Coming-of-Age-Serie "Dawson's Creek", mit der Williams Ende der 1990er Jahre ihren Durchbruch feierte. Als großstädtischer Wirbelwind verdrehte sie darin einem provinziellen Spielberg-Fan den Kopf, der genau wie Sam Fabelman jugendliche Liebesnöte und elterlichen Trennungsschmerz überwinden muss, bevor er zum gefragten Filmemacher aufsteigen darf. Im Finale der Serie winkt dann sogar eine Verabredung mit dem großen Regieidol Spielberg - so wie Sam am Schluss von "The Fabelmans" den legendären John Ford treffen und sich eine der schönsten künstlerischen Lektionen der Filmgeschichte verpassen lassen darf.

Überlagerungen wie diese öffnen einen Resonanzraum, der in Spielbergs Kino bisher verschlossen schien. "The Fabelmans" ist nicht vom Abhängigkeitsverhältnis zum Publikum her gedacht. Der Regisseur geht im Kenntlichmachen autobiografischer Begehrlichkeiten das Risiko ein, sein Publikum Spielbergscher Illusionen zu berauben. Für den Filmemacher ergibt sich daraus nicht zuletzt das kommerzielle Risiko, hinter dem Vorhang seines Zauberapparats womöglich keine Massen mehr versammeln zu können. Dass "The Fabelmans" in den Kinos der USA tatsächlich zum Flop geriet, hat zwar systemische Ursachen: Gegen die Franchise-Produktpaletten von Marvel und Co. können Amerikas tonangebende Autorenfilmgrößen von einst nur noch wenig ausrichten. Doch möglicherweise brauchte Spielberg gerade die monokulturelle Verengung dieser Hollywood-Ökonomien, für die manch cinephile Kritiker ihn selbst mit- oder gar hauptverantwortlich macht, um seinen bislang intimsten Film zu drehen.

Rajko Burchardt

The Fabelmans - USA 2022 - Regie: Steven Spielberg - Darsteller: Gabriel LaBelle, Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen, Keeley Karsten, Judd Hirsch - Laufzeit: 151 Minuten.