Im Kino

Trotzdem etwas Zärtliches

Die Filmkolumne. Von Carolin Weidner
02.03.2023. "Authentizität schlägt Wunschdenken", verkündete Felix Lobrecht auf der Kinotour seines von David Wnendt verfilmten Romans "Sonne und Beton". Und so beeindruckt den Zuschauer vor allem der Graben zwischen den Jugendlichen aus der Berliner Gropiusstadt und durchaus engagierten Helfern, die sich in der Regel als ahnungslose Verschlimmbesserer erweisen.


"Scheiße wie soll man da wachsen, / Wenn Die Sonne hier nur Schatten wirft / Kein Führungsjob, nein du wirst abgeführt / Kopfschmerzen, Lasten die wir tragen wiegen Tonnen / Frucht verdorben lang bevor der Frühling kommt", rappt Luvre47 in seinem Track "Hamsterrad", der vom Leben im Neuköllner Süden erzählt. Regisseur David Wnendt hat Luvre in seiner Romanverfilmung "Sonne und Beton" in der Rolle des Marco besetzt, großer Bruder von Lukas, aus dessen Perspektive das Buch von Felix Lobrecht erzählt ist. Leicht ließen sich die Zeilen auch über jene Gropiusstadt legen, die einem auf der Leinwand begegnet: Jugendliche im Dauerkonflikt, Eltern, die entweder sehr viel arbeiten oder gar nicht, wobei gleichermaßen wenig dabei herumkommt, Schulen mit Security davor. Die Gropiusstadt mit ihren 38 000 Einwohnern, fast zehn Kilometer vom Hermannplatz entfernt, bietet tatsächlich eine Menge Tristesse, nicht nur in Form von Beton. Im Sommer 2003, in dem Buch wie Film angesiedelt sind, gibt es noch ein bisschen mehr: Sonne satt, Neuzugang Sanchez aus Hellersdorf und einen versuchten Coup, der das Leben zwischen Hochhäusern und Klappmessern etwas erträglicher machen soll, aber letztlich vor allem für Hektik sorgt.

Denn beobachtet man Lukas (Levy Rico Arcos) und seine Freunde Julius (Vincent Wiemer), Gino (Rafael Luis Klein-Heßling) und Sanchez (Aaron Maldonado-Morales), dann bemerkt man vor allem den Stress, mit welchem das Aufwachsen in einem sogenannten Brennpunkt verbunden ist. Ständig muss man darauf gefasst sein, in eine Schlägerei verwickelt zu werden, der Umgangston ist rau. Liefern sich die Jungs mit einer Gruppe Mädchen einen maximal vulgären Schlagabtausch während einer nächtlichen Busfahrt, hat das Ganze trotzdem etwas Zärtliches. So schluchzt Gino, nachdem nun wirklich klar ist, dass es mit dem anderen Geschlecht an diesem Abend nichts werden wird, ein aufrichtiges "Schade". Es ist dieses Spannungsfeld, das Lobrechts Buch zu einem großen Erfolg hat werden lassen und das sich zu weiten Teilen auch im Film wiederfindet. Wobei die 15-Jährigen im Film fast noch ein bisschen fragiler, jünger und unschuldiger wirken als im Roman.



Greifbarer werden sie dadurch, dass man in der Drehbuchkonzeption darauf gekommen ist, die Charaktere stärker auszuarbeiten, ihren Radius zu vergrößern. Die jeweiligen Elternhäuser erhalten Einzug in den Film und mit ihnen etwa auch Julius' ungewaschener Kleiderberg und das provisorische Mobiliar aus zerfledderten Umzugskartons. Geschönt wird jedenfalls nichts. Folglich verkündet Lobrecht im Zuge der Kinotour, welche sich unmittelbar an die Berlinale-Premiere anschließt und zahlreiche Fans lockt: "Authentizität schlägt Wunschdenken". Und à propos Schlagen - ein anderes treffendes Zitat, das es in Buch und Film geschafft hat: "Du weißt doch, die Erwachsenen sagen, der Klügere gibt nach. Auf der Straße die Leute sagen: Der Klügere tritt nach." Der Satz stammt von Marco, jenem im Roman manchmal idealisierten und dennoch problembehafteten großen Bruder, dem vielleicht einzigen Erwachsenen, der begreift, in welchem Umfeld Lukas, Julius, Sanchez und Gino operieren. Eine verlorene Gestalt, für deren Besetzung wohl einmal auch Lobrecht selbst vorgesehen war. Der fläzt nun als Cameo auf einem Ledersofa und zieht Koks von einer CD.

Damit ist sie, die CD, eines der zahlreichen Film-Artefakte, die das Leben in den frühen Nullerjahren illustrieren - neben Nokia-Handys, MP3-Playern, Jamba-Werbung. Und natürlich hört Lukas Aggro Berlin und Die Sekte. Die Lyrics von Sidos "Arschficksong" donnern sehr eindrücklich durchs Kinderzimmer und beschreiben den Graben, der sich zwischen zwei Generationen schier unüberwindlich auftut. Er ist es, der "Sonne und Beton" die große Tragik verleiht. Denn obschon sich immer wieder engagierte Menschen finden, die auf jeweils eigene Art versuchen, zu helfen, erweisen sie sich in der Regel als ahnungslose Verschlimmbesserer. So ist es vor allem ein Vakuum, das die Jungs umgibt, eines, das sich mit viel Getue und Situativem zu kaschieren versucht. Dass "Sonne und Beton" in dieses Vakuum dringt, ja, geradezu sticht, und das auf durchaus unterhaltsame und dynamische Weise, ist vielleicht der größte Verdienst von Felix Lobrechts und auch David Wnendts ungemein breitenwirksamer Arbeit.

Carolin Weidner

Sonne und Beton - Deutschland 2023 - Regie: David Wnendt - Darsteller: Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Hessling, Aaron Maldonado Morales, Luvre47 - Laufzeit: 119 Minuten.