Im Kino

Die eigene Ungewolltheit

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Jochen Werner
29.11.2017. In "120 BPM", Robin Campillos Film über die AIDS-Aktivisten von ACT UP-Paris, sind ausgelassene Parties kein Widerspruch zu einem von Krankheit geprägten Alltag. Andrey Zvyagintsev erkundet mit seinem filmischen Schlag in die Magengrube "Loveless" die antonionieske Leere, die sich zwischen zwei Menschen auftut, als deren gemeinsames Kind plötzlich verschwunden ist.

Ein Club, der eher ein symbolischer als ein konkreter Ort ist: Lässig wummern die House-Beats, eine Piano-Hookline erfüllt den Raum mit Wärme und spärlich beleuchtete Tänzer wiegen sich im Rhythmus. Robin Campillos Film über eine Gruppe französischer AIDS-Aktivisten Anfang der Neunziger-Jahre zieht sich immer wieder in diese utopische Parallelwelt zurück. Die Sprache, die in "120 BPM" sonst so wichtig ist, weil sie sich zu wütend gebrüllten Sprechchören oder mal mehr, mal weniger sachlichen Argumenten formt, wird in diesem Moment zugunsten einer Realitätsflucht überwunden. Doch abgeschlossen von der Wirklichkeit ist auch der Club nicht. Als sich die Kamera plötzlich den herumschwirrenden Staubpartikeln im Lichtkegel eines Scheinwerfers widmet, verwandeln diese sich langsam in mikroskopisch vergrößerte HI-Viren. Wie viele andere Szenen im Film zeigt auch diese, dass die verschiedenen Lebensbereiche der Protagonisten nicht isoliert betrachtet werden können, sondern sich gegenseitig durchdringen. Die ausgelassenen Parties sind kein Widerspruch zu einem von Medikamenten geprägten Alltag oder den Demonstrationen auf der Straße, sondern eine Notwendigkeit, um die Kraft und Lebensfreude zu bündeln, die den persönlichen wie politischen Kampf überhaupt möglich macht.

Ein anderes Mal erzählt der bereits kranke Sean (Nahuel Pérez Biscayart) nach dem Sex mit dem noch HIV-negativen Nathan (Arnaud Valois), wie er einst von seinem Mathelehrer infiziert wurde. Und kaum hat seine Geschichte begonnen, taucht plötzlich der nackte Körper aus der Vergangenheit auf, schleicht sich in das intime Setting und macht bewusst, dass das gerade nicht nur irgendeine Erzählung vom ersten Mal ist, sondern ein Ereignis, dessen Schatten Seans Leben für immer verdunkeln wird.

Campillo, der bisher unter anderem als Drehbuchautor für Laurent Cantet sowie mit seiner schönen Regiearbeit "Eastern Boys" in Erscheinung getreten ist, führt uns zu Beginn seines Films wie einen Neuling in den Kreis von ACT UP-Paris - einer Vereinigung, die sich, wie ihr amerikanisches Vorbild, für die Sichtbarkeit von HIV-Positiven und ein schnelles Handeln der Politik einsetzte. Wir befinden uns in einem Hörsaal, in dem einer der Gruppenleiter dem Nachwuchs die Verhaltensregeln erklärt; wann die Treffen stattfinden, wo man rauchen darf, wie man sich meldet und dass man seine Zustimmung gegenüber anderen Redebeiträgen nicht mit Klatschen, sondern mit Fingerschnippen ausdrückt. Je ausführlicher sich der Film den teilweise sehr hitzig geführten Diskussionen widmet, desto klarer wird die Bedeutung dieses Regelsystems. "120 BPM" führt uns in die Mitte eines zusammengewürfelten Haufens unterschiedlicher Individuen, der zwar im Geiste anarchistisch ist, aber nur funktionieren kann, wenn er sich strengen Ordnungsprinzipien unterwirft. Was sich daraus entwickelt, ist kein starres und einheitliches Wertesystem, sondern ein Prozess der ständigen Reflexion. Mehrmals umkreist der Film die Farbbeutel-Angriffe der Gruppe, springt vor und zurück in der Zeit und offenbart dabei, dass jede Aktion nicht nur geplant und ausgeführt werden, sondern auch anschließend hinterfragt werden muss.


Campillo - der seinerzeit selbst bei ACT UP-Paris tätig war -, setzt der Gruppe zwar ein Denkmal, ja scheut dabei selbst den Vergleich mit der Französischen Revolution nicht, benötigt dafür aber weder Pathos noch überhöhte Helden. Vielmehr bringt er seine Aktivisten regelmäßig an ihre Grenzen; zeigt, wie die Wut über das eigene Schicksal sie undifferenziert werden lässt, wie sie von jenen profitorientierten Pharmakonzernen abhängig sind, die sie eigentlich bekämpfen, und vor allem wie sie stets versuchen, für alle zu sprechen - für Schwule, Lesben, Transsexuelle, Junkies und Sexarbeiter -, am Ende aber doch immer wieder auf den eigenen kranken Körper zurückgeworfen werden. "120 BPM" erzählt auch von der Unmöglichkeit, es allen recht zu machen. Als Konsequenz daraus wählt er zunächst einen Modus der Zerstreuung: Verschiedene Biografien werden angeschnitten, unterschiedliche Schicksale, mögliche Liebesgeschichten sowie gegensätzliche Positionen etabliert, die sich meist darum drehen, wie man mit dem politischen Gegner umgehen oder sich in der Öffentlichkeit darstellen sollte. Obwohl der Kampf überwiegend nach außen gerichtet ist und man von diesem Außen auch einen recht guten Eindruck bekommt - sei es durch alltägliche Homophobie, andere Schwule, die sich kein schlechtes Gewissen einreden lassen wollen oder Leute, die zwar betroffen sind, sich aber nicht trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen - bleibt Campillos Film nicht nur beharrlich innerhalb der Gruppe, sondern zieht sich am Ende sogar bis in eine Paarbeziehung zurück.

Die Unmöglichkeit, alle miteinzubeziehen, führt dazu, dass auch der Film selbst geordneter und zugespitzter wird. Waren Sean und Nathan zunächst nur zwei unter vielen, rücken sie immer stärker ins Zentrum eines schwer an die Nieren gehenden Liebesmelodrams. Die Bewegung vom Straßenkampf ins Private ergibt schon deshalb Sinn, weil die meisten der Aktivisten nicht bloß um ein Thema kämpfen, sondern schlichtweg um ihr Leben. Dass "120 BPM" eine solche Kraft entwickelt, hat nicht zuletzt damit zu tun, das er auf das emotionale Fundament vertraut, das seine Figuren antreibt. Es ist tatsächlich nicht leicht, den zunehmenden Verfall des einst so quirligen Sean mitanzusehen; zu beobachten, wie sein Körper immer gebrechlicher und sein Blick immer resignierter wird. Auch wenn der Film seinem Zuschauer einiges abverlangt, ist doch etwas Mildes in Campillos Blick. Er braucht kein Schockszenario, um seinem Publikum das Herz zu zerreißen, keine Monstrositäten, die einen den Blick abwenden lassen. Vielmehr findet er im langsamen und qualvollen Tod noch einen Rest an Würde, Schönheit und vor allem Solidarität. Bevor wir am Schluss wieder im Club landen, führt uns der Film zunächst von der Familie zurück in die Gruppe. Die Tränen, die bei der Totenwache vergossen werden, gelten dabei nicht nur dem schmerzhaften Verlust, sondern auch dem Trost, nicht alleine zu sein, wenn man selbst der Krankheit erliegt.

Michael Kienzl

120 BPM - Frankreich 2017 - OT: 120 battements par minute - Regie: Robin Campillo - Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel, Antoine Reinartz, Ariel Borenstein, Félix Maritaud - Laufzeit: 140 Minuten.

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Man könnte meinen, dass "Loveless", der neue Film des russischen Webers schwerer Substanzen Andrey Zvyagintsev, seinen Protagonisten bereits in der Pre-Credit-Sequenz findet. Einen Schulschluss sehen wir da, eine Horde Kinder, die aus dem Schulgebäude strömen, ein Kind, dem wir folgen, ein Ufer entlang. Ein Fetzen Absperrband verfängt sich in einem Baum. Schwere Klavierklänge, Arvo Pärt. Cut.

Anschließend bleiben wir zwar noch eine Weile bei diesem Kind, einem zwölfjährigen Jungen, der Fokus aber verschiebt sich. Wir lernen die Eltern von Alyosha kennen, sie hassen sich. Zhenya und Boris stecken inmitten einer Scheidung, und um das Kind will sich fortan keiner von beiden kümmern. Ob sie sich jemals wirklich geliebt haben, das weiß man nicht so recht, von einer oder keiner Liebe bleiben jedenfalls nur noch Vorwürfe. Zhenya war jung schwanger geworden, heiratete Boris und steht nun vor den Trümmern eines Lebens, das ihr halt einfach so widerfuhr. Später treffen wir in einer eindringlichen Sequenz ihre Mutter und verstehen, warum ihr jeder Ausweg recht schien.

Boris sorgt sich vor allem um seinen Arbeitsplatz. Was genau er eigentlich macht, erfahren wir nie, aber wir erfahren, dass es zur Firmenpolitik gehört, sich nicht scheiden zu lassen. Eine neue Freundin hat er, sie ist schwanger, es gibt Konflikte mit ihrer dominanten Mutter. Auch Zhenya hat einen neuen Liebhaber gefunden, er ist wohlhabend und gutaussehend. Sie fühlt sich anscheinend geliebt, wir mutmaßen: erstmals. An dem Tag, als ihr Sohn verschwindet, kommt Zhenya erst sehr spät nach Haus. Man wird sie am nächsten Tag anrufen: Alyosha sei seit zwei Tagen nicht in der Schule gewesen. Auch das Kinderzimmer ist leer. Aufgefallen ist es nicht.

Zuvor gab es zwei Brutalitäten zu erdulden, die tief in den weiteren Verlauf des Films hinein ausstrahlen. Einerseits ein schockhaftes Bild, wenn wir nach einem giftigen Streitgespräch der entzweiten Eltern urplötzlich, hinter einer sich schließenden Tür, das im Dunkel kauernde Kind erspähen, die Gesichtszüge tränenverzerrt, mit der eigenen Ungewolltheit konfrontiert. Es gibt für Alyosha kein Zuhause mehr, von diesem Augenblick an. Und dann die zweite Brutalität, besonders perfide nicht in die Spitze, sondern in die Fläche gedacht: Am nächsten Morgen sehen wir den Jungen seine Schulsachen packen und gehen, aus dem Film heraus. Ein wenig mit seiner Mutter herumzickend; die tippt weiter auf dem Smartphone herum. Das Frühstück verweigernd, dann in die Welt hinauslaufend. Wir bleiben nur noch wenige Schritte bei ihm, dann wird er aus dem Film entschwunden sein. Und wir wissen, oder ahnen zumindest, dass er nicht zurückkommen wird. Der Film hingegen weigert sich eine gute halbe Stunde lang, seine zentrale Katastrophe zur Kenntnis zu nehmen.

Wir bleiben für diese quälend lange Zeit an Boris und Zhenya kleben, und wir sehen ihnen beim Leben ihrer egozentrischen Ideen davon zu, wie ihre neuen Leben auszusehen hätten. Während Zhenya von Gleichberechtigung faselt und manisch Selfies knipst, biegt Boris in eine absehbar tragische Wiederholungsschleife ein, setzt ein weiteres ungeliebtes Kind in die Welt und bemüht sich, die Fassade seines bürgerlichen Familienlebens ungebrochen aufrecht zu erhalten. Diese Zeit des Aufschubs, bis das Wissen um die Abwesenheit Alyoshas vom Publikum in die Diegese übergreift, zählt zu den extremsten emotionalen Zuständen, die man im Gegenwartskino durchleben kann.


Es beginnt dann irgendwann eine Investigation. Die Polizei ist erwartbar hilflos in Bürokratie verfangen, aber es gibt eine private Organisation, die sich der Suche nach verschwundenen Kindern verschrieben hat. Ihre Mitglieder sind die einzigen Sympathieträger weit und breit, definieren sich aber auch durch einen entschieden illusionslosen Pragmatismus. Boris und Zhenya tun sich noch einmal zusammen auf der Suche nach ihrem verlorenen Sohn, bringen aber nicht einmal eine gemeinsame Autofahrt ohne Eskalation über die Bühne. Selbst die Extremsituation des Kindesverlustes vermag die lieblosen Eltern nicht dazu zu bewegen, sich für eine begrenzte Zeit um etwas anderes als sich selbst zu kümmern.

"Loveless" ist ein Film, durch den vielfältige Ausdrucksformen von Gift und Hass und Gleichgültigkeit fließen. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie paritätisch dieses Gift auf die Protagonist*innen verteilt ist. Denn obgleich beide Elternteile zunächst in umfassendster Lieblosigkeit vereint auftreten, scheinen sie in der Folge doch mit unterschiedlichen Untertönen zu agieren. Während Boris in der zweiten Hälfte vor allem in der Interaktion mit der positiv besetzten Gruppe der Kindesretter zu sehen ist, tritt Zhenya noch weit egomanischer als zuvor auf, anscheinend gänzlich unfähig, von sich selbst abzusehen und sich auch nur pragmatisch für ihren verschwundenen Sohn zu interessieren. Was andererseits die Frage in den Raum stellt, ob wir als Zuschauer*innen nicht einfach bloß darauf konditioniert sind, von Müttern höhere emotionale Investitionen einzufordern als von Vätern... Gleichwie, ein gewisser Fetisch für dumpf auf ihren Smartphones herumtippende und stupide Selfies aufnehmende Frauenfiguren ist Zvyagintsevs Film nicht abzusprechen, und das spricht nicht unbedingt für seine Geschlechterpolitik.

Schon deshalb wäre "Loveless" ein Film, an dem man sich reiben kann - und auch sollte, denn selbst im Vergleich mit Zvyagintsevs kaum weniger beeindruckenden jüngsten Filmen "Elena" und "Leviathan" ist frappierend, welch ein Virtuose der filmischen Form der russische Regisseur inzwischen ist. "Loveless" ist ein Schlag in die Magengrube, gezielt und kraftvoll. Dennoch kann man sich fragen, wohin der Weg, den Zvyagintsev für sein Kino (und natürlich immer auch: für das Kino) wählt, letztlich weist. Dass zur Zeit diejenigen Filmemacher (selten *innen) ihre eigenen Epigonen hervorbringen, die am meisten Hass und Kälte in ihre Bildsprachen legen, wird allmählich unübersehbar. Was auch immer Zvyagintsev im weiten Feld des Gegenwartskinos sein mag: ein Humanist ist er nicht.

Empfehlen kann und muss man "Loveless" trotzdem, und die genaue Betrachtung seiner spezifischen Kälte ergibt zahlreiche Differenzierungen. Zvyagintsev ist nicht so unerträglich wie Haneke, einer der Gottväter des kontemporären antihumanistischen Kinos. Das liegt daran, dass er nichts erklären will und nichts besser weiß. Außerdem bleibt ein Rest Mitgefühl für Alyosha, und die Kälte, die dieses Mitleiden fortan auffrisst, ist eher vergleichbar mit einem antonioniesken Leiden an der Leere als mit Hanekes herablassendem Blick auf die bourgeoise Vergletscherung.

Am Ende bleibt noch zu konstatieren: "Loveless" ist ein Period Piece, das im Jahr 2012 spielt. Früh erfahren wir das über launige Radionachrichten, zunächst über die vermeintliche Apokalypse des Maya-Kalenders und am Ende über den Krim-Krieg in der Ukraine. Ob diese formal subtil gehaltene, aber inhaltlich starke Setzung diesen ungeheuer wirkungsmächtigen und durch und durch ambivalenten Film besser oder schlechter macht - dazu maßt sich der Rezensent an, keine Meinung haben zu müssen. Es scheint auch nicht nötig, man sollte ihn ohnehin selbst sehen.

Loveless - Russland 2017 - OT: Nelyubov - Regie: Andrey Zvyagintsev - Darsteller: Maryana Spivak, Aleksey Rozin, Varvara Shmyokova, Matvey Novikov, Daria Pisareva, Yanina Hope - Laufzeit: 127 Minuten.


Jochen Werner

"Loveless" war der Eröffnungsfilm des 12. Around the World in 14 Films Festivals, das noch bis zum 02.12.2017 im Kino in der KulturBrauerei in Berlin stattfindet.