Im Kino

I hear America singing

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
03.01.2019. Zwei amerikanische Kleinstadtpanoramen auf dem Berliner Festival "Unknown Pleasures": Patrick Wangs provinzielles und demokratie-utopisches Welttheater "A Bread Factory" und "Monrovia, Indiana", Frederic Wisemans Versuch über Theologie und Matrazenqualität.


Wer auch nur peripher mit der Organisation kultureller Veranstaltungen jenseits des Mainstreams zu tun (gehabt) hat, wird das ewige doppelte Problem kennen: Zum einen fehlt es an allen Ecken und Enden an Geld; und zum anderen kommen die Leute nicht. Oder zumindest kommen immer weniger als früher und wenn doch einmal wieder welche kommen, dann tendenziell zu den "falschen" Veranstaltungen, oder jedenfalls nicht zu jenen, an denen das eigene Herz hängt. Zumindest kommen zumeist so wenige, dass das Projekt sich nicht aus eigener finanzieller Kraft über Wasser halten kann, dass es also auch weiterhin an allen Ecken und Enden an Geld fehlt und dass der Nutzen der Sache, ihr Wert für die Gemeinschaft nicht selbstevident ist.

Und eben deshalb bedarf es, parallel zur eigentlichen, inhaltlichen Arbeit einer permanenten, oftmals frustrierenden Anstrengung, das eigene Tun zu rechtfertigen und für seine Fortsetzbarkeit zu kämpfen, in einer nie enden wollenden Auseinandersetzung mit Geldgebern, Neidern, Konkurrenten und natürlich auch den eigenen Selbstzweifeln. Patrick Wangs Diptych "A Bread Factory" macht den Vorschlag, diese Aushandlungsprozesse und auch alle möglichen anderen zwischenmenschlichen Probleme, die im institutionellen Alltagsbetrieb des systemisch prekären Kulturbetriebs anfallen, nicht als Vorbedingung und Hintergrundrauschen von Kunstproduktion zu betrachten, sondern als ihr Teil und Fortsetzung. Das Theater um das Theater ist das eigentliche Theater. Aber nicht im Sinne eines well-made Play, als gut geölte Backstagekomödie, sondern in Form einer Serie szenischer Miniaturen, die von der Prämisse ausgehen, dass letztlich jede Form der sozialen Interaktion als eine Aufführung beobachtbar ist.

Die Bread Factory des Titels ist ein gemeindefinanzierter Kunstraum in einer amerikanischen Kleinstadt, der hauptsächlich Bühnenaufführungen produziert. Geleitet wird er von den nimmermüden, mit sanfter Energie sich den zentrifugalen Kräften, die ihr Herzensprojekt und ihre Arbeitsplätze bedrohen, entgegenstemmenden Dorothea (Tyne Daly) and Greta (Elizabeth Henry-Macari). Die beiden sind die grauhaarigen Königinnen des Films. In ihrem Anhang finden sich, neben vielen anderen, zwei ebenfalls grauhaarige, auf etwas tüddelige Art kulturbeflissene Herren; ein kaum zehnjähriger Projektionist; ein etwas älterer, zunächst etwas gehemmter Junge, der nach und nach aufblüht, eine Freundin findet und wieder verliert und schließlich sogar die örtliche Zeitung übernimmt; eine Frau mittleren Alters, die stoisch in den ansonsten zumeist eher leeren Publikumsrängen sitzt, ganz egal, was gerade geprobt oder vorgeführt wird.



Das fügt sich, nach und nach, zum Panorama einer Americana-Kleinstadtskurrilität, die aber, anders als etwa bei Wes Anderson, nie pointenförmig zugespitzt und zur typisierten Schaukastenästhetik verschweißt wird. Bei Wang ist das Panorama nicht vom Panorama her gedacht, nicht vom übergreifenden Gesamtkonzept, sondern von den einzelnen Szenen her. Anders herum sind die einzelnen Szenen keine eng ineinander gefügten Bausteine, sondern wirken eher wie eine Serie kinematografischer Experimente, die sich als solche gegeneinander abdichten.

Die experimentelle Anordnung ist ebenso simpel im Aufbau wie komplex in der Durchführung. Erst einmal gibt es da nicht mehr als ein paar Figuren in einem Raum, geduldig beobachtet von einer vorurteilsfreien, fast schon ausgestellt kunstlosen Kamera. Zumeist gibt es auch einen äußeren Anlass (eine Probe, eine Strategiebesprechung, einen Flirt), von dem sich die Szene allerdings stets schnell emanzipiert. Oft, weil eine der Figuren das Wort an sich reißt, nicht mehr aufhört zu sprechen und sich, gerne minutenlang, in einer Anekdote, einer nicht allzu stringenten Argumentation oder einfach nur ihrer eigenen Gedankenwelt verliert. Der kommunikative Grundmodus des Films ist der Monolog - allerdings, das ist wichtig: der Monolog, dem jemand zuhört. Jemand fängt an zu sprechen, macht dadurch sich selbst zur Aufführung und sein Gegenüber zum Publikum, und dadurch scheidet sich außerdem automatisch, ganz egal wo die Szene spielt, eine Bühne von einem Zuschauerraum ab. Das Ergebnis ist eine fluide, dynamische, reversible, reflexive Theatralisierung von Welt, die den hier und da gezogenen Vergleich mit Jacques Rivettes Magnum Opus "Out 1" locker aushält.



Wenn die Szenen doch miteinander verknüpft sind, dann so, wie die verschiedenen Experimente einer Testreihe verknüpft sind: Eine Hypothese, beziehungsweise Grundprämisse, wird in verschiedenen Variationen durchgearbeitet. Und die beiden Filme, aus denen das Gesamtwerk "A Bread Factory" besteht, wären dann zwei Testreihen, die mit weitgehend identischem Personal und Material unterschiedliche Prämissen durchspielen. Der erste, "For the Sake of Gold", ist einer Konfrontation gewidmet: die Bread Factory gegen May Ray. May Ray oder auch "May + Ray", ist ein aus May und Ray bestehendes Kunstprojekt, das der alteingesessenen Brotfabrik das wichtige School-Funding abjagen möchte. Mithilfe windiger Versprechen und eines windigen Anwalts, der einen windigen Kunstkritiker und sogar einen ganz besonders windigen Hollywoodstar (unter den vielen großartig irritierenden Performances des Films die vielleicht großartig irritierendste: Chris Conroy) im Schlepptau hat. Die entscheidende, im Stil einer Gerichtsverhandlung inszenierte Budgetverhandlung ist ein ungeheuer komischer erster Höhepunkt von "A Bread Factory".

Von May Ray selbst sehen wir erst einmal nur einen Trailer, der offensichtlich vor allem darauf aus ist, eine Marke zu etablieren, und einen Teil einer Kunstperformance, die einen im eher schlechten Sinne ratlos zurücklässt. In kulturpolitischer Hinsicht sind die Fronten damit gesetzt: Ein vielleicht manchmal etwas altmodisch gedachtes (warum nur kommen die Zuschauer nicht zu unserem Theaterstück? Das können wir uns auch nicht erklären, "it was a big hit in the renaissance"), aber vielseitig interessiertes, in der örtlichen Community verwurzeltes und in jeder Hinsicht inklusives Kunstverständnis auf der einen, eine undurchsichtig finanzierte, inhaltsleere, lediglich aus Branding und ein paar exotistischen Klischees bestehende, fake-globalisierte (May und Ray werden als Chinesen vermarktet, sind aber gar keine, sondern aus dem amerikanischen Heartland) High-Concept-Schaumschlägerei auf der anderen Seite. Die Sympathien sind klar verteilt in dieser Anordnung, aber ihre polemische Dimension ist nicht der Punkt. Letzten Endes sind auch May und Ray gleichberechtigte Mitspieler in Wangs provinziellem Welttheater.

Dessen (demokratie-)utopische und fast schon kosmologische Dimension in "Walk With Me a While", dem zweiten Film des Diptychs, noch deutlicher durchschlägt. Die Kunstproduktion selbst rückt ins Zentrum und entgrenzt sich dabei endgültig. Die Bread Factory plant eine Hecuba-Aufführung und sucht eine Darstellerin für die Rolle der Polyxena. Also, buchstäblich, ein Opferlamm. Einem Reisebus entsteigt derweil eine Gruppe von Stepptänzern, die das lokale Diner in einen alternativen Performanceraum verwandeln. Und immer wieder fängt die eine oder andere Figur aus heiterem Himmel an zu singen. Wenn der erste Film ein performativ dekonstruiertes Courtroom-Drama ist, dann ist der zweite ein diskursiv dezentriertes Musical. Dass "A Bread Factory" sich bei all dem nicht eine Minute lang wie eine konzeptlastige Kopfgeburt anfühlt, sondern über die gesamten vier Stunden Laufzeit hinweg einen entspannten, spielerischen, auch atmosphärisch dem Geist des Amateurtheaters verpflichteten Vibe aufrecht erhält, ist das vielleicht größte Wunder in diesen mit Wundern nicht geizenden Filmen.

Lukas Foerster

A Bread Factory, Part One and Two - USA 2018 - Regie: Patrick Wang - Darsteller: Tyne Daly, Elizabeth Henry-Macari, James Marsters, Nana Visitor, Zachary Sayle, Chris Conroy - Laufzeit: 242 Minuten.

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Dieses Mal beginnt Wiseman mit einem Blick nach oben: auf Wolken, die vorüberziehen, an einem Himmel, der fürwahr groß ist, auf weite Felder dann, und Farmhäuser, die in der Landschaft drin stehen, auf schweres Gerät und Tiere, einzeln und in Massen, auf eine Straße und eine Kreuzung, und noch eine an der ein Diner steht und auf ein Ortsschild: Monrovia.

Die Vermutung, die Zuwendung zu einer vorwiegend weißen Kleinstadt in Indiana, im mittleren Westen der Vereinigten Staaten, könnte als Reaktion auf die politische Lage in den USA verstanden werden, mag nicht ganz fern liegen, aber als Kommentar zum gesellschaftlichen Klima bot "Public Library", Wisemans letzter Film über das öffentliche Bibliothekswesen in New York, ein ungleich schärferes Bild.

Politik hat in "Monrovia, Indiana" (der freilich alles andere als ein unpolitischer Film ist) eine weitgehend gespenstische Präsenz. Keine drängenden Gegenwartsfragen, die in parteiförmig kommunizierbaren Formationen eingelassen Demarkationslinien bilden. Stattdessen: wie das eben so gehen kann, zusammen leben. Stadtratsitzungen, auf denen über Wasseranschlüsse in Neubaugebieten debattiert wird, und was das für die Stadt bedeuten mag, wenn ein Immobilienentwickler am Rand im großen Stil Wohnungen baut, Lions-Club-Treffen, auf denen überlegt wird, wo man am sinnvollsten eine Parkbank aufstellen könnte, die Sitzung einer Freimaurerloge, auf der ein langjähriges Mitglied geehrt wird, Alltagssorgen, die, nah am eigenen Körper, beim Kaffee besprochen werden, Verkaufsgespräche über Bettengröße auf der Matrazenausstellung im Turnsaal der örtlichen High-School, mit Probeliegen. Eine kirchliche Trauung, bei der dem Paar ein Kruzifix vermacht wird, das in seiner Form ein gottgewolltes Geschlechterverhältnis versinnbildlichen soll, mit seinem kantigen Rahmen, der schützt, und seiner geschwungenen inneren Form, die schön ist. Dann singt eine schwarze Frau Irving Berlin, und wird die einzige nichtweiße Stimme bleiben, die im Film zu vernehmen ist. Ein Schulorchester, das sich leidlich an der Titelmelodie der Simpsons versucht, Gunshop und Tierarzt, und, fast am Ende, eine Fair.



Der letzte Blick geht zur Erde, ganz wörtlich, die auf einen Sarg geschüttet wird. Es steht für Wisemans Art zu sehen, dass er das zu-Grabe-Tragen eines Menschen nicht an der beseelten Ansprache des Predigers enden lässt, sondern auch noch den mondänen mechanischen Verrichtungen zusieht, die es braucht, bis ein Sarg unter der Erde ist. Den Mythos vom amerikanischen Heartland und der spekulativen Anthropologie, die damit einhergeht, lässt Wiseman weniger liegen, als er ihn rückübersetzt in ritualisierte Gesten und pragmatische Formeln, in das emphatische Bild einer spezifischen Zeitlichkeit und von Raumverhältnissen. Theologie und Matrazenqualität.

Es braucht für all das kein Heartland - obwohl es doch Sinn macht, dass es nun hier seinen Platz findet, um sichtbar werden zu lassen, dass Wisemans grandioser Versuch einer fragmentarischen Synthese über ein Land nicht nur zu einem Bild drängt, das reflektiert und fokussiert, sondern auch zu einem, das schwelgt und strahlt; um zu zeigen, dass der Reim, den der Dokumentarist sich seit einem halben Jahrhundert und in gut 40 Filmen auf die amerikanische Gesellschaft zu machen versucht, auch eine Melodie hat, die so ähnlich schon Walt Whitman gehört hat: I hear America singing, the varied carols I hear

Sebastian Markt

Monrovia, Indiana - USA 2018 - Regie: Frederic Wiseman - Laufzeit: 143 Minuten.

"A Bread Factory" und "Monrovia, Indiana" sind im Rahmen des Festivals "Unknown Pleasures" zu sehen, das in den Berliner Kinos Arsenal und Wolf stattfindet. Mehr Informationen hier.