Im Kino

Reiner SciFi-Zucker

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
23.08.2012. Ein sündhaft teures Bilderbuch in HD ist Len Wisemans "Total Recall"-Remake. Der Plot schwingt lose mit. Nicht in den deutschen Kinos zu sehen, aber ein Meisterwerk ist Ann Huis "A Simple Life", ein Film über das Kino, das Altern und das alternde Kino.


Der Vorspann von Paul Verhoevens Schwarzenegger-Klassiker "Total Recall" aus dem Jahre 1990 führt die zentralen Namen des Casts, passend zum Sujet dieses Science-Fiction-Films, der von künstlichen Erinnerungen handelt und von solchen, die unter den künstlichen Erinnerungen womöglich schlummern, im Stil eines Palimpsests auf: Die Buchstaben zeichnen Linien auf den Grund, hinterlassen Spuren, verblassen und geben damit den nächsten Raum, die ihrerseits Spuren im Nichts der planen, bald marsianisch-rot glühenden Fläche hinterlassen: Es geht um Ein- und Überschreibungen, die dort Vergessen machen, wo sie anderes ins Gedächtnis holen, ohne das Vorherige ganz auszulöschen.

Als Total Remake jenes "Total Recall" geht nun dieser "Total Recall" des bislang höchstens als drittklassigem Actionregisseur aufgefallenen Len Wiseman ganz ähnlich vor: Überschreibung auf durchschimmernden Spuren, da war doch was, früher, ein anderer Film, der sich selbst wiederum an etwas früheres erinnert, an eine Kurzgeschichte von Philip K. Dick. Letztere wiederum spielte schon bei Verhoeven eine Rolle höchstens als szenaristischer Ideenlieferant: Ein Mann entflieht seiner traurig ereignislosen Existenz durch Inanspruchnahme eines geheimnisvollen Hi-Tech-Unterhaltungsangebots, das so lebhaft abenteuerliche, wie künstliche Erinnerungen im Gedächtnisapparat implementiert - ob die sich anschließende halsbrecherische Agentengeschichte (im jetzigen "Total Recall" liest Hauptdarsteller Colin Farrell einen "James Bond"-Roman) tatsächlich erinnert-verinnerlichte Virtualrealität ist oder eine aufgedeckte, zuvor gelöschte Erinnerungsspur, bleibt offen. Bei Dick heißt diese Figur Quail, in den beiden Filmen Quaid: Überschreibung auf durchschimmernden Spuren auch hier.

Wer Verhoeven kennt, muss bei Wiseman auf den Plot gar nicht erst achten. Sicher, Schwarzenegger half gegängelten Kolonien auf dem Mars, Colin Farrell darf nun Australien retten - recht viel nimmt sich dieser Ortswechsel nicht. In erster Linie legt Wiseman auf das Plot-Gerippe des Verhoeven-Films, einem der letzten großen Blockbuster vor der CGI-Wende, die ein Jahr später "Terminator 2" einläutete, ordentlich Digital-Fleisch auf: Zumal in der ersten Hälfte, wenn Wiseman sich im bestens bekannten Plot zurücklehnt und "world building" betreibt, ist "Total Recall" ein sündhaft schöner Bilderbuchfilm in HD: Berauschend ist der Ausblick auf die ins Megalomane gesteigerte, modular-brutalistische Stadtarchitektur, die den Beton der South Bank in London mit der postmodernen Asia-Gossenwelt von "Blade Runner" kreuzt (überhaupt bedient sich "Total Recall" nun redlich im Produktionsdesignfundus aller möglichen Dick-Adaptionen), bis ins Detail liebevoll unschön ausstaffiert sind die Appartements, die man umgehend zum eigenen Domizil erklären und zugleich ob ihrer brutalen Lebensfeindlichkeit anprangern will. Reiner SciFi-Zucker ist die Idee, Australien und England (der Rest der Welt ist nicht mehr bewohnbar) über einen gigantischen Schacht zu verbinden, in dem sich die Pendler von Wohn- zu Arbeitsort regelrecht stürzen (Gravitationsumschwung bei mittlerer Reisedistanz inklusive). Und völlig plausibel wirkt der Gedanke, dass Smartphones in Zukunft, von außen unsichtbar, direkt in die Hand implementiert werden.



Jegliche Anstrengung des Films liegt im Look, der Plot um virtuelle Erinnerungen schwingt lose mit. Wenn Quaid sich zu derb übersteuertem DubStep (auch dieser SciFi-Film bleibt in seinen Zukunftsvisionen völlig heutig) in die mit ehrlichem Enthusiasmus auf cool getrimmten Schattenwelten des australischen Ghettos begibt (wo, um die im Nerdkosmos vielleicht wichtigste Frage zu beantworten, natürlich auch die dreibrüstige Mutantenfrau wieder auftaucht), ist Wiseman, ist dieser Film voll und ganz bei sich: "Total Recall" soll in allererster Linie geil und awesome aussehen - tut er ja auch über weite Strecken.

Kurz: Auf der Texturebene ist "Total Recall" - unter Verzicht auf neumodischen 3D-Krempel - eine Art bewegtes Coffee-Table-Book für jene Sorte Science-Fiction-Fans ab, die immer schon die Cover von Science-Fiction-Bücher schöner fanden als die Geschichten an sich. Auf der Strecke bleibt darüber die Ambivalenz des Gezeigten, die Verhoevens Film noch auszeichnete: Wiseman hievt das Geschehen weitgehend ins Konkrete, vielleicht auch, weil er sich bewusst ist, dass das Spiel mit den Realitätsebenen schon bei Schwarzenegger und Verhoeven eher Gimmick als tatsächliche philosophische Wallung gewesen ist. Eine Weile geht das Konzept auch auf, nur wird es zum Ende hin, auch wegen einiger dramaturgischer Stolpereien, schlicht zäh. Man gibt sich bald damit zufrieden, die großzügig unter das Geschehen gehobenen Anspielungen auf den Originalfilm zu registrieren, mitzuzählen und gegebenenfalls die motivischen Verschiebungen zu begrinsen. Wenig später ist der Film dann allem Augenzucker zum Trotz aber doch: vergessen.

Thomas Groh

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Eigentlich sollte an dieser Stelle etwas über "Die Stooges - Drei Vollpfosten drehen ab" zu lesen sein, die neue, bei aller kruden Körperlichkeit wieder einmal äußerst menschenfreundliche Komödie der Brüder Bob und Peter Farrelly. Da der Kinostart von "Die Stooges" kurzfristig auf den Herbst verlegt wurde, möchte ich, ohne weiteren Anlass, auf einen anderen äußerst menschenfreundlichen Film hinweisen, den man hierzulande bislang und wohl auch bis auf weiteres nur als Import-DVD, beziehungsweise -Bluray beziehen kann (zum Beispiel hier, man beachte allerdings die Regionalcode-Beschränkungen; eine mit deutschen Geräten problemlos kompatible britische DVD-Veröffentlichung ist immerhin angekündigt): "A Simple Life" ist der neueste und insgesamt 25. Spielfilm Ann Huis, einer der zentralen Regisseurinnen der Filmindustrie Hongkongs. Hui war Anfang der Achtziger Jahre Teil einer Erneuerungsbewegung, die dem Hongkong-Kino neue Themen, Genres und Ästhetiken erschloss. Obwohl ihre Filme nicht nur in ihrer Heimatstadt, sondern auch auf internationalen Festivals - "A Simple Life" feierte letztes Jahr im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Venedig Premiere - reüssieren, finden sie so gut wie nie ihren Weg auf deutsche Leinwände; auf DVD ist in Deutschland noch nicht ein einziger erschienen.

Ann Huis Filme erzählen einfache Geschichten über nicht ganz so einfache Menschen, sie bestechen auch dann, wenn sie von Geistern oder von Gangstern handeln, durch ihren aufmerksamen Blick auf die Alltagswelt. Huis Kino ist sozial engagiert, aber ohne alles Oberlehrerhafte, sie nehmen sehr grundsätzlich Partei für das Individuum. Der hier besprochene Film zum Beispiel ist einerseits durchdrungen von der Erkenntnis, dass es grundsätzlich falsch ist, wenn ein Mensch von einem anderen abhängig ist; und andererseits von der, dass die Welt zu kompliziert ist, als dass man ein solches Abhängigkeitsverhältnis einem Einzelnen in die Schuhe schieben könnte. Huis Filme sind nicht frei von Sentimentalität, aber nur, weil das Leben auch nicht frei von Sentimentalität ist. Und obwohl sie stets ausgezeichnet fotografiert, elegant montiert und durchweg mit den größten Stars des chinesischsprachigen Kinos besetzt sind, emanzipieren sie sich auf sanfte Art von den Fetischstrukturen, die das kommezielle Kino Hongkongs mindestens so fest im Griff haben wie das aus Hollywood oder Bollywood.

Ah Tao (Deannie Yip) war ihr Leben lang eine "amah", ein Dienstmädchen, immer bei derselben Familie, die inzwischen weitgehend nach Amerika übergesiedelt ist; zuletzt organisierte sie den Haushalt von Roger (Andy Lau), dem Sohn ihrer langjährigen Chefin. Als sie nach einem Schlaganfall - eine Großaufnahme, in der die Welt langsam zum Stillstand kommt, dann ein harter Schnitt, der sie wieder in Gang setzt - im Krankenhaus wieder zu sich kommt, sagt sie sofort: "Ich werde in ein Altenheim ziehen". Fast schon panische Angst hat die alte Frau davor, der Familie, die sie jahrzehntelang umsorgte, nun ihrerseits zur Last zu fallen.

Roger, der zwar beruflich erfolgreich ist, aber ansonsten ein isoliertes Leben führt, nimmt sich Ah Taos gerne an, verschafft ihr einen Platz in einem gut ausgestatteten Heim und besucht sie, so oft er kann. Wenn er gemeinsam mit Ah Tao alte Erinnerungen auffrischt, scheint es, als dränge es ihn mehr in die Vergangenheit als sie, die sich an ihrem neuen Wohnort schnell einlebt und bald einen Platz im sozialen Gefüge des Altersheims gefunden hat - nirgends zeigt sich Huis Meisterschaft so eindrücklich wie in den völlig unzynischen Szenen im Heim, in denen sie in wenigen Dialogzeilen die Biografien anderer Heiminsassen evoziert: Die Frau, die sich auch im höchsten Alter nicht von den traditionellen Rollenbildern lösen kann und ihren undankbaren Sohn der fürsorglichen Tochter vorzieht; der Mann, der von seinen Mitbewohnerinnen Geld leiht, um das nahgelegene Bordell aufzusuchen.



Roger ist Filmproduzent, obwohl er mit seinem zurückhaltenden Auftreten und in seinen einfachen, funktionellen Kleidern, nicht so aussieht: einmal wird er für einen Handwerker, ein andermal für einen Taxifahrer gehalten. Ein Regisseur, mit dem Roger zusammenarbeitet, wird von Tsui Hark gespielt, einem weiteren großen - vielleicht dem größten - Hongkong-New-Wave-Regisseur. Im Grunde hat man da bereits die gesamte Spannbreite dieses Kinos: Zwischen Tsuis dynamischen Spektakelfilmen (auch sein neuester Film, "The Flying Swords of Dragon Gate", ist ein Meisterwerk; auch der wird höchstwahrscheinlich nie die deutschen Kinos erreichen) und Huis emotionalem eher denn psychologischem Realismus entfaltete sich in den letzten dreißig Jahren eine der vielseitigsten und schönsten Kinematografien der Gegenwart.

Wobei der besondere Reiz des Hongkongfilms in den Überschneidungen besteht, den Verunreinigungen, den Tonlagenwechseln: Tsuis Extravaganzen kippen bei jeder Gelegenheit in unverschämten Sentimentalismus und Hui platziert ihre emotional komplexen Figuren oft in Genregeschichten. In "A Simple Life" tut sie das nicht, dennoch ist auch dieser ruhige, langsame - nicht nur die Art, wie nebenbei eine ganze Familienchronik erzählt wird, erinnert an den japanischen Meisterregisseur Yasujiro Ozu - Film geprägt von unwillkürlichen Tonlagenwechseln, kippt von einer Szene in die andere vom Melodrama in die Komödie und wieder zurück. Das Leben ist nicht statisch, sondern immer im Fluss, im Alter sieht man das nicht mehr auf den ersten Blick, man muss genauer hinschauen. Das "simple life" des Titels, das man vorher zuerst Ah Tao, dann Roger zuzuschreiben geneigt ist, entpuppt sich mehr und mehr als eine einzige (und wiederum sanfte) Ironie.

"A Simple Life" ist ein melancholischer, intimer Film, der ursprünglich Huis letzte Regiearbeit werden sollte (inzwischen hat sie angekündigt, ihre Karriere fortestzen zu wollen). Vielleicht deshalb gibt es eine lange Reihe von Cameoauftritten wichtiger Weggefährten. Neben Tsui Hark tauchen unter anderem der einstige Arthausfavorit Stanley Kwan, der "Infernal Affairs"-Regisseur Andrew Lau und die Martial-Arts-Legende Sammo Hung auf. Und es gibt noch weitere, eher verdeckte Scharniere zwischen fiktionaler Welt und Filmindustrie: Weil Ah Tao sich nicht als Hausangestellte zu erkennen geben möchte, stellt Roger sich als ihr Patenkind vor - und Ah Taos Darstellerin Deannie Yip ist auch im echten Leben die Patentante Andy Laus, der seinerseits der vielleicht zentrale Schauspieler seiner Generation ist. "A Simple Life" ist, neben vielem anderen, ein Film über das Kino; über eine in die Jahre gekommene Filmindustriefamilie; über eine quasifamiliäre Gemeinschaft, die alles in allem in Würde gealtert ist und die niemanden ausschließt, auch nicht den Sonderling, der sich mit geborgtem Geld ins Bordell schleicht.

Lukas Foerster

Total Recall - USA 2012 - Regie: Len Wiseman - Darsteller: Colin Farrell, Bryan Cranston, Kate Beckinsale, Bill Nighy, Jessica Biel, Ethan Hawke, John Cho, Bokeem Woodbine, Will Yun Lee, Currie Graham, Michael Therriault - Länge: 118 min.

A Simple Life
- Hongkong 2012 - Originaltitel: Tao Jie - Regie: Ann Hui - Darsteller: Deannie Yip, Andy Lau, Hailu Qin, Fuli Wang, Tsui Hark - Länge: 117 Minuten.