Im Kino

Datenanalysen

Die Filmkolumne. Von Fabian Tietke
02.11.2022. Simin arbeitet als Dream Catcher für die Zensus-Behörde der USA. Sie besucht Haushalte und erhebt Daten über die Bewohner. Zusätzlich zu den Fragen aus dem Fragebogen erkundigt sie sich nach den Träumen der Menschen, eine Maßnahme, die die Behörde eingeführt hat... Shirin Neshat ist mit "Land of Dreams" ein bildgewaltiger, artifizieller Film über die USA und die iranische Diaspora gelungen.
Simin arbeitet als Dream Catcher für die Zensus-Behörde der USA. Sie besucht Haushalte und erhebt Daten über die Bewohner. Zusätzlich zu den Fragen aus dem Fragebogen erkundigt sie sich nach den Träumen der Menschen, eine Maßnahme, die die Behörde eingeführt hat, um durch den Einblick ins Unbewusste eine bessere Kontrolle über die Bevölkerung zu haben. Nachdem Simin die Erinnerung an die Träume mit dem Aufnahmegerät aufgezeichnet hat, macht sie ein Foto der Person. Die offiziellen Daten reicht sie weiter. Die Fotos jedoch nimmt sie als Grundlage für Social-Media-Videos, für die sie einige der Träume auf Farsi übersetzt und sich als die träumende Person verkleidet. Die Dystopie der Kontrolle ist in Shirin Neshats "Land of Dreams" anfangs begleitet von harmloser Travestie, geboren aus der Langeweile bürokratischen Alltags.

Szenenbild mit William Moseley (Mark), Sheila Vand (Simin), Matt Dillon (Alan). Foto: Verleih.



Simins Leben spielt sich zwischen schlichten Motels an Highways, die ihr als Basis für die Besuche in den Haushalten dienen, und Abstechern in die Zentrale der Behörde ab. Ein Gang über einen leeren Flur und Simin legt eine Speicherkarte in ein Gerät, das die Daten ausliest. Die Wohnungen mit ihren Dekorationen, den Fotos auf den Anrichten und den Bildern an der Wand setzen sich von den anonymen Motelzimmern in der kargen Wüste New Mexicos und den leeren Behördenfluren ab. Vollgekramter menschlicher Alltag steht in Kontrast zur Kälte des bürokratisierten Lebens. Bei ihren Besuchen trifft Simin auf verständnisvolles Entgegenkommen, Gleichgültigkeit oder rassistische Feindseligkeit, die sich gegen sie als iranischstämmige Amerikanerin richtet. Die Befragungen ergeben in der Zusammenschau ein Porträt einer gespaltenen, misstrauischen Gesellschaft.

Als sie zu einer Kolonie kommunistischer Exiliraner_innen mitten in der Wüste geschickt wird, wird ihr ein Motorrad fahrender, Lederjacken tragender Kleinstadtcowboy als Bodyguard an die Seite gestellt. Ein Mann führt sie durch die Kolonie zu einem offenen Raum mit Fotos getöteter iranischer Oppositioneller an den Wänden. Der Auftrag in der Kolonie endet erfolglos: Statt Daten erhält sie eine kodierte Nachricht auf einer kleinen Papierrolle. Erfolglos versucht sie abends im Motelzimmer, die Kodierung zu knacken. Ihre Arbeit für die Zensus-Behörde beginnt sich mit ihrer Familiengeschichte zu verweben. Simins Mutter ist mit ihr Ende der 1980er Jahre nach der Hinrichtung des Vaters im Iran in die USA emigriert.

"Land of Dreams" greift ein Kunstprojekt Neshats auf. Für ein Fotoprojekt hat sie Menschen in New Mexico befragt und anschließend Schwarzweißbilder von ihnen gemacht. Einige der Fotos tauchen in dem Film auf. Zugleich ist "Land of Dreams" jedoch ein zutiefst kinematografischer Film. Zu ihren Besuchen fährt Simin in einem alten, blauen Mercedes, in dem die Ästhetik des iranischen Kinos vor der islamischen Revolution mit seiner amerikanisierten Moderne und der Vorliebe für bunte Farben anklingt. Die Wohnungen der Befragten und das Leben in den Motels wiederum greift Motive des Nachlebens von New Hollywood auf, die anonymen Motels und die Bars mit der Countrymusik in ihrer Nähe könnten aus Filmen von Paul Schrader stammen. Die Bilder der Behörde jedoch sind futuristischer, genießen die Visualisierung von Big Data vermittels durchsichtiger Monitore, auf denen in mehreren Ebenen Datenanalysen laufen.

Die Artifizialität von Neshats Filmsprache verfremdet die zunächst zeitgenössische Handlung. Auch aufgrund der Technik der Datenanalyse erhält "Land of Dreams" Züge eines Science-Fiction-Films. Als Simins Chefin gegen Ende des Films von deren Social-Media-Videos erfährt, wird sich herausstellen, dass sich der Film mit den Verbindungen zur Geschichte des iranischen Exils, der Überwachungsdystopie, den bürokratischen Ränkespielen und Simins Suche nach sich selbst etwas viel vorgenommen hat. Doch über weite Strecken ist "Land of Dreams" ein eindringlicher, bei allem Minimalismus bildgewaltiger Film.

Fabian Tietke

Land of Dreams - USA 2021 - Regie: Shirin Neshat, Shoja Azari - Darsteller: Sheila Vand, Matt Dillon, William Moseley, Isabella Rossellini - Laufzeit: 113 Minuten.