Im Kino

Strategie der Maskierung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
10.08.2011. Mit einer großartigen Ellen Barkin im Zentrum eines etwas auseinanderfliegenden Films erzählt Cam Archer von einem wahren "Shit Year". Einen Schauspieler in der Krise zeigt auch Casey Afflecks Doku-Hoax "I'm Still Here": Dass Joaquin Phoenix seinen Beruf an den Nagel hängt, um Rapper zu werden, haben Sie ja wohl nicht wirklich geglaubt?


Eine Frau hört auf. Sie spielt ein letztes Mal auf dem Theater, dann fällt der Vorhang. Sie gibt ein letztes Fernsehinterview, die Lichter gehen aus. Sie hat eine Affäre mit einem viel jüngeren Mann, da trägt sie schwere seelische Blessuren davon. Sie geht in die Berge, zieht sich zurück, bastelt Puppen aus Äpfeln und Stroh, träumt, erinnert sich, bekommt Besuch, schnauzt den jungen Tamales-Verkäufer an, wälzt sich im Bett, begegnet umrisshaften Figuren im Wald. Das alles in schwarz-weiß. Ohne stringente narrative Logik. Mit unerklärten Bildern und wiederkehrenden irrealen Sequenzen. In der Rolle der Frau, die aufhört: Ellen Barkin. Sie spielt Colleen West.

Cam Archers Zweitling "Shit Year" lässt im Titel an Deutlichkeit zu wünschen nichts übrig. Er assoziiert sich durch seine dissoziierte Geschichte, die nicht die seine ist, sondern die von Colleen West. Er hat ihre Visionen. Harvey, der junge Mann, steht etwa einmal in einem undefinierten Raum vor einer frisch gestrichenen weißen Wand und streicht sie noch einmal weiß. Eine langhaarige junge Frau sitzt woanders im Raum. Colleen verlangt von Harvey Klarheit: in Sachen Wandnochmalstreichen, in Sachen langhaarige junge Frau und bekommt sie nicht. Das ist so eine Sequenz, wie "Shit Year" sie sich manche erlaubt. Der Film marodiert durch diverse Realitäts- und Ästhetikregister, produziert schöne und zu schöne Bilder und erinnert dabei weniger an jüngere Sundance-förmige Independentfilme, eher an eine musikvideoästhetisch gepimpte Version des frühen Jim Jarmusch; vielleicht auch Gus van Sant, den Mentor Cam Archers, an dessen traumverlorene "Drugstore Cowboy"-Jahre der Film dann wiederum freilich niemals heranreicht.



Das Problem von "Shit Year", diesem immer wieder überzeugenden, berührenden, einfallsreichen Film: Es steckt ein innerer Widerspruch in ihm, der nicht produktiv wird, sondern die tollsten Ansätze eher immer wieder zerstreut und verwässert. Was ihn emotional zusammenhält, ist das Drama der noch sehr attraktiven, bis zuletzt erfolgreichen Schauspielerin, die über ihrem offenbar untreuen Liebhaber mindestens ebenso wie an ihrer Zukunft verzweifelt. "Shit Year" ist das Melodram einer unglücklichen Liebe, ein recht generisches Sehnsuchts- und Verzweiflungsstück, die andere Geschichte vom Ende einer Schauspielerin-Laufbahn spielt da eher zusätzlich hinein. Von "Boulevard der Dämmerung" und Nora Desmond, an die manche Kritik denkt, ist das alles darum recht weit entfernt. Und genauso weit von Cassavetes, Gena Rowlands, "Opening Night". Nicht zuletzt im Schauspielstil der Protagonistinnen: Ellen Barkin tut niemals zuviel, sie hält den inneren Kern ihres Unglücks recht tapfer zusammen. Keine Ausbrüche, eher ein Schwelen. Barkin spielt eine Frau, die mutwillig eine Zukunft herbeiführt, von der sie mit leider gutem Grund glaubt, dass sie ohnehin nicht ausbleiben kann.

Einerseits verhindert Barkin also mit ihrer großartigen Performance, dass der Film völlig auseinanderfliegt. Andererseits wirkt manches, das Cam Archer als Wandstreich-Vision und freigestellte Körperästhetik und treibende Flocken und "THX 1138"-science-fiction-artige Ich-will-ihn-wiederhaben-Halluzination in den Sinn kommt, doch wie Ideenflucht und Ablenkungsmanöver. Er könnte seiner Hauptdarstellerin und ihrer Geschichte ruhig viel mehr vertrauen, er muss gar nicht zeigen, was ihm alles einfällt und was er sonst noch so kann. Gewiss fällt ihm durchaus auch (diese Apfelpuppen), aber keineswegs ausschließlich Blödes ein. Immer wieder entwickeln einzelne Sequenzen beim Auseinanderfliegen ordentlich Schwung. Nur kriegt Archer dann die Kurve zu einer Ästhetik des Überbordens und Hintersichlassens von Narration und Figurenpsychologie auch wieder nicht. Zwei Seelen, eine Brust. Zwiespalt im Kritikerherzen. Es bleiben, auch wenn sie einander nicht stärken, zuletzt aber doch die eine und die andere Lust.

Ekkehard Knörer

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Funktionieren konnte der hoax nur für nicht allzu interessierte, chronisch abgelenkte Beobachter. Wer, wie zum Beispiel ich, zwischen Herbst 2008 und Sommer 2010 nur ein-, zweimal Pressemeldungen über Joaquin Phoenix? Ausstieg aus der Schauspielerei - direkt nach seiner vielleicht größten Rolle, in James Grays "Two Lovers" - und gleichzeitigem Einstieg ins Musikgeschäft überflogen und höchstens einmal einen dieser blamablen Auftritte des Rappers JP auf Youtube angeklickt hatte, der konnte das alles ohne Probleme für authentisch halten; es sind schließlich schon größere Künstler tiefer gefallen. Allen, die sich auch nur etwas ausführlicher mit dieser sonderbaren Wandlung beschäftigten, waren aber vermutlich spätestens nach einem etwas allzu derangierten Auftritt bei David Letterman im Januar 2009 auf der richtigen Fährte (andererseits: Roger Ebert war scheinbar selbst nach Ansicht des hier besprochenen Films noch davon überzeugt, dass Phoenix tatsächlich und dauerhaft vor die Hunde gegangen ist). Es dauerte dann noch ganze eineinhalb Jahre, bis die Maskerade auch offiziell beendet war. Im Herbst 2010 feierte "I?m Still Here" in Venedig Premiere. Regie: Casey Affleck. Hauptrolle: Joaquin Phoenix als JP.

Affleck und Phoenix legen Wert darauf, dass das, was sie da gemeinsam produziert haben, kein Dokumentarfilm über den hoax (schon gar nicht, siehe Ebert, über eine tatsächliche Sinnkrise eines Hollywoodstars) ist, sie sprechen lieber von fiktionalisierter performance art. Fast alles, was im Film gezeigt wird, ist inszeniert, der Film hat ein Drehbuch, Darsteller, Bühnenbilder und so weiter. Die Assistenten, die Phoenix terrorisiert und von denen einer irgendwann mit Körperausscheidungen zurückschlägt, waren gecastet, genau wie die Prostituierten, die Phoenix und ein gecasteter Assistent sich aufs Hotelzimmer bestellen; P. Diddy, der JPs Debütalbum produzieren sollte und mit Phoenix im Studio abhängt, war in on it, Letterman und viele andere Kulturindustriemenschen (Ben Stiller freilich ist ziemlich glaubwürdig genervt), die zwischendurch vorbei schauen, vermutlich auch. Authentisch sind in dem Film eigentlich nur die, die das Spiel durchschauen und trotzdem mitspielen: Die Besucher der desaströsen JP-Auftritte zum Beispiel, die sich falsche Bärte ankleben und das rappende Rumpelstilzchen feiern.



Eine Mockumentary also, der einzige hoax ist der Stil, die cinema-verite-Imitation, das vermeintliche Durchbrechen der vierten Wand, das in Wahrheit nur eine weitere Strategie der Maskierung ist. Um die Lust an der Maskierung geht es, nicht um Demaskierung. Deswegen führt es auch nicht allzu weit, "I?m Still Here" als entlarvende Satire über die amerikanische Kulturindustrie oder die Medienmaschinerie im Internetzeitalter betrachten zu wollen. Der Film bietet schlicht und einfach keine Außenperspektive an, von der das möglich wäre.

Das unterscheidet "I'm Still Here" auch zum Beispiel von Banksys auf den ersten Blick nicht unähnlichen, aber doch viel aufdringlicheren und in seiner Konstruktion auch dümmeren "Exit Through the Gift Shop". Dort synthetisierte eine didaktische Erzählerstimme das Gezeigte zur halbseidenen Kritik an den Mechanismen des Kunstmarkts und stellte dabei doch nur die Cleverness der eigenen Guerillajournalismusmethoden aus, hier haben einfach nur zwei ironiebegabte Hollywoodstars ihren Spaß. Die allseitig lauwarme Rezeption des Films spricht dafür, dass die beiden sich dabei zwischen ein paar Stühle zuviel gesetzt haben. Wenn man ihnen aber dennoch bis zum Ende folgt, wird man mit einer unerwarteten, in diesem über weite Strecken doch recht hässlichen Film außergewöhnlich schönen Schlusseinstellung belohnt. JP auf Sabbatical in einer ewigen Plansequenz im lateinamerikanischen Sumpf. Das ist so schön, dass man für einen Moment doch daran glauben möchte.

Lukas Foerster

Shit Year. USA 2010 - Regie: Cam Archer - Darsteller: Ellen Barkin, Bob Einstein, Luke Grimes, Melora Walters, Theresa Randle, David Zellner, Josh Blaylock, Anna Moore, Tiffany Anders, Kavita Rao, London Vale

I'm Still Here. USA 2010 - Regie: Casey Affleck - Darsteller: (Mitwirkende) Joaquin Phoenix, Antony Langdon, Carey Perloff, Larry McHale, Casey Affleck, Jack Nicholson, Billy Crystal, Danny Glover, Bruce Willis