Im Kino

Im diffusen Plural

Die Filmkolumne. Von Friederike Horstmann
08.02.2023. Die heute 85-jährige Filmemacherin Judit Elek war die erste Frau, die in Ungarn an der Filmhochschule zum Regiestudium zugelassen wurde. Das Rotterdamer Filmfestival zeigte ihr Werk in einer Retrospektive, darunter die Dokumentarfilme über die Träume und Realitäten der Mädchen im Dorf Istenmezején in den siebziger Jahren.


In einer bisher umfassendsten Retrospektive stellt die 52. Ausgabe des Rotterdamer Filmfestivals das Werk der ungarischen Filmemacherin Judit Elek in den Mittelpunkt - ein Werk, das die saubere Trennbarkeit von fiktionalen und nicht-fiktionalen Filmen immer wieder erfolgreich in Frage stellt. Ein Werk, das darin mit den zeitgleich entstehenden filmischen Erneuerungsbewegungen genauso kommuniziert wie mit einer biografischen Situation: Bei der Abschlussvergabe an der Filmhochschule, wo Elek als erste Frau überhaupt zum Regiestudium zugelassen wurde, hatte sie als Frau kein Diplom für Spielfilm-Regie erhalten, weshalb sie zunächst Dokumentationen fürs ungarische Fernsehen realisierte.

Ein dokumentarisches Diptychon entsteht in einer ländlichen Bergarbeitergegend in den 1970er-Jahren. Für den ersten Teil der berührenden Langzeitbeobachtung "Istenmezején 1972-73-ban" / "On the Field of God in 1972-73" drehte Elek mit den Kameramännern Elemér Ragályi, György Pintér und Péter Jankura zwei Jahre lang in Istenmezején (dt. "Gottesfeld"). Es entstand eine Milieustudie über eine Dorfgemeinschaft, in der überkommene Strukturen eine hartnäckige Diesseitigkeit aufweisen. Die soziografische Studie zeigt Eleks Faszination für Menschen, Behausungen, Orte. Sie handelt von Lebensbedingungen junger Frauen in einem kleinen Dorf, von ihren Widerständen, ihren Sehnsüchten. Zugleich erweitert der Film durch die zeit- und raumdokumentarischen Aspekte den Blick über individuelle Frauenschicksale hinaus ohne jedoch unspezifisch zu werden.

Ein Leben auf der Schwelle: Die 14-jährigen Mädchen - die gerade die 8-jährige Volksschule beenden - denken nach, über eine mögliche Zukunft. Ein Leben, noch ohne Feminismus, aber mit allen Gründen dafür. In der Klasse tragen die Mädchen aufrecht stehend ihre Wünsche vor: Wünsche nach Selbstverwirklichung. Wünsche, die Nachdenklichkeit verlangen, denn die Lebenswege scheinen in Istenmezején nur allzu vorbestimmt. Die Mädchen wollen vor allem eins: Nicht so leben wie es ihnen von den Eltern festgelegt wurde. Doch die Distanz zu den eigenen tastenden Interessen manifestiert sich schon jetzt im Konjunktiv. Ein kritisches Bewusstsein von der Korrigierbarkeit der Welt schrumpfte bereits zusammen zu jener resignativer Spielart des Realismus, die nichts anderes mehr bedeutet als die Hinnahme des Bestehenden.

Nur Marika hat sich an der Berufsschule für Elektroindustrie in Nagybátony beworben. Für mich, die den zweiten Teil der Dokumentation auf dem Festival achronologisch als ersten sah, gibt es eine geradezu deterministische Gewissheit, dass auch Marika nicht von den repressiven Dorfstrukturen verschont bleiben wird. Im zweiten Teil "Egyszerű történet/A Commonplace Story" (1975) wird eine Tafel eingeblendet - eine textuelle Zäsur, die Weiß auf Schwarz einen drastischen Einschnitt markiert: "Marika verließ das Berufsbildungsinstitut in ihrem zweiten Jahr und unternahm einen Selbstmordversuch." Ein Abschiedsbrief wird von der Mutter vorgelesen, nüchtern, manchmal stockend im Vortrag. Erst ist die Mutter noch im Bild, dann liest sie den Brief aus dem Off.



Die Kamera wandert dabei über schneebedeckte Häuser, eine abtastende Registratur, die suchend durch den ländlichen Raum fährt, über Häuserzeilen, zögernd manchmal in ihrer Fahrt auf einem Haus verharrt, wie um einen Moment lang nachzudenken. Dann ein harter Schnitt auf zwei Polizisten, eine Gerichtsverhandlung: Marika, doch noch am Leben, berichtet in nahen Einstellungen über einen sexuellen Übergriff von zwei Männern, über ihr Schweigen aus Scham, ihren Suizidversuch.

Ein anderes Mädchen namens Ilonka wollte sich nicht so rasch einen Ring an den Finger stecken lassen - zumindest nicht von einem für sie vorbestimmten Ehemann und begeht damit einen Affront. Trotz aller Widerstände bleibt sie bei dem jungen Bergarbeiter Laci. Nah kadriert kommt die Verwandtschaft zu Wort, die Stiefmutter von Laci, die Tante von Ilonka, ihre Schwester, ihre Mutter: Sie haben die Welt geordnet, wissen, das die Beziehung zwischen Ilonka und Laci falsch ist und sprechen mit vielen Zungen.

Alle Familienmitglieder verstecken ihre harschen Urteile in kollektiven Verallgemeinerungen: Sie verweisen auf ältere Autoritäten, suchen Rückhalt im Dorf, meinen ihre abschätzigen Wertungen im diffusen Plural zu stabilisieren. Das Gegeneinander ihrer Meinungen wird genuin durch die Montage hergestellt - in vereinzelnden Einstellungen. Eleks Methode und Montage zeigt mehr über das Schubladendenken der Verwandten als über das von ihnen beurteilte Liebespaar Ilonka und Laci.



Die Liebenden werden zusammen in der Dorfkneipe gezeigt. Bei zugeflüsterten Zärtlichkeiten, beim Tändeln und Tuscheln, bei Salzstangenküssen während eines Tanzes zu schwermütiger Schlagermusik. Das ist nicht weiter spektakulär, doch von einer ausnehmenden Zärtlichkeit. Und wird am Rande des Geschehens permanent observiert von den lauernden Augen der Dorfbewohner. Elek lässt das junge Paar für sich sprechen, zusammen in einer Einstellung, und erzeugt damit jene Aufmerksamkeit, die einlädt, sie anders in den Blick zu nehmen.

Im ersten Teil ist Elek präsenter als Gesprächspartnerin: im Bild manchmal nur in der Rückenansicht zu sehen, öfters zu hören, mit Fragen, die neugierig sind, nicht bewertend oder bevormundend. Die Fragen spiegeln eine Verbundenheit und Solidarität der Filmemacherin mit ihren Protagonist*innen wieder. In Rotterdam war die mittlerweile 85-jährige Elek zu Filmgesprächen und einer Buchvorstellung zu Gast. Dabei stellte sie immer wieder Fragen ans Auditorium und hinterfragte bei einer Publikumsfrage nach der Authentizität der Darstellung, "ob das denn damals so normal gewesen sei", gleich die Konstruktion von Normalität. Sie weiß wohl, wie korsettartig normierende Begriffe sind - heute wie damals.

Friederike Horstmann

Filme:
Istenmezejé, ein ungarisches Dorf 1972-73 - Ungarn 1973 - OT: Istenmezején 1972-73-ban - Regie: Judit Elek - Laufzeit: 78 Minuten;
Einfache Geschichte - Ungarn 1975 - OT: Egyszerű történet - Regie: Judit Elek - Laufzeit: 104 Minuten;
Buch: Gyöngyi Fazekas, Barbara Wurm, Olaf Möller: Judit Elek: The Lady from Budapest, 2023.