Im Kino

Volle Kanne poetisch

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
23.06.2010. In klugen Bildern erzählt Seyfi Teoman in seinem Debüt "Tatil Kitabi" von einem Jungen und einer Familie und einem Dorf im Sommer in der türkischen Provinz. Mordsmäßig metaphysisch kommt dagegen das Blindenerlösungswerk "Altiplano" des Regieduos Brosens & Woodworth daher: Ungutes tut sich im peruanischen Hochandenland.

Eine Horde Grundschulkinder strömt in die erste, starre Einstellung. Erst ganz an ihrem Ende, nach einigen Minuten, taucht im Vordergrund der zehnjährige Ali auf. Die Schärfe wechselt auf Ali, seine Spielkameraden im Hintergrund verschwimmen im Bild, der Film hat seinen Protagonisten ausgewählt. In der letzten Einstellung wird er ihn wieder in die Welt entlassen, aus der er ihn anfangs heraus gelöst hat. Ein stoisches Kind ist Ali und nicht nur ein wenig erinnert dieser kleine, braunhaarige Junge an den Protagonisten Yusuf aus Semih Kaplanoglus Berlinale-Gewinner "Bal". Aber anders als Yusuf hat Ali wenig Möglichkeiten, seinen Eigensinn zu entfalten.

Die Sommerferien beginnen. Die Schüler erhalten das Sommerbuch ("tatil kitabi"), das dem Film seinen Titel gibt und das über die dreimonatigen Sommerferien den Kontakt zur Schule aufrecht erhalten soll. Der Kontakt bricht rabiat ab. Ali wird sein Sommerbuch von einem größeren Schüler entwendet, sobald er vor der Schule auf die Straße tritt. Er unternimmt einige Versuche, das entwendete Lehrmaterial zu ersetzen. Der Film entfernt sich allerdings bald von dieser Suche und erweitert seinen Fokus auf Alis Familie und auf die Stadt, in der sie lebt.

"Tatil kitabi" beschreibt einen Sommer in der Kleinstadt Silifke im Süden der Türkei. Viel los ist hier nicht, schon gar nicht im Sommer, wer auch nur ein wenig ambitioniert ist, will vor allem: weg, in die Großstädte im Norden des Landes. Aber Silifke würde nicht existieren, wenn die meisten am Ende nicht doch dableiben würden. Mehrmals zeigt Regisseur Seyfi Teoman Silifke aus der Vogelperspektive. Kein Gefängnis, aber ein gut geöltes System. Die Stadt beschallt sich, wie viele türkische Kleinstädte, selbst mit Werbemeldungen und Hinweisen über Lautsprecher, die in den Straßen des Zentrums befestigt sind. Die Kleinstadt braucht keinen Ruf zur Ordnung, sie funktioniert über sanfte Anrufungen, die meistens familiär organisiert werden. Der Film zeigt ständig Bewegungen, die Film wie Stadt strukturieren, die aber nur in den seltensten Fällen dauerhaft aus der Stadt heraus führen. Bewegungen der Reproduktion, nicht der dynamischen Veränderung.


Alis Vater Mustafa fährt Erntehelferinnen zur Obstplantage, die das Familieneinkommen sichert. Er sitzt dann im Auto neben der Plantage und liest Zeitung. Ali beauftragt der unnachgiebige Patriarch währenddessen, auf der Straße Kaugummi zu verkaufen, auf dass er die Sommerferien nicht untätig vergeude. Immer wieder läuft der kleine Ali in einer Totalen die breite, in der sommerlichen Hitze oft wie leergefegten Straßen Silifkes herunter. Alis Bruder Veysel kommt zu Beginn des Films mit dem Bus in der Stadt an und er verlässt sie am Ende auf demselben Wege wieder. Er besucht zwar eine Militärschule in Istabul, sein Vater lehnt jedoch sein Ansinnen ab, diese zu verlassen und Wirtschaft zu studieren.

Ein ganzer zweiter Film steckt als Möglichkeit in dem Blick, den er einem Mädchen am Nachbartisch zuwirft, während er mit seinen alten Freunden im Strandcafe sitzt. Sie erwidert seine Blicke zwar, wenig später aber tauchen Mann und Kind auf. Noch ist Veysel ein Teenager, doch schon jetzt wird sein Leben vom "zu spät" des Melodramas bestimmt. Ihm droht ein ähnliches Schicksal wie seinem Onkel Hasan. Der studierte fern der Heimat, inzwischen ist er wieder zurück und führt ein Fleischergeschäft. Selbst sein Lehrling will in die größere Nachbarstadt, man ahnt von Anfang an, dass daraus nichts werden wird.

"Tatil kitabi" ist Seyfi Teomans erster Film und ein beeindruckend souveränes Debüt. Nichts ist zu sehen von der Rührseligkeit, der sich noch die besten Filme des neuen türkischen Kinos bisweilen nicht ganz erwehren können. Teomans exakt und frei von jeder Prätention komponierte Bilder schließen an internationales Festivalkino, an die Genauigkeit der interessanteren Vertreter der Berliner Schule oder manchmal auch ein wenig an panasiatische Zeitbilder an. Sehr konsequent ist der Film vor allem in seinem Verzicht auf eine Subjektzentrierung, die vor allem in den europäischen "world cinema"-Varianten noch immer nicht ganz totzukriegen ist. Flüssig schneidet der Film zwischen Ali, Mustafa, Veysel und Hasan hin und her, die Zeit vergeht weitgehend unmarkiert und kann nicht einem individuellen Erfahrungshorizont zugeschlagen werden. Konzentrische Bewegungen um das Familienanwesen, die Mutter Güler bleibt zu Hause. Bewegung und Stillstand stabilisieren sich gegenseitig, streben nach einem Äquilibrium, das auch von dem Unglücksfall, der den zweiten Teil des Films prägt, auf Dauer nicht gefährdet werden kann. Die vorwiegend starren Einstellungen rahmen die Bewegungen in ihnen, stellen sie still. Wenn sich die Kamera selbst bewegt, dann ist sie meist in einem Auto montiert und die Stadt, die sich bewegt, ist doppelt gerahmt, durch Frame und Windschutzscheibe. Der Onkel unternimmt am Ende eine längere, ergebnislose Investigation, eine Ermittlung über die Stadt, die kein Geheimnis hat, weil sie kein Geheimnis braucht.

Lukas Foerster

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Die Filmemacher Peter Brosens und Jessica Woodworth wissen, einerseits, was sie tun. Ihr Film "Altiplano" hat mit Absicht zwei Seiten, von denen sie glauben, sie passten zusammen: brutales Message-Kino zum einen, brutaler Spiritualismus zum anderen. Heraus kommen schöne Bilder von bösen Dingen, symbolische Überformung sozialen Missstands, Anklage und Überwältigung. Der Reihe nach geht das so:

1) Message-Kino. Hoch in den Anden erblinden die Menschen. Unglück kündigt sich an. Bei einer Prozession bringen Kinder, die eine silbern glänzende Lache entdecken, die Träger einer Marienfigur bei einer Prozession zum Straucheln. Die Gottesmutter zerscherbt. Ein blinder (sic!) Mann fügt sie im Lauf des Films wieder zusammen. Ärzte aus entwickelteren Weltgegenden versuchen unterdessen vor Ort die Erblindenden zu heilen. Diese Ärzte sind auf Grauen Star spezialisiert und als immer mehr keineswegs Linsengetrübte, sondern Sehnerventzündete zu ihnen kommen, ahnen sie, dass etwas nicht stimmt. Die Menschen werden vom Quecksilber vergiftet, das in den Bergen ohne Rücksicht auf mögliche Kontaminationen abgebaut und von staubaufwirbelnden Lastern talwärts transportiert wird. Saturnina (Magaly Solier), die Protagonistin dieser Filmhälfte, verliert ihren Verlobten und trinkt, sich dabei filmend, in Märtyrerabsicht aus dem Quecksilberfläschchen. Dies ist der eine Teil der Geschichte, dem ein anderer recht gewaltsam zugeführt wird.


Grace (sic!) ist Kriegsfotografin im Irak. Vor ihren Augen wird ihr Stringer Omar getötet. Seine Mörder zwingen sie, diese Tat zu fotografieren. In einer nach oben offenen Kirche, die glatt bei Tarkowski geklaut ist ("Hommage"), sitzt sie, zurück in der Heimat, mit Max (Olivier Gourmet), ihrem Mann, und mit Familie und Freunden zu einem letzten Abendmahl vor seiner Abreise (als Augenarzt in die Anden) zusammen und diskutiert ethische Fragen der Kriegsfotografie. Sie hat das von Omars letztem Moment geschossene Foto tatsächlich publiziert und ist nun damit für den Pulitzer-Preis nominiert. Skrupel hat sie nun, etwas spät, sollte man meinen. Ihr Mann erklärt ihr in der für den Film typischen überdeutlichen Weise, dass unabhängige Kriegsfotografinnen wie sie sehr wichtig sind. Später sehen wir auf einer Art Privataltar in Grace' Wohnung das Foto als größtes unter kleineren: ein typischer Fall geschmäcklerisch-monumentaler Kriegsfotografie. Dann ist Grace' Mann in Peru und schickt ihr Videobotschaften. Dann ist er tot und Grace reist ins Erblindungsgebiet.

2) Spiritualität. Brosens und Woodworth wollen, erklären sie im Presseheft, keinen Exotismus. Sie wollen nur die Spiritualität und Mystik, die es in den nicht so gründlich säkularisierten Weltgegenden noch gibt. Also zum Beispiel in den Anden. Peter Brosens ist der Ausbildung nach Ethnologe, aber gut, manche von denen haben sich immer schon gerne hintendrauf zu den Hexen auf den Besen gesetzt. Jessica Woodworth hat Dokumentarfilm studiert und dabei sichtlich viel zu viele Filme von Tarkowski, Angelopoulos und Artverwandten gesehen und nicht richtig verdaut. "Altiplano" ist stilistisch epigonal, Tarkowski und Angelopoulos light, soll heißen: volle Kanne poetisch in kunstgewerblicher Weise. Sagt der kleine Junge im Andendorf zur gerade vom Hund gebissenen Grace: Nimm diesen Stein, er trägt für dich deinen Schmerz. Tief und dunkel ist der Brunnen der falschen Weisheiten, in den sich der Film Kopf voraus stürzt.

Harte Arbeit im Weinberg der Mystifizierung leistet die Kamera, in sanfter Bewegung, auf abgezirkelten Wegen produziert sie Bilder, die überwältigen sollen. Andenbilder, Eingeborenenbilder, Verdunkeltemenscheninwilderlandschaftherumstehbilder. Rabiate Zerstörung der Realität durch fortgesetzte Schönheitsbehauptung. Erschwerend hinzu kommt: Wer von der Tonspur schweigt, lügt. Chorlaute, orffisch. Sakraler Mariengesang. In jeder einzelnen Einstellung sieht und hört man dem Film an, dass er was so Großes sein will, wie kein Film je sein kann.


3) Und wie passt das eine zum andern - die bildproduktionskritische Umweltbotschaft zur epigonalen Großpoesie? Die Antwort ist einfach: ganz und gar nicht. Das eine borgt illegitim beim anderen, was es nicht hat. Die Ästhetik eilt bildfromm der Ethik zu Hilfe und schlägt sie "versehentlich" tot. Die Ethik steckt in der Ästhetik wie der Türke im Schachautomaten. Im Endergebnis ein ästhetisch-ethischer Kuhhandel, der Schlichtheit mit Schlichtheit vergilt. Selig sind die Einfältigen, denn sie schauen das Himmelreich. Wunder geschehn am Quecksilbersee.

P.S.: Eine Szene gibt es, in der man eine Ahnung davon bekommt, was im günstigen Fall aus "Altiplano" hätte werden können: große Oper in Camp-Manier. In Krämpfen windet sich, während von rechts durch das Fenster im nachgemalten Altmeisterstil Licht einfällt, die sterbende Saturnina. Plötzlich aber kippen die Wände des Hauses, als wären sie reine Bühnendekoration (was sie sind), zur Seite und strahlend liegt die nunmehr (vorübergehend) Tote im taghellen Andenlicht. Ein Bild, das die Künstlichkeit seines Effekts endlich einmal nicht leugnet, sondern geradezu ausstellt. Während für den Rest des Films jedes der von Brosens und Woodworth gehandhabten Mittel des Kinos aufs Heiligmäßige rauswill, zu diesem Behuf seine Gemachtheit gewaltsam verleugnet und durch Jenseitsbehauptung kompensiert, ist hier für einen Schlag sichtbar, wie diese Mystik-Etüde gebaut ist. Und umgekehrt gilt: Weil sie die Mittel des Kinos und seine Effekte zur ästhetischen Gegenaufklärung verwenden und den dabei herauskommenden Überwältigungskitsch mit Fleiß für echte Spiritualität halten, wissen die Filmemacher Peter Brosens und Jessica Woodworth, andererseits, eben nicht, was sie tun.

Ekkehard Knörer

Tatil Kitabi. Türkei 2008 - Regie: Seyfi Teoman - Darsteller: Taner Birsel, Ayten Tökün, Osman Inan, Harun Özüag, Tayfun Günay, Riza Akin, Onurcan Alavi, Zafer Inan, Mahir Özel, Ekrem Senel, Ali Lütfi Ugur

Altiplano. Belgien / Deutschland / Niederlande 2009 - Regie: Peter Brosens, Jessica Hope Woodworth - Darsteller: Jasmin Tabatabai, Magaly Solier, Olivier Gourmet, Behi Djanati Atai, Edgar Alcides Condori, Sonia Loaiza Roja